Alte Stofffabrik

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#43
Wie das Waldviertel den Faden verlor
Einst war das Waldviertel eine Hochburg der Textilindustrie. Heute sind von vielen Betrieben nur noch Ruinen übrig. Die Anderlfabrik bei Schrems ist eine davon

Der stillgelegte Maschinenraum der Waldviertler Textilindustrie.
DER STANDARD/Michael Windisch

Nächster Halt: Anderlfabrik. Wer mit dem Bus von Schrems nach Gmünd an der gleichnamigen Haltestelle aussteigt, mag sich wundern. Eine Fabrik ist hier nicht zu sehen, nur Äcker und Bäume: viel Waldviertel also. Doch dazwischen tut sich ein schmaler Weg auf – eine Allee, die in eine längst vergangene Zeit führt. Von den Rädern der Geschichte glattgeschliffenes Kopfsteinpflaster, gesäumt von jahrhundertealten Laubbäumen, weg von der lauten Straße, hinein in die Stille.

Irgendwann ragt zwischen den winterlich kargen Baumkronen ein Ziegelschornstein empor. Weitere Gebäude tauchen auf, ein kleiner Bach. Da ist sie, die Anderlfabrik. Zeugin einer Ära, in der das Waldviertel nicht nur geografisch im Herzen eines Weltreiches lag, sondern auch ein florierendes Zentrum der Textilproduktion war. Heute herrscht hier der Verfall.


In ihren besten Zeiten arbeiteten über 200 Menschen in der Fabrik bei Schrems.
DER STANDARD/Michael Windisch

Der Geist der Zukunft
1851 gibt Geist der Zukunft den Ton an. Der Unternehmer Wilhelm Altmann kauft die Kleemühle, die hier am Braunaubach seit Jahrhunderten vor sich hin klappert. Altmanns Vision: ein mechanischer Webstuhl. Die Industrialisierung des Waldviertels.

Die Textilproduktion im hohen Norden Österreichs blickt zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Geschichte zurück. Mitte des 18. Jahrhunderts bringen bittere Armut einerseits und staatliche Förderungen andererseits viele Männer und Frauen der Region in die Stofferzeugung. Sie arbeiten meist von zu Hause aus, manche in kleinen Betrieben.


Die Textilproduktion hatte im Waldviertel eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter in die Fabriken geholt.
DER STANDARD/Michael Windisch

Hier setzt Altmann mit seinem mechanischen Webstuhl an. Er – und viele andere Gründer – holen die Arbeiterinnen und Arbeiter an die Maschinen. In den kommenden Jahrzehnten wird die Fabrik an der alten Kleemühle immer wieder ausgebaut. Im nur fünf Kilometer entfernten Pürbach halten die Züge der Franz-Josefs-Bahn, die ab 1871 die Metropolen Wien und Prag verbindet. Das Waldviertel rückt ins Zentrum des Habsburgerreichs, das Business boomt. 1880 wird der Wiener Webwarenfabrikant Johann Anderl auf den Betrieb aufmerksam. Auf der Suche nach billigen Arbeitskräften kauft er die Fabrik und verlegt seine Produktion ins Waldviertel.


Das Waldviertel profitierte von seiner Lage an der Eisenbahn zwischen den Metropolen Wien und Prag.
DER STANDARD/Michael Windisch

Anderl und seine Nachfahren investieren fortan nicht nur in das Unternehmen, sondern auch in die angrenzende Ortschaft Kleedorf. Sie lassen eine Kapelle errichten, setzen Gemeindewege instand, bauen Häuser für ihre Arbeiter. Anderls Sohn Konrad wird 1903 zum Ehrenbürger von Niederschrems ernannt. Die Kremser Zeitung berichtet davon, wie die versammelten Gemeinderäte "unter Vorantreten der Musikkapelle und weißgekleideter Mädchen zum Heim des Gefeierten" marschieren und Konrad Anderl mit Lobreden bedenken. Zum Dank greift er erneut ins Portemonnaie und übergibt dem Bürgermeister "namhafte Beträge", unter anderem "zur Verteilung an wirklich bedürftige Ortsarme".


