Artikel über Grazer "Lost Places" Fotografen...

josef

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#1
Lost Places: Achtung, Einsturzgefahr!
Der Fotograf Thomas Windisch liebt Orte, die einst von Menschen bewohnt oder bewirtschaftet waren, aber mittlerweile von der Natur zurückerobert werden
Wir sind am Stadtrand von Wien, dort, wo es gerade im Winter ziemlich grau und trist werden kann. Irgendwo im Nirgendwo, zwischen zwei Brücken, die selten befahren werden. Aber wenn, dann kracht es gewaltig. Hinter einem Bauzaun liegt unser Objekt der Begierde: ein verfallenes Haus. Der Dachstuhl ist eingebrochen, man sieht Spuren eines Brandes. Der Drahtzaun ist an einer Stelle aufgebrochen, ein schmaler Pfad führt durch hohe Brennnesseln zur Hausschwelle, wo uns ein verkohlter Diddl-Maus-Anhänger begrüßt. Schon unheimlich. Drinnen liegt ein kaputter Rollkoffer auf dem Boden, ein vor sich hin modernder Kinderwagen. Weiter hinten steht ein versifftes Bett mit leerer Bierdose daneben.

"Hier lebt ein Obdachloser, der gerade nicht da ist", sagt der Grazer Fotograf Thomas Windisch, dessen Leidenschaft Orte wie diese sind, verfallene Häuser, die einen morbiden Charme ausstrahlen. Für den Fall, dass er auf Bewohner stößt, hat Windisch immer ein Packung Zigaretten dabei – auch, um ins Gespräch zu kommen. "Man dringt in eine Privatsphäre ein", sagt der Urban Explorer: "Ich möchte keinem Angst machen, gerade für Obdachlose sind Rückzugsorte, an denen sie sich sicher fühlen, sehr wichtig."

Einmal, erzählt Windisch, war er in Frankreich unterwegs, wollte ein Haus fotografieren, dessen Dach löchrig war, die Fenster eingebrochen. Plötzlich stand er mitten im Wohnzimmer einer Familie, die nicht schlecht staunte. Sie waren schlichtweg zu arm, ihr Haus instand zu halten, erzählten sie dem Überraschungsgast, mit dem sich ein
freundliches Gespräch entwickelte.

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Organic Bar, Kroatien 2020
Foto: Thomas Windisch

Tipps aus der Community
Respekt ist wichtig, für die Menschen, aber auch für die Räume. Windisch ist ein Gentleman in der Lost-Places-Community, die ständig wächst. Unter den Hashtags #urbex und #lostplaces findet man Bilder von stillgelegten Fabriken, verfallenen Krankenhäusern, überwachsenen Flugzeugbasen, düsteren Bunkern oder unbewohnten Villen. Die Szene tauscht sich über lohnende Ziele online aus – auch Windisch hat so den Tipp für die Wiener Hausruine bekommen. Blättert man durch die prächtigen Fotobände des Grazer Lost-Places-Experten, dann versteht man seine Leidenschaft. Gerade ist "Verlassene Orte in der Steiermark" (Sutton-Verlag) erschienen, nächstes Jahr soll ein Buch über Lost Places in ganz Österreich herauskommen.

Das extrem schön gestaltete "Wer hat hier gelebt?" (Brandstätter-Verlag) zeigt zahlreiche nationale und internationale Ruinen der Vergänglichkeit. Es fängt die Poesie einer Welt ein, in der die Menschen verschwunden sind, und die Natur sich ihren Raum zurückerobert. Auch Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Homo Sapiens" (2106) zeigt Orte rund um den Globus, die postapokalyptisch wirken – als ob Aliens nach einem Atomkrieg auf den menschenleeren Planeten stoßen und dort die Spuren eine einstigen Zivilisation finden.

Lost Places sind seltsam ambivalent: Einerseits ist die Zeit stehen geblieben, sie wirken wie konserviert – was man besonders gut in alten Krankenhäusern mit ihren Eisenbetten und antiquierten medizinischen Geräten sieht. Andererseits verändern sich die Orte rapide, werden von Pflanzen überzogen, wuchern organisch vor sich hin.


Comrade Frost, Bulgarien 2017
Foto: Thomas Windisch

Lost Places Tourism
Natürlich gibt es Ikonen des Lost Places Tourism wie die ukrainische Stadt Prypjat, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl von 1986 traurige Berühmtheit erlangte. Mittlerweile werden zahlreiche Touren in die verlassene, verstrahlte Stadt angeboten. Sogar Influencer posieren inzwischen gern geschmacklos vor diesem "Ruin Porn", als wären sie gerade auf einem Modeshooting.

Eine weitere Ikone: das Buzludzha-Monument in Bulgarien, das wie ein Ufo aussieht, das auf einem Berg gelandet ist. Seit dem Zerfall des kommunistischen Regimes 1989 fühlt sich keiner mehr für den Erhalt zuständig. Im Winter fällt Schnee in den Innenraum, die Mosaike bröckeln von den Wänden, Graffitis zerstören die Substanz. Man kann zu Lost Places und Dark Tourismus stehen, wie man möchte, aber die vielen Bilder, die rund um den Globus von diesem einzigartigen Architekturmonument kursieren, haben dazu beigetragen, ein neues Bewusstsein für den Wert dieses Gebäudes zu schaffen, das nun tatsächlich renoviert werden soll.


