1938 – Der „Anschluss“

Geist

Worte im Dunkel
Mitarbeiter
#1
Am 12./13. März 1938 wurde Österreich vom Deutschen Reich annektiert. Obwohl schon seit Ende des Ersten Weltkriegs sowohl von österreichischer als auch deutscher Seite der Wunsch einer Verschmelzung der Staaten bestand – die aber von den Bestimmungen der Pariser Vororteverträge untersagt worden war –, hatte Adolf Hitler bis März keine vollständige und sofortige Einverleibung Österreichs geplant. Erst durch die Begeisterung, die ihm auf den Straßen entgegenschlug, entschied er sich in Linz spontan dazu, den „Anschluss“ in seiner totalen Form durchzuführen.
Anhand zweier Ziegel in einem Wiener Keller erzähle ich heute kurz die Geschichte dieser Tage.

Vorgeschichte


Die Nationalsozialisten waren in Österreich in politisch organisierter Form erstmals zwischen 1919 und 1933 in legalen Bahnen aktiv. Am 19. Juni 1933 wurde die NS-Bewegung wegen ihrer brutalen und tödlichen Terrorakte verboten, wodurch ihre Anhänger fortan aus dem Untergrund heraus agierten. So verübten überzeugte Nationalsozialisten auch in der Folge mörderische Terrorattacken. Als im Mai 1933 der bayrische Justizminister Hans Frank aus Österreich ausgewiesen wurde, verhängten die Nationalsozialisten, die in Deutschland bereits ab Jänner an der Macht waren, eine wirtschaftliche Sanktion gegen Österreich in Form der 1000-Mark-Sperre. Jeder Deutsche, der die Grenze nach Österreich passieren wollte, musste aufgrund dieser Regelung 1000 Mark bezahlen, was die Zahl der Urlaubsreisen stark minderte.

Zwischen Österreich und Deutschland entwickelten sich also Spannungen, die sich im Juli 1934 auf höchster Ebene entluden, als Engelbert Dollfuß im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuchs getötet wurde. Zu diesem Zeitpunkt bildete Italien unter Benito Mussolini noch eine militärische Schutzmacht für Österreich. Um die befürchtete Invasion Deutschlands in Österreich abzuwenden, ließ er Truppen am Brenner aufmarschieren, die sich gegebenenfalls gegen das deutsche Militär richten sollten. Daraufhin distanzierte sich Hitler von den Putschisten und der Einmarsch blieb aus, doch die Spannungen blieben.

Das Juliabkommen


Etwa zwei Jahre nach Dollfuß‘ Tod, am 11. Juli 1936, unterzeichnete dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg das Juliabkommen, das das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland wieder „freundnachbarlicher“ werden lassen sollte. Einer der Hauptpunkte des Abkommens war die Anerkennung der vollen Souveränität Österreichs durch Deutschland.
Folgender Kommentar wurde dem Abkommen beigefügt:

„Deutschland hat weder die Absicht noch den Willen, sich in die inneren österreichischen Verhältnisse einzumengen; Österreich etwa zu annektieren oder anzuschließen.“1

Ein wirtschaftlich wichtiger Punkt des Abkommens war die Aufhebung der weiter oben bereits erwähnten 1000-Mark-Sperre, in deren Folge die Zahl der Grenzübertritte von Deutschland nach Österreich in beträchtlichem Maße gesunken war. Im Zuge des Juliabkommens wurde sie aufgehoben.
Weiters wurde der Umgang mit der nationalsozialistischen Partei als innere Angelegenheit der Staaten definiert und Österreich verpflichtete sich dazu, keine Propaganda gegen die NSDAP zu führen. In Haft befindliche Nationalsozialisten wurden unter gewissen Bedingungen amnestiert. Das Parteiverbot blieb jedoch in Kraft.

Mussolini gab in diesem Zeitraum seine Position als Schutzmacht für Österreich auf. Durch seinen völkerrechtswidrigen Angriff auf Abessinien (Äthiopien) trieb sich Italien wegen seiner zahlreichen Verstöße und Verbrechen wie etwa eines Angriffs ohne Kriegserklärung oder die Verwendung von Giftgas in die internationale Isolation. Auf der Suche nach neuen Verbündeten wandte sich Mussolini nun Deutschland zu und opferte dafür Österreich. Schuschnigg stand dadurch dem Deutschen Reich, das mittlerweile dank der wachsenden Rüstungsindustrie und scheinbarer Vollbeschäftigung bei den Österreicher*innen als beneidenswert galt, so gut wie machtlos gegenüber.

