Das in etwa um das 16. oder 17. Jahrhundert verschwundene Dorf Thiementhal-Neusiedl im Weinviertel

josef

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#1
Das verschwundene Dorf: Ausgrabungen im Matzner Wald
Warum Thiementhal-Neusiedl im niederösterreichischen Weinviertel aufgegeben wurde, ist nicht bekannt
Der verschwundene Ort befindet sich nahe der Ortschaft Hohenruppersdorf (Politischer Bezirk Gänserndorf, NÖ), die an der Grenze zwischen dem Weinviertler Hügelland und dem Marchfeld liegt. In der ansässigen Bevölkerung haben sich Mythen und Wissen über das einstige Dorf erhalten. Dies liegt darin begründet, dass sich bauliche Spuren heute noch deutlich als Geländemerkmale im Wald zu erkennen geben, aber auch durch das Vorhandensein einiger Schriftquellen.

Die Struktur der ehemaligen Niederlassung kann als Angerdorf, eine für das Weinviertel typische Dorfform, beschrieben werden. Dabei sind die Häuser und wirtschaftlichen Einrichtungen um einen zentralen Platz, den Anger, angeordnet. Die Häuser stehen sich dabei traufständig, mit der Vorderseite an den Anger angrenzend, gegenüber. Die Wirtschaftsgebäude befinden sich dahinter in zweiter Reihe. Der Anger stand dabei im Gemeinschaftsbesitz der Dorfgemeinschaft.
Eine ebene Lichtung inmitten des Matzner Waldes, auf der sich heute noch Felder befinden, zeugt von dem ehemaligen Anger. Die Häuser lagen auf den jetzt bewaldeten Hängen, die zu beiden Seiten der einstmaligen kommunalen Fläche ansteigen. Zahlreiche Gebäudegrundrisse lassen sich hier in terrassenförmiger Anordnung erkennen. Ein weiteres signifikantes Merkmal im Gelände bezieht sich auf einen Befestigungsgraben, von dem die gesamte Siedlung umschlossen wurde. Diese Befestigungsanlage hat sich bis heute nahezu vollständig erhalten.


Die Ausgrabung im Matzner Wald. Grabungsschnitt – Zuwegung durch den Siedlungsbereich zu den Windkraftanlagen.
Foto: Novetus GmbH

Eine Schriftquelle aus dem Jahr 1844, "Pierawart und seine Mineralquelle – für Aerzte und Kurgäste", bezieht sich in einer Wegbeschreibung auf den Ort. Demzufolge zieht der Weg durch den Matzner Wald an einer strauchlosen Stelle vorbei, die als das Öde Dorf bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um Thiementhal-Neusiedl, das im Jahre 1178 von Leopold dem Tugendhaften (Leopold V.) zeitgleich mit Pirawarth und Harras der Gerichtsbarkeit von Klosterneuburg übergeben wurde. Im Besitz des Stiftes Klosterneuburg befinden sich die Gründe bis heute. Über das genaue Schicksal des nach Angaben auf unbekannte Weise zerstörten Dorfes ist nichts bekannt.

Die Ausgrabungsarbeiten
Von März bis Juni 2021 konnten durch eine archäologische Ausgrabung, durchgeführt vom archäologischen Dienstleister Novetus, neue Erkenntnisse gewonnen werden. Wie bei etwa 90 Prozent der in Österreich durchgeführten Grabungen handelte es sich hierbei um eine anlassbezogene Grabung und nicht um eine Forschungsgrabung. Wenn ein Bodendenkmal durch ein Bauprojekt zerstört wird, muss eine Ausgrabung stattfinden, um dieses zu dokumentieren. Anlass für eine Untersuchung war die geplante Errichtung von drei neuen Windkraftanlagen mit den benötigten Leitungen und Zuwegungen durch die WEB Windenergie.


