Die Operationsplanungen der NATO sahen schon während der Besatzungszeit den Einsatz von taktischen Atomwaffen im österreichischen Alpenraum vor

josef

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#1
Die Besatzungszone der Westalliierten in Österreich war ab 1951 bis zum Abzug 1955 in die Verteidigungsplanungen der AFSOUTH (Allied Forces Southern Europe - Alliierte Streitkräfte Südeuropa) eingebunden.

Die österreichischen Besatzungszonen 1945 - 1955:
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(Quelle: Wiki Besetztes Nachkriegsösterreich)

Die Zuständigkeitsgrenze der vorgesehenen Gebiete zwischen NATO-Abschnitt "AFSOUTH" (Südeuropa) und Mitteleuropa "AFCENT" (Zentraleuropa) verlief damals nördlich des Alpenhauptkammes im Grenzbereich Österreich-Bayern und ab Passau östlich bis Wien entlang der Donau:
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Rote Linie - durchgehend: 1951 - 1955
Rote Linie - strichliert: Nach Süden verlegte NATO-Interessensgrenze nach Abzug der Besatzungstruppen aus Österreich
(Kartenquelle: D.Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960)


Laut den detaillierten Beschreibungen bei
Dieter Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960; Einzelschriften zur Militärgeschichte
erwartete man für den von der "AFSOUTH" abgedeckten Verteidigungsbereich die in der Karte dargestellten "Vorstoßachsen" der Sowjetarmee aus Bereitstellungsräumen in Österreich und Jugoslawien durch den Alpenraum in Richtung Italien:
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(Kartenquelle: D.Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960)

Die zum Schutz von aus der sowjetischen Besatzungszone in Österreich ausgehenden Angriffe auf Italien verlegte die NATO die ursprünglich im Nord-Tiroler Alpenraum vorgesehene Verteidigungslinie im Herbst 1952 nach Osten in den Salzburger-Kärntner Raum vor (strichlierte Linie):
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(Kartenquelle: D.Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960)

Zur Abriegelung der Vorstoßbewegungen von sowjetischen Verbänden in Richtung Italien plante die NATO auch den Einsatz von taktischen Atomwaffen auf österreichischen Gebieten:
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(Kartenquelle: D.Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960)

Auch im italienisch-jugoslawischen Grenzgebiet auf heutigem slowenischen Territorium im Hinterland von Triest waren Atomschläge geplant.

Jedenfalls musste es in Italien schon vor der bekannten Inbetriebnahme des "Sonderwaffenlagers" in Natz-Schabs 1967 Atomwaffenlager gegeben haben!
 
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josef

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#2
Zu den nuklearen Vorhaben der alliierten Besatzungstruppen im Rahmen der NATO im Alpenraum eine Kurzzusammenfassung aus
Dieter Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960.:

Interessant finde ich die Schwerpunktbildung der NATO-Abwehr auf angenommene Angriffe der Sowjetarmee aus der österreichischen Besatzungszone sowie aus Ungarn heraus auf Norditalien. Die in der späteren Phase (Mitte 1960iger Jahre bzw. gegen Ende der 1980iger Jahre) des „Kalten Krieges“ priorisierte „Durchmarschachse“ von Ungarn und Südböhmen in Richtung der NATO-Flanke in die Räume München und Regensburg durch das Donautal wurde damals weniger beachtet. Grund dafür dürfte die bis Ende 1955 dauernde Truppenpräsenz der Sowjets in der Nieder- und teilweise Oberösterreich (Mühlviertel…) umfassenden Besatzungszone zu suchen sein. Jedenfalls war damals schon bis zum Ende des Kalten Krieges eine Stoßrichtung der Sowjets durch Teile der Steiermark über Kärnten Richtung Tarvis ins Kanaltal sowie durch das Drautal über Lienz ins Pustertal vorgesehen. Die andere Aufmarschroute führte aus der Sowjetzone durch das oberösterreichische Innviertel über Bayern den Fluss aufwärts in das Tiroler Inntal und ab Innsbruck durch das Wipptal über den Brennerpass nach Süden…

Ab 1952 wurden Atomwaffen in die Abwehr-Planungen der NATO mit einbezogen. Der vom damaligen SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) festgelegte „Atomic Strike Plan“ sah für die sowjetisch besetzte Zone in Österreich vorgeplante strategisch wichtige Ziele vor. Zuerst gelistet waren die Flugplätze und Bodeneinrichtungen in der sowjetischen Besatzungszone und danach wichtige Verbindungsknoten der Bodentruppen.