Hitler erhöht den Druck auf Schuschnigg


Am 12. Februar 1938 setzte Hitler bei einer Unterredung in Berchtesgaden Schuschnigg schwer unter Druck. Er drohte ihm mit dem militärischen Einmarsch in Österreich, sollte er nicht zu Zugeständnissen bereit sein. Unter anderem sollte der Führer der österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innen- und Sicherheitsminister ernannt werden. Mit dieser Maßnahme gab Schuschnigg die Kontrolle über die Exekutive aus der Hand – die Nationalsozialisten konnten sich innerhalb der Vaterländischen Front trotz des noch immer bestehenden Parteiverbots frei politisch betätigen.

Der „Anschluss“


Schuschniggs am 9. März 1938 angekündigte Volksabstimmung für den 13. des Monats, in der sich die Bevölkerung für die Eigenständigkeit Österreichs oder den Anschluss an Deutschland entscheiden sollte, sorgte bei Hitler jedoch für unmittelbaren Tatendrang.

„Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich!
Für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen.“2

Da Schuschnigg mit einer Mehrheit für Österreich rechnen konnte und Hitler das wusste, wies jener Seyß-Inquart und den ebenfalls nationalsozialistischen Bundesminister Edmund Glaise-Horstenau an, Schuschnigg davon zu überzeugen, die Volksabstimmung abzusagen. Sollte er sich weigern, würden die beiden demissionieren und somit das Juliabkommen von 1936 außer Kraft setzen.

Das wiederum hätte den direkten militärischen Eingriff Hitlers nach sich gezogen, den er Schuschnigg schon in Berchtesgaden angedroht hatte. Dieser sagte die Volksabstimmung also ab, um eine militärische Auseinandersetzung gegen das aufgerüstete Deutschland, in der Österreich keine Chance gehabt hätte, zu verhindern. Kurz darauf trat er als Bundeskanzler zurück und Bundespräsident Wilhelm Miklas übernahm seine Aufgaben.

„So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volke mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“3

Hermann Göring setzte nun darauf, unbedingt die Wehrmacht in Österreich einmarschieren zu lassen, um klare Verhältnisse zu schaffen. Er bat Seyß-Inquart um ein vorgeschobenes Telegramm, in dem er um militärische Hilfe gegen in Österreich ausgebrochene Unruhen bitten sollte, was dieser jedoch selbst nach mehrmaligen Versuchen Görings ablehnte.

Als Hitler davon Kenntnis erhielt, dass sämtliche in Frage kommenden Schutzmächte auf Zeit spielten oder ganz deutlich keine Hilfe für Österreich in Aussicht stellten – auch Italien nicht – gab er den Befehl zum Einmarsch, der am 12. März stattfinden sollte.
Im gleichen Zeitraum, der Nacht vom 11. auf den 12. März, ernannte Miklas nach anfänglicher Ablehnung Seyß-Inquart zum Bundeskanzler. Auch in den Bundesländern übernahmen Nationalsozialisten führende Positionen. Die Übernahme der Macht war somit vollzogen, der für 12. März befohlene Einmarsch wurde von Hitler jedoch nicht mehr gestoppt. Das österreichische Militär war zuvor angewiesen worden, keinen Widerstand zu leisten:

„Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht [dem österreichischen Bundesheer/TK] den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne wesentlichen Widerstand – ohne Widerstand – sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten.“4

In den Morgenstunden des 12. März landeten Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, und Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, am Flughafen Aspern – die ersten Verhaftungswellen gegen politisch missliebige Personen und Personenkreise begannen.

Ebenfalls am 12. März wurde bereits das Anschlussgesetz5 beschlossen und am 13. März verkündet. Miklas verweigerte die Unterschrift und übertrug, nachdem Druck auf ihn ausgeübt wurde, sein Amt dem Bundeskanzler Seyß-Inquart, der die Unterschrift leistete. Hier endete die Eigenständigkeit Österreichs, das in diesem Moment im Deutschen Reich aufgegangen war.
Hitler hatte damit eines seiner Ziele erreicht: Am 15. März konnte er vom Balkon der Hofburg am Heldenplatz mit reichlich schwülstigem Pathos verkünden, er hätte seine Heimat „heim ins Reich“ geholt:

„Diese Jahre der Leidenszeit haben mich in meiner Überzeugung vom Wert des deutschösterreichischen Menschen im Rahmen unserer großen Volksgemeinschaft nur bestärkt. Die wunderbare Ordnung und Disziplin dieses gewaltigen Geschehens ist aber auch ein Beweis für die Kraft der diese Menschen beseelenden Idee. Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volke die größte Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten:
Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!“6

