Der historische Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse wird Erinnerungsort

josef

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Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse wird Erinnerungsort
Ab dem 1. März 2020 sollen im Saal 600 keine Strafprozesse mehr geführt werden

Archivbild: Anklageverlesung des Nürnberger Kriegsverbrecher-Hauptprozesses im Saal 600 am 20. November 1945.
Foto: APA/dpa

Der historische Saal 600 der Nürnberger Prozesse wird in Zukunft nicht mehr für aktuelle Strafprozesse genutzt. Voraussichtlich am Donnerstagnachmittag werde dort zum letzten Mal ein Urteil gesprochen, teilte das Oberlandesgericht Nürnberg-Fürth am Mittwoch mit.

Der Saal 600 ist untrennbar mit den "Nürnberger Prozessen" verbunden: Am 20. November begann hier der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des nationalsozialistischen Regimes. Bis zum 1. Oktober 1946 mussten sich hier führende Nationalsozialisten vor einem internationalen Gericht verantworten. Es schlossen sich noch zwölf Nachfolgeprozesse an.

Zu den Angeklagten im ersten Prozess zählten Hermann Göring, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und weitere führende Köpfe des NS-Regimes wie Alfred Jodl, Wilhelm Keitel, Albert Speer oder Julius Streicher. Von den insgesamt 22 Angeklagten wurden zwölf zum Tode verurteilt, drei zu lebenslanger Haft, vier zu langjährigen Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden freigesprochen – darunter der ehemalige Reichskanzler der Weimarer Republik, Franz von Papen.

Weiternutzung für Strafprozesse
Den Nürnberger Prozessen wird maßgeblicher Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts bis in die Gegenwart beigemessen. Sie gelten als Vorbild für die Errichtung des heutigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Die Justiz nutzte den Gerichtssaal nach den Nürnberger Prozessen für reguläre Strafprozesse – wegen der Größe des Saals fanden hier zahlreiche, von großer Öffentlichkeit beachtete Mordprozesse statt. Ab dem 1. März 2020 soll der Saal 600 ausschließlich als Ort der Begegnung und Erinnerung genutzt werden. Bereits seit einigen Jahren gab es dort Ausstellungen zur Geschichte der Nürnberger Prozesse.
(APA, red, 20.2.2020)

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Memorium Nürnberger Prozesse

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Vor 75 Jahren: Der Nürnberger Prozess als Stunde der Gerechtigkeit
Zwar wurde er kein Modell für künftige Politverbrechen, dennoch war der Nürnberger Prozess gegen 22 führende Nazi-Funktionäre vor 75 Jahren besser als sein Ruf
Deutschland hatte kapituliert, der Krieg war aus, und die Alliierten standen vor der Frage, was sie mit den überlebenden Nazigrößen tun sollten. Stalin wäre ein Schauprozess nach Moskauer Art mit vorgegebenen Todesurteilen am liebsten gewesen, die Briten wollten sie formlos an die Wand stellen. US-Präsident Harry Truman schwebte etwas anderes vor, nämlich ein faires Verfahren, und er setzte sich durch.


"Reichsmarschall" Hermann Göring (li.) und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (re.) auf der Anklagebank
Foto: Imago

Und so kam es, dass vor 75 Jahren, am 20. November 1945, der Nürnberger Prozess gegen 22 Naziführer eröffnet wurde. Vier Nationen, Großbritannien, die USA, die Sowjetunion und Frankreich, saßen zu Gericht, doch initiiert, organisiert und dominiert wurde der aufwendigste, größte Strafprozess aller Zeiten von den Amerikanern.

Persönliche Verantwortung
Ohne die grauenhaften in Nürnberg ans Licht gekommenen Fakten wäre es heute viel schwieriger, Neonazis und Holocaust-Leugnern entgegenzutreten. Dabei drückte Sir Geoffrey Lawrence, ein souveräner Vorsitzender mit bewundernswertem Gedächtnis, aufs Tempo, um schnell zu adäquaten Urteilen zu gelangen, während vor allem die Franzosen darauf drängten, nach den für die Geschichtsschreibung wichtigen Einzelheiten zu fragen.

Der gesamte Prozess wurde gefilmt, jedes Wort simultan in die drei anderen Sprachen übersetzt, alles protokolliert und publiziert: in der deutschen Ausgabe über 15.000 Seiten in 22 Bänden (auch auf CD-ROM), plus 18 Bände Dokumente und zwei Bände Register, eine Geschichtsquelle von unschätzbarem Wert. Der starke Mann im Vorfeld des Prozesses und spätere US- Hauptankläger Robert Jackson hatte eine Vision, nämlich den Griff nach den Sternen eines neuen Völkerrechts, die er in seiner brillanten Eröffnungsrede beschwor. Zum ersten Mal sollten Männer dafür bestraft werden, dass sie einen Krieg vom Zaun gebrochen hatten. Der Prozess sollte künftigen Angriffskriegen einen Riegel vorschieben. So wurde er der Welt angekündigt.

Natürlich waren auch die deutschen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Teil der Anklage. Doch die politische Anklage war den Amerikanern nicht nur wichtiger. Klar war, dass die Nazis viele solche Verbrechen begangen hatten, lange unklar war, ob es möglich sein würde, den Angeklagten ihre persönliche Verantwortung zu beweisen. Noch wenige Wochen vor dem Prozess hieß das größte Schreckgespenst der Ankläger Beweisnotstand. Dann fanden Spezialeinheiten, die sich durch Tonnen der Vernichtung entgangener deutscher Dokumente wühlten, mehr Beweismaterial, als sich die Ankläger erträumt hatten, und es fanden sich immer mehr Zeugen.