Arbeitsfoto von den Ausgrabungsarbeiten.
Foto: Novetus GmbH

Auf den Standflächen der Windkraftanlagen, die auf den Anhöhen über der ehemaligen Siedlung errichtet werden sollen, konnten keine archäologischen Hinterlassenschaften erkannt werden. Anders verhält sich die Situation bei der Zuwegung zu diesen Anlagen. Immer wieder kann beobachtet werden, dass sich moderne Straßen an Altwegen orientieren und zum Teil auch deckungsgleich mit ihnen verlaufen. Dies veranschaulicht ein Vergleich mit dem römischen Straßennetz. So ist zum Beispiel von der Via Appia dort, wo sie nicht von der modernen Straße überlagert wird, nach wie vor ihre antike Pflasterung vorhanden. Ähnlich verhält es sich auch im Matzner Wald, wo die für die Bauarbeiten errichtete Straße deckungsgleich mit dem ehemals durch das Dorf führenden Weg verläuft.

Da sich eine archäologische Maßnahmenfläche exakt auf die Baufläche bezieht, konnte nur die Straßenfläche untersucht werden. Ausgrabungen innerhalb des Angers beziehungsweise bei den vermuteten Hausstandorten im bewaldeten Bereich wurden nicht durchgeführt. Dennoch eröffnete sich eine interessante Befundsituation. So konnten zahlreiche Siedlungsgruben und Mauerreste dokumentiert werden.

Im zentralen Bereich der Grabungsfläche mussten die Ausgrabungen unterhalb des Bauniveaus fortgesetzt werden; ein Umstand, der auch für die Archäologinnen und Archäologen zu erschwerten Bedingungen führte. So musste der sehr tiefe Grabungsschnitt in einem Bereich durch Pölzen vor dem Einsturz gesichert werden. Die dadurch gewonnene Erkenntnis ist jedoch beachtlich. Durch diesen zusätzlichen Aufwand konnten tiefreichende Profile angelegt werden, die es ermöglichten, den Schichtaufbau der Fundstelle zu verstehen.


Profil aus dem zentralen Siedlungsbereich.
Foto: Novetus GmbH

Die aufgenommenen Profile geben zahlreiche Gruben, fundführende Schichten, aber auch Schichten, die durch natürliche Ereignisse (Rutschmassen) entstanden sind, zu erkennen und dokumentieren somit die langandauernde Siedlungsgeschichte von Thiementhal-Neusiedl.

Geophysikalische Prospektion
Mit dem Fortschreiten der Ausgrabungsarbeiten stieg das allgemeine Interesse an der Fundstelle und den Untersuchungen. So wurde seitens des Auftraggebers eine geophysikalische Prospektion im Bereich des Angers ermöglicht. Zum Einsatz kam Geomagnetik, womit das Erdmagnetfeld gemessen wird. Ausschlaggebend hierfür ist der Unterschied (magnetischer Kontrast) des ungestörten Bodens zu anthropogen verursachten Strukturen. Bei geophysikalischen Prospektionen kommt es zu keinen Bodeneingriffen, wodurch sie zerstörungsfrei durchgeführt werden können. Aus dem entstandenen Messbild hebt sich eine Struktur besonders hervor. Dabei handelt es sich um einen langrechteckigen Bau mit einem apsidenartigen Zubau im Osten. Das identifizierte Gebäude weist eine West-Ost-Orientierung auf und kann somit als Kirche angesprochen werden.


Interpretiertes Messbild der geophysikalischen Prospektion.
Foto: Novetus Gmbh, ZAMG

Das Fundmaterial
Bei dem vorliegenden Fundmaterial handelt es sich hauptsächlich um Keramik und Tierknochen, zahlreiche Eisenfunde sowie einen kleinen Anteil an Buntmetall und bearbeiteten Steinen. Es erlaubt eine Datierung der Nutzung der Siedlung zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert. Die Keramik umfasst überwiegend scheibengedrehte Gefäßfragmente aus dem Gebrauchskeramikspektrum, darunter Töpfe, Kannen, Schalen, Schüsseln, Flaschen und Öllampen.

Die Keramik wurde mit unterschiedlichen dekorativen Elementen versehen. Dabei handelt es sich vorwiegend um Rollstempel- und Rillendekor, Ritzmarken sowie Linien- und Wellenbänder.

