1934 bis 1938 – Der Doppeladler in den Bergen

Geist

Worte im Dunkel
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Am steilen Ende eines Osttiroler Tales steht die kleine weiße Wallfahrtskirche Maria Schnee am Hang eines Berges. Im September 2019 besuchte ich die Gegend und die Eindrücke sind unvergessen: Die Luft war frisch und klar, eine Mischung aus schwindendem Sommer und nahendem Herbst. Die Berge sind hoch, die Wiesen saftig – und mitten drin hängt eine Tafel, die man als Wanderer oder Einkehrsuchender nicht unbedingt an dieser Stelle erwartet. Sie besteht aus drei Teilen: Links und rechts sind Kruckenkreuze angeordnet, in der Mitte prangt der nimbierte Doppeladler des austrofaschistischen Ständestaats. Welche Geschichte hinter diesem speziellen Adler steckt und was seine Heiligenscheine bedeuten, erklärt dieser Artikel.

Der Doppeladler des Ständestaats


Im März 1933 setzte Engelbert Dollfuß die parlamentarische Demokratie außer Kraft und regierte ab diesem Zeitpunkt autoritär auf Grundlage des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917. Wie schon an anderer Stelle beschrieben, führte er die Errichtung eines ständisch geordneten Staates im Schilde, der auf der Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI. beruhen sollte. Mit diesem Vorhaben war eine völlige Neuordnung des Staates verbunden, was die Einführung eines eigenen Wappens bedingte.

1934 kam es deshalb zur Rückbesinnung auf alte österreichische Werte, die Dollfuß durch die Wiederverwendung des Doppeladlers als Wappentier des Kaisertums zum Ausdruck bringen wollte. In Artikel 3, Absatz 2 der 1934 eingesetzten Maiverfassung heißt es:

„Das Staatswappen Österreichs besteht aus einem frei schwebenden, doppelköpfigen, schwarzen, golden nimbierten und ebenso gewaffneten, rotbezungten Adler, dessen Brust mit einem roten, von einem silbernen Querbalken durchzogenen Schilde belegt ist.“[1]

Die Kontinuität des Adlers als Wappentier lässt sich bis zu den Römern zurückverfolgen, wo Feldzeichen der römischen Legionen mit einem einköpfigen Adler bestückt waren. Im Heiligen Römischen Reich war es dann im 15. Jahrhundert Kaiser Sigismund, der den Doppeladler zum Wappentier des Reiches erkor. Da in der Folge die Habsburger über Jahrhunderte hinweg die Kaiserwürde innehatten, transformierte sich der Doppeladler als Wappentier des Reiches zu jenem des Geschlechts – der Doppeladler war (und ist) somit untrennbar mit den Habsburgern verbunden. Kaiser Franz I., der das Kaisertum Österreich 1804 gegründet hatte und 1806 das Heilige Römische Reich auflöste, setzte diese Tradition fort und bestimmte einen nimbierten – mit einem Heiligenschein versehenen – Doppeladler als Wappentier des Kaisertums Österreich. Diese Nimbierung war Ausdruck der päpstlichen Segnung und Krönung eines Königs zum Kaiser.

Solch ein nimbierter Doppeladler musste es auch sein, der 130 Jahre nach Kaiser Franz I. den Ständestaat von Dollfuß repräsentieren sollte. Die Nimbierung erfüllte für Dollfuß den besonderen Zweck, damit auf die katholische Komponente seiner Politik hinzuweisen. Parallel zur Wiedereinsetzung der Heiligenscheine, die schon seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806 nicht mehr zur Anwendung gekommen waren, wurden die Symbole der Stadtmauerkrone, der Sichel und des Hammers aus dem Wappen entfernt. Bedenkt man nun, dass Dollfuß einen Ständestaat errichten wollte, so verwundert es, dass er in seinem Eifer, ein neues Wappen zu kreieren, just jene Elemente daraus entfernte, die die Stände symbolisierten: Die Stadtmauerkrone war für das Bürgertum, die Sichel für die Bauern und der Hammer für die Arbeiter gestanden.

In der Idylle eines abgelegenen Tales haben sich Symbole und Zeichen des Austrofaschismus erhalten.

Doppeladler und Kruckenkreuz in der Idylle Osttirols


Einer der Doppeladler, die den austrofaschistischen Ständestaat symbolisieren, ist an einem Haus des Gebets und der inneren Einkehr erhalten geblieben. Er hängt dort wie ein Dekorationselement unter Blumenschmuck. Der ausländische – und wohl auch so mancher inländische – Tourist, der die Symbole nicht kennt, erfährt nicht, ob diese Tafel als mahnendes Relikt hier hängt, das den Betrachter dazu auffordert, nie wieder Faschismus zuzulassen oder ob es sich um ein deplatziertes Überbleibsel ruhmloser österreichischer Geschichte handelt.