Sidelined, Belgien 2015
Foto: Thomas Windisch

Zur Unterscheidung: Während Dark Tourism für Orte steht, die mit Tod oder tragischen geschichtlichen Ereignissen verbunden sind, ist bei Lost-Places-Abenteurern nicht unbedingt der historische Hintergrund wichtig, sondern die Schönheit des Vergänglichen. "Wenn der Putz von der Decke bröckelt, sich Schimmelkulturen im Bett breitmachen, Farne durch Löcher in den Wänden wachsen, dann ist das meine Welt", sagt Windisch: "Ich interessiere mich für starken Verfall."

Zugleich ist das aber auch ein Problem: Viele Orte verändern sich rasant, werden baufällig, gefährlich oder Opfer von Vandalismus. Gerade dafür hat Windisch wenig Verständnis. Manche kommen mit Baseballschlägern, um mutwillig alles zu zerstören, erzählt er. Andere machen ein Geschäft daraus, brechen ein Schloss auf, ersetzen es durch ihr eigenes und bieten Touren an. Andere reißen Kristallluster herunter, nur damit sie ein exklusives Bild haben.

Dabei gibt es in der Urban-Explorer-Szene ungeschriebene Gesetze, an die man sich halten sollte: Man verändert nichts an dem, was man vorfindet. Und man lässt bei Postings weitgehend offen, wo sich der Ort befindet – auch, um ihn zu schützen.

Für Windisch ist es traurig, nach mehreren Jahren an Orte wiederzukehren, zu sehen, wie abgewirtschaftet sie mittlerweile sind. Oder wie "gestaged": Da werden marode Klaviere hin und her geschoben, um ein "ideales" Fotomotiv zu kreieren, Totenschädel aufgetürmt, Zimmer umgeräumt, damit sie auf Bildern dramatischer wirken. Windisch findet, das ist ein absolutes No-Go: "Eine Wohnung war ein Müllhaufen, nur eine Ecke war malerisch freigeräumt als Fotomotiv."


Backflip, Israel 2020
Foto: Thomas Windisch

Durch Satellitenbilder sind Lost Places mittlerweile leichter auffindbar, die Szene wächst – damit steigen aber auch die Probleme. Man bewegt sich schließlich in einer gesetzlichen Grauzone. Was ist, wenn ein Unfall passiert? Welcher Gebäudebesitzer möchte schon dafür haftbar gemacht werden, wenn jemandem, der illegal auf seinem Grundstück ist, etwas passiert. Er würde nie Schlösser aufbrechen, sagt Windisch, nur wenn ein Gebäude offen stehe, gehe er rein. Um in Ruhe seine Fotos zu machen, ist es ohnehin angenehmer, eine Genehmigung zu bekommen, was aber leider nicht immer geht.

Was aber tut man, wenn man erwischt wird? Windisch sucht mit Security-Aufsehern oder Besitzern stets das Gespräch. Obwohl einem Freund von ihm in Ungarn auch schon passiert ist, dass einfach auf ihn geschossen wurde. Urban-Explorer-Abenteuer brauchen Logistik: Man spaziert nicht mit Flip-Flops und dem Handy als Lichtquelle in einen dunklen Schacht. Darum heißen diese Orte ja auch Lost Places: Handy-Empfang hat man meist keinen – bricht man sich ein Bein oder bleibt hängen, dann findet einen womöglich tagelang keiner. Profis haben stets mehrere Lampen dabei, oft auch Funkgeräte, um sich zu verständigen.

Mit Überraschungen muss man trotzdem rechnen. Einmal sei der Fußboden unter ihm eingebrochen, erzählt Windisch. Er habe die Arme ausgestreckt und sei zum Glück steckengeblieben. Ein anderes Mal sind im Nachbarraum eines stillgelegten Hotels einige Etagen runtergebrochen. Man weiß aber auch nie, wem man begegnet, einer Jugendbande mit Messern oder Verrückten, die einen bedrohen und die Fotoausrüstung klauen wollen.

Die meisten Begegnungen aber waren positiv und interessant, sagt Windisch. Und oft muss man hinterher über sich selbst schmunzeln. Da seilt man sich atemberaubende 30 Meter in die Tiefe ab, um dann in einem Bunker feststellen zu müssen: Es gibt eh eine Tür, die man leicht hätte aufmachen können.
(Karin Cerny, 8.3.2021)


Cavern of Lost Souls, England 2015
Foto: Thomas Windisch

Infos zur Arbeit von Thomas Windisch: //thw.photography/


Thomas Windisch | Ilija Trojanow | Thomas Macho
Wer hat hier gelebt? Augenreise zu verlassenen Orten – Mythos und Wahrheit über Geisterhäuser und untergegangene Welten

ISBN: 978-3-7106-0140-8
216 Seiten, Hardcover
45 EuroFoto: Brandstätter Verlag/Windisch

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