Der jubelnden Menge standen die Tage der Wahrheit jedoch erst bevor. Die Freude über Arbeitsplätze beim Autobahnbau und in der Rüstungsproduktion währte nur kurz, bis im Laufe der folgenden Jahre immer klarer wurde, welche Abwärtsspirale Hitler mit dem auf seinem Kriegswillen beruhenden Wirtschaftsaufschwung in Gang gesetzt hatte. Dennoch hält sich bis heute hartnäckig die absurde Mär des von ihm geschaffenen Wirtschaftswunders.

Insgesamt wurden schon im März zehntausende Menschen – Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Intellektuelle und weitere Bevölkerungsgruppen, die im Nationalsozialismus nicht erwünscht waren – verhaftet, unter ihnen befand sich auch Schuschnigg.
Juden wurden mit Berufsverboten belegt, aus dem wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen und in Vollstreckung der Nürnberger Gesetze verfolgt und verhaftet. Schon in deren Präambel wurde der Eindruck vermittelt, es gäbe eine geschlossene deutsche Volksmasse, die sich noch nie mit Menschen anderer Länder, Religionen oder Hautfarben durchmischt hätte, was damals wie heute nicht zutrifft:

„Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird.“7

Um die Geschehnisse zwischen 11. und 13. März nachträglich zu legitimieren, führten die neuen Machthaber am 10. April 1938 eine Volksabstimmung durch. Da die führenden politischen Gegner und die intellektuelle Elite zu diesem Zeitpunkt bereits verhaftet, vertrieben oder in den Untergrund geflüchtet waren, wirkte die intensive Propaganda des nationalsozialistischen Regimes ohne eine gegenwirkende Stimme der Vernunft. Auch das Wissen um die Verhaftungswellen erhöhte den Druck unter den Wahlberechtigten, das Kreuzchen im großen Kreis für „Ja“ zu setzen.
99,73 Prozent stimmten für den Anschluss.

Was sich in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ in Österreich änderte, kann hier nachgelesen werden:
1938 nach dem „Anschluss“ – Worte im Dunkel

1938 zeichnete hier jemand die Jahreszahl und ein verkehrtes Hakenkreuz an eine Kellerwand in der Wiener Innenstadt – hier das Original …

… und hier das gleiche Bild dank elektronischer Bildbearbeitung besser lesbar.

Zeitzeugenberichte


Herbert Limmer (im Herbst 1937 zur deutschen Wehrmacht eingezogen):

„[…] und im März ’38 wurden wir – nachts plötzlich ‚Alarm‘ hieß es – in Schweinfurt auf den Zug verladen. Die Panzer mussten ja alle, wir konnten ja nicht lange Märsche fahren und wurden nach Süden transportiert. Da sind wir dann ins Tageslicht einmal losgefahren und wir waren der Meinung es ist eine Übung. Und wir sind dann bei Passau ausgeladen worden, also nachts wieder, am folgenden Tag in Passau angekommen und für morgen hieß es als wir bei unserem Kompaniechef angetreten waren […] wir waren vielleicht ein wenig schockiert gewesen: ‚Kameraden‘, das Wort Kameraden war ja vom Vorgesetzten nicht gefallen gewesen – er sagte: ‚Kameraden, beim Morgengrauen werden wir die österreichische Grenze überschreiten. Sollte Widerstand geleistet werden, so muss scharf zurückgeschossen werden.‘

Es war für uns ein Gefühl gewesen […]. Sonst hat man zum Übungsschießen immer fünf Patronen bekommen, also fünf Geschosse bekommen und jetzt waren tausende von Schuss Munition in diesem Panzer, den ich gefahren hab, das war Panzer 1. Da hatten wir MGs drinnen gehabt, wir hatten ja – im Panzer konnten keine Gurte verwendet werden – das waren Magazine gewesen, weil der Gurt, wenn man sich gedreht hätte, hätte sich verfangen, kurze Magazine – und jetzt war der ganze Panzer – tausende von Schuss Munition hatten wir da drinnen gehabt. Aber Gott sei Dank, als wir beim Morgengrauen die Grenze überschritten hatten in Österreich war Jubel und Begrüßung ganz groß. Die Österreicher haben uns sehr begrüßt – ‚Das ist ja unser Führer‘ – und so weiter. Da hat’s immer geheißen: ‚Unser Führer‘.“8

Gideon Eckhaus (als jüdischer Jugendlicher 1938 nach dem „Anschluss“ nach Palästina geflohen):

„Den Anschluss erlebte ich persönlich in der Synagoge in der Seitenstettengasse […] ist mein Bruder mit mir […] zum Seitenstetten-Tempel gegangen. Weswegen zum Seitenstetten-Tempel: Der damalige Oberrabbiner Herr Dr. Israel Taglicht predigte […] als Oberrabbiner […] in der Seitenstettengasse. Und nachdem die Zeit so spannend war und so weiter habe ich gesagt, wir gehen dort hin.

