„Bretteldörfer“ - Armutssiedlungen rund um Wien nach dem 1. Weltkrieg werden erforscht

josef

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Wiens „Bretteldörfer“ werden erforscht

„Bretteldörfer“ wurden jene Armutssiedlungen genannt, die in der Frühphase der 1. Republik rund um Wien aus Wohnraumnot entstanden. Wissenschafter untersuchen nun diese „wilden Siedlungen“ Wiens in einem Forschungsprojekt.
„Während und nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie führten Lebensmittelknappheit und mangelnde Wohnraumversorgung zu einem ‚Notprojekt von unten‘“, erklärten die Urbanisten Andre Krammer und Friedrich Hauer. An den Rändern der Stadt Wien habe die verarmte Bevölkerung daher ausgedehnte Flächen in Beschlag genommen, zur Selbstversorgung kleingärtnerisch bewirtschaftet und nach und nach auch zu Wohnzwecken genutzt.


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Am Gelände des heutigen Donauparks stand früher ein Brettldorf

Die ungeplante Raumproduktion in Wien nach 1918 werden nun Wissenschafter im Rahmen der Gesellschaft für Sozialgeschichte (GSG) mit Unterstützung der Stadt Wien in einem Forschungsprojekt untersuchen.

„Wilde Siedlungen“ in den Donau-Auen
Landnahmen und ungeplante Siedlungshausgebiete habe es in den Donau-Auen, etwa am Mühlhäufel und Biberhaufen (heute Wien-Donaustadt), und an den Hängen des Wienerwalds gegeben, zum Beispiel in Neuwaldegg oder am Wolfersberg. Auch am südöstlichen Stadtrand, zum Beispiel in Lainz oder am Rosenhügel, entstanden Behelfssiedlungen. „Die ersten Behausungen waren einfache, aus Restmaterial wie Brettern zusammengezimmerte Hütten. Diese ‚Bretteldörfer‘ wurden rasch zu robusten und dauerhaften Siedlungsstrukturen ausgebaut“, so Hauer.


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Manche Bretteldörfer wurden rasch zu robusten Siedlungen

Für die 1919 zum ersten Mal frei gewählte Wiener Stadtregierung sei das sogenannte „wilde Siedeln“ eine Herausforderung gewesen, da sie sich nicht nur mit einer großteils illegalen Bauproduktion - sondern mehr noch - mit einer frühen „Basisbewegung“ konfrontiert sah. Diese sei in einer interessanten Mischung aus „top down“ und „bottom up“ Anfang der 1920er-Jahre teilweise in die bekannte Wiener Siedlerbewegung überführt worden, berichteten die Urbanisten.

Seit den 1960ern keine „Bretteldörfer“ mehr
Nachdem die Stadtverwaltung die Selbsthilfeorganisationen der Bewegung zuerst gefördert habe, sei es in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zu einer kommunalen Aneignung der Siedleridee durch Errichtung gemeindeeigener Siedlungen und zur sukzessiven Stilllegung der Bewegung gekommen, so Krammer. Die Armut nach dem Zweiten Weltkrieg habe die informelle Raumproduktion wieder verstärkt.


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Seit den 1960er-Jahren gibt es in Wien keine wilden Siedlungen mehr

„Die Restbestände der ehemals ‚wilden‘ Siedlungen sind heute legalisiert und in den Stadtkörper integriert“, erklärte Krammer. Wirkliche „Bretteldörfer“ wie jenes, das sich an der Stelle der heutigen UNO-City befunden habe, gäbe es somit seit den 1960er-Jahren keine mehr.

Dokumentarfilmerin an Projekt beteiligt
Die beiden Stadtforscher werden im Rahmen des Forschungsprojektes „Bretteldorf revisited“ gemeinsam mit der Dokumentarfilmerin Melanie Hollaus nicht nur die Geschichte, sondern auch das „Erbe“ des Informellen untersuchen, das heute noch im Wiener Stadtraum ablesbar ist. Das Vorhaben wird von der Stadt Wien gefördert, die anlässlich des Jubiläumsjahres 2018 insgesamt 600.000 Euro für die Forschung zur Verfügung stellt.

Mit 300.000 Euro werden Forschungsvorhaben im Bereich Erinnerungskultur sowie Wissenschaftsvermittlungsprojekte zum Thema „Republik in Österreich - Demokratie in Wien“ gefördert. Weitere 300.000 Euro aus dem Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurden für Forschungsprojekte zum Thema „100 Jahre Gründung der Ersten Republik“ ausgeschrieben. Die Förderentscheidung hierzu wird im November bekanntgegeben.

Publiziert am 14.10.2017
http://wien.orf.at/news/stories/2872070/
 
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