Exkurs:
Die unter der Tafel angebrachte Information beschränkt sich auf zwei Absätze, die bei weitem nicht ausreichen, um die Vorgänge, die zur Einsetzung dieser Symbole geführt haben und ihre Folgen für die österreichische Demokratie zu beschreiben, geschweige denn zu erklären. Dieses Informationsdefizitsyndrom findet man überwiegend bei baulichen oder anderen Resten der näheren Zeitgeschichte. Ist die emotionale Distanz zum damaligen Geschehen noch nicht groß genug, so hüllen sich die Verantwortlichen gerne in Schweigen oder beliebig interpretierbare Aussagen. Das betrifft nicht nur Osttirol, sondern ganz Österreich, wo etwa in Wien nicht einmal die großen weithin sichtbaren Flaktürme mit erklärenden Tafeln ausgestattet sind.
Exkurs Ende.

Über die Geschichte dieser Tafel mit dem Doppeladler und den beiden Kruckenkreuzen lässt sich Folgendes herausfinden:

„Damals in den 30-iger [sic!] Jahren war Vinzenz Schaller Ortsvorsteher in Kalkstein, er bemühte sich sehr um eine ‚Notschule‘, die Kinder sollten vor allem im Winter nicht mehr nach Villgraten hinunter in die Schule müssen. Zum Gedächtnis an den ermordeten Bundeskanzler taufte er diesen Unterrichtsraum ‚Dollfuß-Schule‘ und ließ von den ‚krahkouflern‘ [vermutlich die Familie Krakofler], die diese ‚Kunst‘ beherrschten, die Tafel verfertigen. Sie hing aber nicht lange an der Schulwand. Vinzenz Schaller nahm sie am 13. März 1938 ab, er schob die Tafel daheim hinter eine Truhe. Im Juli 1945 befestigte er seine Tafel wieder dort, wo sie gewesen war, nachdem er aus dem Konzentrationslager Dachau am 7. Juli nach Kalkstein heimgekommen war. Dort war er seit der Jahreswende 1943/44 gequält und gefangen, weil er aus religiös-ethischen Gründen den Fahneneid auf Hitler verweigerte.“[2]

Der nimbierte Adler des Ständestaats flankiert von den Kruckenkreuzen der Vaterländischen Front

Am Beispiel des Vinzenz Schaller sieht man also, dass es in Österreich gar nicht so leicht ist, schwarz oder weiß zu denken. Einerseits hat er den Eid auf Hitler und somit dessen Nationalsozialismus verweigert, andererseits hatte er gegen den autoritär-faschistisch regierenden Kanzler Dollfuß keine Einwände und sogar eine Schule nach ihm benannt. Die Dollfuß-Diktatur war zwar tatsächlich um ein Vielfaches milder als jene von Hitler, dennoch war seine Regierungszeit eine nicht zu leugnende Form des Faschismus.

Die Geschichte des Vinzenz Schaller während des Zweiten Weltkriegs zeugt von seiner aufrichtigen christlichen Gesinnung. Ähnlich dem seliggesprochenen Widerstandskämpfer Franz Jägerstätter verweigerte auch er den Dienst in der Wehrmacht, durchlief in der Folge aber ein anderes Schicksal:

„Das erstemal in ‚Schutzhaft‘ genommen wurde er am 10. Oktober 1938 und nach drei Wochen entlassen. Im Herbst 1939 wurde sein Jahrgang gemustert, Vinzenz Schaller wurde als ‚k. v. = kriegs-dienstverwendungsfähig‘ befunden. Am 24. Dezember 1939 erhielt er den Einberufungsbefehl. Aus religiös-ethischen Gründen war er zur Eidverweigerung bereits fest entschlossen. Am 5. Jänner 1940 rückte er in die Garnison Spittal/Drau ein. Beim Antreten am ersten Kasernenmorgen übergab er dem Kompaniechef, L[eu]tn[ant]. Zegerer, ein vorbereitetes Schriftstück, in dem er seinen Entschluß darlegte. Er wurde sofort in Haft genommen und ins Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis nach Salzburg überstellt. Eine Hausdurchsuchung der Gestapo in Kalkstein brachte eine pamphletische Umdichtung des ‚Deutschland-Liedes‘ zutage. Da Vinzenz Schaller allen Überredungsversuchen widerstand, kam er bald nach Berlin-Moabit in Einzelhaft. Nach zahlreichen Dauerverhören war er schließlich soweit mürbe gemacht, dass er per Unterschrift zusagte, den Wehrmachtseid nachzuleisten. Daraufhin wurde er vom Kriegsgericht zu 2 Jahren und 6 Monaten Gefängnis (nach dem Krieg zu verbüßen) verurteilt und auf ‚Frontbewährung‘ ‚begnadigt‘. Ende Juni 1940 in Berlin entlassen und heimgekehrt, mußte er am 14. Juli 1940 nach Villach einrücken, wo er vereidigt wurde. Nach kurzer Ausbildungszeit wurde er in einer Strafkompanie an der französischen Ärmelkanalküste eingesetzt, bestimmt als Stoßtrupp bei der Invasion Englands. Dieses Unternehmen wurde bekanntlich abgeblasen. Schaller kam zurück, diesmal nach Leoben, wo er, von Major Kotlener, der Vinzenz Schallers geistlichen Onkel, Michael Schaller, vom 1. Weltkrieg her kannte, begünstigt, die ganze weitere Militärdienstzeit unbehelligt überdauerte. Im Herbst 1941 ergab eine militärärztliche Untersuchung, dass er nicht mehr ‚kriegsdienstverwendungsfähig‘ sei. Als einziger Sohn erhielt er jährlich eine ‚u.k. (unabkömmlich)-Stellungszeit‘ von mehreren Monaten, das letztemal ab Mai 1943. Eine witzhalber gemachte Wette über die Kriegsdauer wurde angezeigt und Schaller am 8. Dezember 1943 zur Gestapo nach Sillian vorgeladen. Verhaftet und nach Lienz, nach 14 Tagen nach Klagenfurt überstellt, ging er um die Jahreswende 1943/44 mit einem Transport ab ins KZ Dachau. Ein Gestapobeamter sagte den Eltern: ‚Herr Schaller wird die Freiheit nicht mehr sehen!‘ Nach den ersten, schlimmsten Wochen im Quarantäneblock Nr. 15 wurde er auf Block 2, den ‚Paradeblock‘, verlegt und dem Kommando für den Fahrzeugpark der SS zugeteilt. Am 26. April 1945 trat er mit Tausenden von Häftlingen unter SS-Bewachung den Fußmarsch Richtung Alpen an. Nach 2-tägigem Fußmarsch total erschöpft, flüchtete er mit einem Innsbrucker aus der Kolonne. Sie gelangten nach Königsbrunn, wo sie von Schulschwestern zwei Monate hindurch aufgepäppelt wurden. Ende Juni machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Tirol. In der ersten Julihälfte kehrte Vinzenz Schaller heim.“[3]

Welchem Zweck dient nun also die Tafel? Ist es die Erinnerung an Dollfuß, die hier aufrechterhalten werden soll oder gilt das Gedenken mehr dem Vinzenz Schaller, der durch sein Verhalten im Nationalsozialismus als Kämpfer des katholischen Widerstands gilt? Um das ordentlich zu klären, sollten dort ausführliche Infotafeln montiert werden.

Fußnoten:

[1] Zitiert nach: Peter Diem, Wappen und Flagge der Republik Österreich – eine wechselvolle Geschichte, S. 7, online unter:
http://peter-diem.at/Symbole.pdf (21. September 2020)

[2] Anton Draxl, Über den Jöchern. Natur und Kultur in Gsies und Villgraten (2001), S. 125, online unter:
Digitalisierter Bestand der Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann (21. September 2020)

[3] Johannes E. Trojer, Hitlerzeit im Villgratental. Verfolgung und Widerstand in Osttirol (2016), online unter:
Hitlerzeit im Villgratental (21. September 2020)

Links und Literatur:

Peter Diem, Die Entwicklung der Wappen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, online unter:
Dr. Peter Diem - Homepage (Deutsch) (21. September 2020)

Peter Diem, Die Entwicklung des österreichischen Bundeswappens, online unter:
Bundeswappen Übersicht 1919 bis heute (21. September 2020)

Peter Diem, Die Entwicklung des österreichischen Doppeladlers, online unter:
Doppeladler (21. September 2020)

Martin Mutschlechner, Der Doppeladler: Habsburgs allgegenwärtiges Zeichen, online unter:
Der Doppeladler: Habsburgs allgegenwärtiges Zeichen (21. September 2020)

Interner Link:

Mehr zu den Jahren von 1918 bis zum „Anschluss“:
1918 bis zum „Anschluss“

Link zum Originalbeitrag: 1934 bis 1938 – Der Doppeladler in den Bergen – Worte im Dunkel
 
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