Als wir auf dem Weg zum Tempel auf die Taborstraße rauskamen von der Großen Pfarrgasse tobten dort Demonstrationen. Auf der linken Seite sind gerade die Rechten, die Nazis gegangen. Und auf der rechten Seite damals die Christlichsozialen, zusammen schon mit den Sozialisten. […] Auf der linken Seite hat man geschrien: ‚Judas verrecke!‘, ‚Judenblut vom Messer rinnt‘ und ‚Heil Hitler!‘ und so weiter. Auf der rechten Seite hat man geschrien: ‚Wer fürchtet sich vorm braunen Mann?!‘ und dann haben sie geschrien: ‚Niemand!‘ und so weiter. […]

Plötzlich da ungefähr wo die Barmherzigen Brüder sind – auf der Straße – ist eine Frau von der Seite der Christlichsozialen und der Sozialisten in die Mitte der Straße gesprungen und hat sich niedergekniet. Auf beiden Seiten sind Polizisten gegangen, haben begleitet die Demonstration auf der linken Seite, auf der rechten Seite und haben da zugesehen, dass die nicht zusammenstoßen sollen, dass einer nicht den andern angreift. Diese Frau ist aber auf die Straße hingesprungen und hat sich niedergekniet und hat zum Beten begonnen mit den Händen: ‚Lieber Hitler und Gott, gib uns unser tägliches Brot und nicht Kartoffel mit Hering, sondern was Hitler frisst mit Göring!‘ Und darauf ist dort eine Schlägerei entstanden, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Wir sind natürlich weiter unseren Weg gegangen. Wie das geendet hat seinerzeit kann ich nicht schildern, weil wir nicht dabei gewesen sind.

Das Gebet hat begonnen, Freitag abends, der Kantor, und plötzlich geht einer zum Pult des Oberrabbiners und lauscht ihm etwas ins Ohr. Und der Oberrabbiner mit diesem Mann gehen zum Kantor und sagen ihm etwas. Ja, so etwas ist nie passiert, dass mitten im Gebet, man aufhört zu beten und man geht da rauf und man lauscht etwas dem Oberrabbiner oder Rabbiner, so etwas war nie, das war wirklich so ein Moment, der unvergesslich ist.

Und dann geht dieser Mann zur Ampel, nicht der Rabbiner, sondern er und sagt: ‚Es wurde mitgeteilt, dass die deutsche Armee die Grenze überschritten hat. Juden werden angegriffen, jüdischen Geschäften werden die Scheiben eingeschlagen und geplündert‘ und wir sollen in kleinen Gruppen nicht alle mit einem Mal, sondern in kleinen Gruppen, nicht aufmerksam den Tempel verlassen und direkt nach Hause gehen.

Als ich mit meinem gottseligen Bruder in die Rotenturmstraße rauskam – auf jedem Haus wehte die Hakenkreuzflagge, die Hakenkreuzfahne. Jeder Nichtjude, der vorbeiging, hat da Hakenkreuz gehabt [er deutet dabei aufs Revers/TK]. Jeder Polizeimann, der erschienen ist, ist mit der Hakenkreuzbinde herumgegangen. Und wir haben schon einige Geschäfte gesehen, wo die Auslagen leer gewesen sind, natürlich die Fensterscheiben eingeschlagen.