Auf dem Gelände wurde nicht nur gearbeitet ...
DER STANDARD/Michael Windisch

Doch nicht alle macht sich Anderl zu Freunden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichten die lokalen Zeitungen immer wieder von Streiks. Der Kremser Zeitung, die Anderl wenige Jahre zuvor noch hatte hochleben lassen, schreibt nun von "Hungerlöhnen" und Ausbeutung, während Anderl "auf seine vierte Million" zugehe. Im Juli 1906 lassen sich die Arbeiter erst nach elfwöchigem Streik mit der Zusicherung von zehn Prozent mehr Lohn zurück an die Maschinen bringen.


... viele Arbeiterinnen und Arbeiter lebten in Wohnungen gleich neben der Fabrik.
DER STANDARD/MIchael Windisch

In wirkliche Bedrängnis kommt das Unternehmen während der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit. 1938 wird ein Zwangsverwalter eingesetzt. 1944 sorgen die Nationalsozialisten für die Stilllegung des Betriebs, der kriegswichtige Elektroproduzent Felten und Guillaume bezieht die Hallen. Nach dem Krieg kehren die Anderls zurück, die Fabrik zählt bald wieder 220 Beschäftigte. Die Produktion verlagert sich von mechanischen Webstühlen, von denen je vier von einer Person betreut wurden, zu Webautomaten, bei denen ein Weber 20 Maschinen gleichzeitig handhabt. Hergestellt werden technische Gewebe, unter anderem für den Kunststoffproduzenten Semperit aus dem Industrieviertel, aber auch Futterstoffe, Windeln, oder Unterwäsche.


Hergestellt wurden technische Gewebe, unter anderem für den Kunststoffproduzenten Semperit aus dem Industrieviertel, aber auch Futterstoffe, Windeln, oder Unterwäsche.
DER STANDARD/Michael Windisch

Doch mit der Öl- und Wirtschaftskrise der 1970er schlägt der altehrwürdigen Waldviertler Textilproduktion langsam die letzte Stunde. Immer mehr Betriebe wandern in Billiglohnländer ab, die Arbeitslosenquote steigt. Das Unternehmen Patria etwa, das mit Sitz in Heidenreichstein 1961 noch 725 Menschen Arbeit gegeben hatte, lagert seine Strumpfproduktion nach Rumänien aus – und geht wenig später in Konkurs.


Nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich die Produktion von mechanischen Webstühlen zu Webautomaten.
DER STANDARD/Michael Windisch

Lange gewehrt, am Ende verloren
Der Fall des Eisernen Vorhangs bringt der Textilindustrie erst Hoffnung auf eine Blüte, bald aber Ernüchterung. Allein zwischen 1989 und 1994 verlieren jeder und jede Fünfte der im Waldviertel in der Branche Beschäftigten ihre Jobs. In der Textilfachschule in Groß-Siegharts geht 1997 aus Mangel an Schülerinnen und Schülern das Licht aus.


Seit der Schließung im Jahr 2004 hinterlassen Partys und Vandalismus ihre Spuren.
DER STANDARD/Michael Windisch

Die Anderlfabrik wehrt sich lange gegen ihr Schicksal. 2004 trifft es auch sie, die wenigen übrig gebliebenen Mitarbeitenden müssen gehen. Ein Konkursverfahren wird 2005 wegen fehlender Geldmittel aufgehoben. Das Nachleben der Fabrik ist bestimmt von Partys in den alten Gemäuern, von Vandalismus und von Hochwassern, die die Mauern des vormaligen Vorzeigebetriebs immer weiter zerbröckeln lassen. 2016 erwirbt ein Wiener Verein das Gelände, zuletzt kursieren vor zwei, drei Jahren Ideen für eine Nutzung der Fabrikhallen als Event-Location. Auf Anfragen, was aus diesen Zukunftsplänen geworden ist, reagiert niemand. Und so bleibt der Anderlfabrik nur zweierlei: viel Geschichte – und eine Bushaltestelle.


Der Name der Bushaltestelle bleibt in Erinnerung an die Fabrik.
DER STANDARD/Michael Windisch
(Michael Windisch, 12.2.2024)
Wie das Waldviertel den Faden verlor
 
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