Für Ostösterreich betraf dies 12 Flugplätze, vier wichtige Aufmarschräume für Truppenkonzentrationen (Linz, St.Pölten, Wiener Neustadt und Neunkirchen) sowie Baden als Sitz des sowjetischen Oberkommandos. Ebenfalls auf der Zielliste befanden sich die Donaubrücken von Linz ostwärts.

Sobald der „Strike Plan“ abgearbeitet war, sollte die Umsetzung des „Regional Plans“ beginnen. Dabei setzte man, wie später beim ÖBH mit konventionellen Waffen (teilweise…) umgesetzt, auf die Geländebeschaffenheit. Die engen Alpentäler erlauben einen Angreifer nur ein kanalisiertes Vorgehen in der Stoßrichtung, welches an exponierten Stellen leicht zu unterbrechen ist. So plante man einige zentrale strategisch wichtige Orte mittels Atomexplosionen zu sperren. Die Verlagerung des atomaren Einsatzes ins österreichische Vorfeld des italienischen Angriffszieles war sicherlich auch mit einem gewissen Hintergedanken verbunden, nach dem Motto „Atomexplosionen besser auf fremden als auf eigenen Boden“…

1954 verschob die Operationsabteilung von LANDSOUTH (Alliierte Landstreitkräfte Südeuropa) die Verteidigungslinie auf die Höhe von Salzburg – Maribor – Zagreb vor. Dies setzte wegen der geringen Truppenstärke gegenüber der Sowjetarmee heftige Atomschläge gegen feindliche Truppenkonzentrationen und Nachschubwege voraus. Diese Nukleareinsätze im ausländischen Vorfeld von Italien sollten den Verteidigern den nötigen Zeitvorlauf sichern, um eine Verteidigungslinie durch Großverbände am Isonzo aufzubauen.

Während die Italienischen Streitkräfte voll in die der AFSOUTH unterstellten LANDSOUTH integriert waren, oblag die Durchführung der Atomschläge ursprünglich voll den Bombern und Jabos der US-Luftstreitkräfte.

Allmählich rüstete man die Landstreitkräfte mit 3 Batterien „HONEST JOHN“ und einem Bataillon „CORPORAL“ Raketen sowie 29 Atomminen aus, um bei den Operationen der „Regional Plans“ von den Luftstreitkräften unabhängig zu sein.
 

josef

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#3
Übergang von der überregionalen strategischen „Strike Plans“ – Phase zu den „Regional-Plans“ entlang der feindlichen Stoßrichtungen:

Sofern sich durch die USAF ausgeführte strategische Atomschläge auf Aufmarschräume, wie z.B. die Bahn- und Straßenknoten Linz, St.Pölten oder Wiener Neustadt nicht voll auswirkten und die Sowjetverbände auf den bekannten Vormarschrouten rasch vorzudringen drohten, sollten in der ersten Phase der Verzögerungsgefechte die Verteidigung im Rahmen der „Regional Plans“ an mehreren Stellen nuklear unterstützt werden!