Wir kamen in die Taborstraße und vor den Barmherzigen Brüdern sehen wir, dass man schlagt einen Juden. Wieso wussten wir, dass es ein Jud ist? Weil es war ein Mensch mit einem Bart. Der wird geschlagen, verprügelt von Jugendlichen, nicht ältere Personen, sondern Jugendliche, wie man sagt: Pülcher. Sowie wir das gesehen haben, sind wir in ein Haustor reingegangen und wollten nicht weiter uns auf den Weg machen, um nicht erwischt zu werden. Das war vis-a-vis. Der Mann – ich weiß nicht, wie es ihm gelungen ist – das Haustor der Barmherzigen Brüder zu öffnen und er ist reingesprungen. Aber die sind noch draußen geweilt, haben den Ort nicht verlassen, haben den Platz nicht verlassen, sind weiter dort stehen geblieben. Ich weiß nicht, weswegen, war es Zufall oder irgendwas. Nach einiger Zeit, ich kann die Zeit heute nicht mehr genau messen, öffnet sich die Türe und man stößt ihn zurück heraus und er wurde verprügelt. Wir haben ihn auf der Straße liegen gesehen. Die sind weiter – die haben ihn dort liegen gelassen, sind weitergegangen Richtung der Donau hinauf.

Wir sind dann auf die Straße zurück und Richtung zur Großen Pfarrgasse gegangen. Bis heute glaube ich, da war etwas, was unsererseits nicht sein dürfte, dass wir den dort haben liegen gelassen und nicht zu ihm gegangen sind, aber die Wahrheit: Wir hatten Angst, kamen auf die Ecke Große Pfarrgasse/Taborstraße. Wie wir einbiegen – eine andere Gruppe von solchen Jugendlichen, Hitlerjugend, erwischt uns. Wir wurden verprügelt […]. Ich bin damals tagelang zuhause einige Tage im Bett gelegen und das war – wie soll ich das sagen: Der Anschluss hat von Beginn an mit seiner natürlichen Sprache uns angesprochen.“9

Fußnoten:

1 Meldung „Ein offizieller Kommentar“ zur Rede des Bundeskanzlers, in: Wiener Zeitung, 12. Juli 1936, S. 2, online unter:
ANNO, Wiener Zeitung, 1936-07-12, Seite 2 (11. April 2021)
2 Walter Goldinger, Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938 (Wien 1992), Seite 282.
3+4 Rundfunkansprache von Kurt Schuschnigg am 11. März 1938, online unter:
Schuschnigg, Kurt von (11. April 2021)
5 Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, 15. März 1938, online unter:
ÖNB-ALEX - Gesetzblatt für das Land Österreich 1938-1940 (11. April 2021)
6 Ansprache von Adolf Hitler am 15. März 1938 am Heldenplatz, online unter:
https://www.doew.at/cms/download/78t22/maerz38_heldenplatz.pdf (11. April 2021)
7 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, 15. September 1935, online unter:
ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (11. April 2021)
8 Interview Herbert Limmer, Anschluss Österreichs 1938, Zeitzeugenportal, online unter:
Zeitzeuge Herbert Limmer: Anschluss Österreichs 1938 (11. April 2021)
9 Interview Gideon Eckhaus, „Anschluss“ und Folgen, weiter erzählen, online unter:
Gideon Eckhaus (M-V) (11. April 2021)

Links und Literatur:

Irene Bandhauer-Schöffmann, 1938 – Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und NS-Herrschaft, in: Martin Scheutz, Arno Strohmeyer (Hg.): Von Lier nach Brüssel. Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1496–1995), VGS Studientexte, (Innsbruck/Wien 2010), S. 273–303, online unter:
https://wirtges.univie.ac.at/Wiso/Eigner/Banfhauer-Schoeffmann.pdf (11. April 2021)
Josef Goldberger, Cornelia Sulzbacher, Der „Anschluss“, online unter:
Der "Anschluss" - Forum OÖ Geschichte (11. April 2021)
Klaus Koch, Elisabeth Vyslonzil, Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1939 (ADÖ), Bd. 10: Zwischen Mussolini und Hitler, 10. August 1934 bis 24. Juli 1936 (Wien 2014), online unter:
http://austriaca.at/0xc1aa5576 0x003ad07b.pdf (11. April 2021)
Claudia Prinz, Der „Anschluss“ Österreichs 1938, online unter:
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/anschluss-oesterreich-1938.html (11. April 2021)

Interne Links:

Mehr zu den Jahren von 1918 bis zum „Anschluss“:
1918 bis zum „Anschluss“

Mehr zum Jahr 1938 nach dem „Anschluss“:
1938 nach dem „Anschluss“

Link zum Originalbeitrag: 1938 – Der „Anschluss“ – Worte im Dunkel
 

Bunker Ratte

Well-Known Member
#2
Hallo Geist,
wahsinn was du da immer entdeckst und erforscht;).
Danke,ist wieder ein spannender, interessanter Beitrag,das Bild mit den Ziegel hat du ganz super hingebracht.

Lg
Michi
 
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