Kaltes Grauen im Saal
Es war die Idee von Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, allen Abteilungsleitern "Stahl in die Adern zu gießen", weshalb der für die Erkundung der Stimmung in der Bevölkerung zuständige Otto Ohlendorf, "des Teufels Meinungsforscher", die Leitung der Einsatzgruppe D übernehmen musste. Am 3. Jänner 1946 senkte sich das kalte Grauen über den Saal, während dieser hochintelligente Jurist und Ökonom emotionslos bis in die kleinsten Einzelheiten berichtete, wie von Juni 1941 bis Juni 1942 unter seinem Kommando 90.000 Juden erschossen wurden.

Auch der 15. April war ein Schreckenstag. Rudolf Höß, Lagerkommandant von Auschwitz, erklärte, wie er die Gaskammern plante, die 2000 Menschen auf einmal fassten, wie er sich für Zyklon B entschied, "eine kristallisierte Blausäure, die wir in die Todeskammer durch eine kleine Öffnung einwarfen (...). Wir wussten, wann die Menschen tot waren, weil ihr Schreien aufhörte." Er räumt ein, dass es "manchmal Aufruhr und Schwierigkeiten" gab: "Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den (zurückgelassenen, Anm.) Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung geschickt."

Mord war immer schon, Kriege zu führen war noch nie verboten gewesen, und dass niemand wegen einer Tat bestraft werden darf, die zur Zeit der Begehung nicht strafbar war, ist ein Grundprinzip jeder rechtsstaatlichen Justiz. Doch obwohl sich das Gericht Militärtribunal nannte, waren der englische, der amerikanische und der französische Richter und ihre Stellvertreter Zivilisten und angesehene Juristen und bei der Urteilsfindung frei.
Ihnen ist zu verdanken, dass fast alle Strafen, die sie mit ihrer Stimmenmehrheit gegenüber dem sowjetischen Richter aussprachen, der Kritik standhalten. Sie holten die "Sterne eines neuen Völkerrechts" auf den sicheren Boden des klassischen Strafrechts herunter. Sie sprachen Schuldsprüche wegen Planung und Führung von Angriffskriegen aus, doch für die Strafen waren Mordtaten ausschlaggebend.

Zwölf Todesurteile
Vor allem in den ersten Wochen, in denen das Interesse am größten war, erlebte die Welt einen politischen Prozess. Die Richter folgten schweigend, gelegentlich Fragen stellend, der Beweisführung der Ankläger und der Verteidiger, den Aussagen der von jeder Seite aufgerufenen Zeugen. Dass die westlichen Richter am Ende etwas anderes als das ursprünglich Geplante aus diesem Prozess gemacht hatten, ließen erst die Strafen erkennen.
Am 1. Oktober 1946 verkündete Lordrichter Lawrence zwölf Todesurteile (Hans Frank, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyß-Inquart und Julius Streicher, Martin Bormann in Abwesenheit), sieben Freiheitsstrafen (Karl Dönitz, Walther Funk, Rudolf Heß, Konstantin von Neurath, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Albert Speer) und drei Freisprüche (Hans Fritzsche, Franz von Papen, Hjalmar Schacht). Hermann Göring verübte Selbstmord mittels Zyankali.

Es gab kein Todesurteil ohne Schuld oder Mitschuld am Mord. Auch die Freiheitsstrafen entsprachen genau dem Grad der persönlichen Verantwortung oder Mitverantwortung für den Tod von Menschen. Nur eine Strafe war rein politisch, und ausgerechnet Rudolf Heß verbüßte seine Strafe als Einziger der drei zu lebenslang Verurteilten bis zum Selbstmord mit 93 Jahren. Sein Fall wirft den einzigen Schatten auf den Prozess. Dies entspricht einer Fehlerquote zulasten des Angeklagten von fünf Prozent – damit bestehen die Urteile den Vergleich mit jeder rechtsstaatlichen Strafjustiz. Einige Angeklagte kamen dafür sehr milde davon.

Bewusstseinsbildung
Die Richter und die alliierten Stäbe zerstreuten sich in alle Winde, die Welt ging zur neuen Tagesordnung des Kalten Krieges über, und die Amerikaner und Briten führten selbst Angriffskriege und ließen den Nürnberger Prozess fallen wie eine heiße Kartoffel. Die Rechtsgelehrten schossen sich auf ihn ein, weil sich über das Problem des rückwirkenden Rechts gut streiten ließ, Deutschlands Rechte, weil sie allen Grund hatten, ihn zu hassen. So wurde die Chance, den Nürnberger Prozess als Modell für spätere Fälle produktiv zu machen, vertan.

Entscheidend wurde er jedoch für die Bewusstseinsbildung der Deutschen und Österreicher über Auschwitz und den Holocaust. Ohne die Berichterstattung in den Zeitungen und ohne die Wucht der in Nürnberg vorgelegten Beweise hätten sie vom größten Verbrechen aller Zeiten häppchenweise im Lauf von Jahren erfahren, und die größte aller Nazi-Untaten hätte sich unserem politischen Bewusstsein niemals so nachhaltig eingeprägt. Denn die Politik hat wenig bis nichts dazu getan.
(Hellmut Butterweck, 14.11.2020)

Hellmut Butterweck, geb. 1927, Journalist, schrieb das Buch "Der Nürnberger Prozess – Eine Entmystifizierung" (Czernin-Verlag, 2005).

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