Dazu konkrete Angaben zu der im ersten Beitrag veröffentlichten Karte „Geplante Atomschläge in den Alpen 1955“:[1]
Bereich Kufstein-Kiefersfelden:
Der Zugang in das Inntal südwestlich Kufstein sollte von relativ schwachen amerikanischen Kräften[2] verteidigt werden. Da der Gegner voraussichtlich einen Durchbruchskeil bilden wird, sollte ein Atomsprengkörper zwischen Kiefersfelden und Kufstein gezündet werden.
Bereich Scharnitz-Mittenwald:
Ähnlich verhält es sich an der Engstelle in Scharnitz beim Zugang zum Seefelder Sattel. Hier hatten die Österreicher (zumindest in den Plänen) bereits die Stelle der Franzosen (ehem Besatzungsmacht in Tirol [eigene Anmerkung]) eingenommen. Sie bilden mit amerikanischen und italienischen Elementen einen schwachen gemischtnationalen Sperrverband[3], der durch eine Atomdetonation nördlich von Mittenwald unterstützt werden sollte.
Bereich St. Michael:
Bei St.Michael in der Obersteiermark treffen die Eisenbahnstrecken und Straßen aus Linz und Wiener Neustadt zusammen. Sie führen weiter Richtung Villach und Tarvisio. Südwestlich St.Michael sichert eine britische Kompanie verstärkt durch Österreicher die Verengung des Murtales zwischen Leising und Preg. Als Verkehrsknotenpunkt und Ort einer voraussichtlichen Truppenkonzentration ist St.Michael ein ideales Nuklearziel
.
Ähnlich verhält es sich mit dem Lienzer Becken, das den Zugang von Villach und Spittal Richtung Pustertal bildet. Ein Panzeraufklärungsverband, verstärkt durch Pioniere und Artillerie auf Selbstfahrlafetten sollte den Eingang ins obere Drautal bei Leisach sichern. An der östlichen Stadtgrenze von Lienz wäre der Detonationspunkt des Atomsprengkörpers vorgesehen.
Bereich Tarvisio:
Im Becken von Tarvisio führen Straße und Bahn durch das Tal des Oberlaufs des Tangliamento in Richtung Poebene nördlich Udine. Zur Verteidigung aus dem Becken Richtung Westen waren 2 Bataillone italienische Gebirgsjäger (Alpini), Grenzschutzverbände, 2 Pionierbataillone und eine Artillerie-Batterie vorgesehen. Den Predilpass südlich Tarvisio hatte eine verstärkte Gebirgsjägerkompanie zu halten. Die Atomdetonation sollte im offenen Talbecken 3 km östlich von Tarvisio zu erfolgen. Von Seiten der Sowjetarmee war hier mit einer Angriffskonzentration von mindestens 2 Divisionen zu rechnen.
[1] (Buch Fußnote 23) AFSOUTH Historical Report 1951-55 S. 83
[2] (Buch Fußnote 24) 1 Infanteriebataillon, 1 Kompanie Sturmpioniere, 1 Batterie leichte Artillerie, 1 Kompanie schwere Mörser, 1 Batterie Flugabwehrartillerie und 1 Zug mittelschwere Panzer.
[3] (Buch Fußnote 25) 1 österreichisches Infanteriebataillon, 1 österreichische Pionierkompanie, Elemente einer amerikanischen Pionierkompanie und eine italienische leichte Artillerie Batterie.


In allen geschilderten Fällen hätte die Sprengkraft der eingesetzten Kernwaffen bei mindestens 33 und höchstens 73 Kilotonnen (KT) gelegen. Die 1945 in Hiroshima (allerdings gegen eine dichtbesiedelte Stadt) eingesetzte Atombombe hatte eine Sprengkraft von 15 – 20 KT besessen!

Soweit Textauszüge aus im Vorbeitrag zitierten Buch (Seiten 60-66).
 
#4
Danke Josef, für die detaillierte Beschreibung!
Ich dachte immer, Österreich ist neutral; von NATO-UDSSR Kämpfen (mit Atombomben) im Falle eines Konfliktes auf österreichischem Gebiet - diese Möglichkeit hat halt kein Zivilist im Kopf.
 

josef

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#5
Beabsichtigte Integration von österreichischen Verbänden in die damalige NATO-Struktur:

Die Planungen der AFSOUTH bzw. LANDSOUTH für den Verteidigungsbereich „Scharnitz-Mittenwald“ zeigen, dass auch Einheiten der damaligen österreichischen „B-Gendarmarie“ in die NATO-Verteidigungsstrategie eingebunden waren!

Neben den Sperrstellungen mit Atomwaffeneinsatz bei Kufstein-Kiefersfelden und Scharnitz-Mittenwald waren im Inn- und Wipptal weitere "Verzögerungsstellungen" der NATO-Truppen gegen einen Vorstoß der Sowjetarmee Richtung Brenner-Südtirol vorgesehen:
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(Kartenquelle: D.Krüger; Brennender Enzian - Die Operationsplanungen der NATO für Österreich und Norditalien 1951-1960)
 

josef

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#6
Weise darauf hin, dass es sich beim im Beitrag behandelten Thema nur aus der Sicht des "NATO-Bereiches Südeuropa" (AFSOUTH) für den Zeitraum 1951 - 1955 handelt, welches im oben zitierten Buch dargestellt wird. Über geplante Einsätze von Atomwaffen durch die als "Gegner" bezeichneten Einheiten der Sowjetarmee und der Streitkräfte des NATO-Abschnittes Mitteleuropa "AFCENT" (Zentraleuropa) auf österreichisches Territorium ist mir nichts bekannt.

Nach der Wiedererlangung der Freiheit Österreichs durch Abzug sämtlicher Besatzungstruppen Ende 1955 änderten sich die Angriffsplanungen der Sowjetarmee im Rahmen des "Warschauer Paktes" bezüglich möglicher Durchmarschlinien entlang der Donauachse in Richtung Bayern, während die zweite Stoßrichtung aus Ungarn nach Oberitalien bis auf kleinere Richtungsverlagerungen gleich blieb. Eine Kartenskizze des angenommenen und nach Zerfall des WAP bestätigten Szenarios aus den 1980iger Jahren siehe hier...
 
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