Zwei der geborgenen Steine weisen kreisförmige Schleifspuren auf, wodurch eine Deutung als Teile von Handmühlen wahrscheinlich ist.


Funde aus Keramik und Stein. Links: Deckelknauf, Mitte: Topf aus dem 15. bis 16. Jahrhundert, rechts: Handmühlen aus Stein.
Foto: Novetus GmbH

Die Metallfunde können in mehrere Verwendungsbereiche gegliedert werden. Aufgefunden wurden Trachtbestandteile, Gegenstände, die sich dem Kontext Jagd und Kampf zuordnen lassen, Reitzubehör und Hinterlassenschaften aus Handwerk und Ackerbau. Beispiele sind eine Doppelschnalle aus Eisen, ein Gürtelbestandteil aus Buntmetall, der als Teil eines Brautgürtels angesprochen werden kann, mehrere Geschoßspitzen, ein Radsporn sowie einige Münzen.


Metallfunde. Links: Gürtelbestandteil aus Buntmetall, rechts oben: Geschoßspitzen, rechts Mitte: Sattelschließe, rechts unten: Radsporn.
Foto: Novetus GmbH

Grund der Siedlungsaufgabe: Unbekannt
Im Urbar des Stiftes Klosterneuburg aus dem Jahr 1258 werden 22 Bauernlehen zu 20 Joch und sechs weitere kleine Wirtschaften als dem Ort Thiementhal-Neusiedl zugehörig genannt. Die angegebene Fläche bezieht sich auf etwa zehn Hektar und ist somit deckungsgleich mit der durch den Befestigungsgraben umgebenen Siedlungsfläche. Anhand der Siedlungsgröße und der Tatsache, dass es eine Befestigungsanlage gab, kann geschlossen werden, dass der Ort zu dieser Zeit von regionaler Bedeutung war.

Hinsichtlich der Siedlungsaufgabe liegen keine Informationen vor. Vermutet wird, dass der Ort trotz eines tiefen Brunnens aufgrund von Wassermangel aufgegeben werden musste. Zu beachten bleibt auch, dass das Siedlungsende in den Zeitraum der Kleinen Eiszeit fällt. Hauptsächlich machte sich dieses Ereignis vom 16. bis zum 17. Jahrhundert durch eine global kühlere Phase bemerkbar. Diesem klimatischen Umschwung folgten auch wirtschaftliche und demografische Veränderungen, die sich vielerorts auch mit der Aufgabe von Siedlungen in Verbindung bringen lassen.
(Thomas Ragger, Martina Simon, 6.1.2022)

Thomas Ragger studierte in Regensburg und Wien Ur- und Frühgeschichte und arbeitet seit 2017 bei der Novetus GmbH als Archäologe. Er ist Mitarbeiter im Grabungsteam des NHM im prähistorischen Salzbergbau in Hallstatt. Er interessiert sich für Montanarchäologie und Prospektion.
Martina Simon hat Urgeschichte und Historische Archäologie an der Universität Wien studiert und hat Erfahrung im Sammlungs- und Archivbereich. Derzeit arbeitet sie als Archäologin bei der Novetus GmbH in der Fundabteilung, in der Ausgrabungsfunde verwaltet und bestimmt werden
Die Autorin und der Autor danken der WEB Windkraft AG und dem Stift Klosterneuburg für die Zusammenarbeit und die Erlaubnis, die Fundstelle hier vorstellen zu können.
Das verschwundene Dorf: Ausgrabungen im Matzner Wald
 
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Bunker Ratte

Well-Known Member
#2
Ich fand im Winter 2019 in einem Waldstück zwischen Groß Schweinbarth und Matzen diesen Brunnen der angeblich noch von dieser Siedlung stammt. Die Informationen bekam ich damals von einem Förster in der Gegend der mir erzählte: Hier lag einst der Ort "Neusiedl. Angeblich aus Wassermangel, wurde dieser vor langer Zeit aufgegeben. Einige Überbleibsel sind nur mehr schwer zu finden. Eines davon ist der tiefe Brunnen in dem Waldstück.
 
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