Dazu auch ein Bericht im
DERS
TANDARD:
Rechtzeitig für den Heimaturlaub ist ein besonderes Buch für zeitgeschichtliche Wanderungen erschienen
– auf den Spuren von Opfern und Tätern des NS-Regimes, Widerstandskämpfern und Befreiern
"Sehnsucht habe ich nach Euch und den Bergen", schrieb die 23-jährige Rosa Hoffmann einst in ihrem Abschiedsbrief. 77 Jahre später wurde er zum Leitmotiv eines Wanderführers der besonderen Art, den der STANDARD-Journalist und Bergfex Thomas Neuhold und der Historiker Andreas Praher nun im Anton-Pustet-Verlag herausgebracht haben. Die kommunistische Widerstandskämpferin Hoffmann aus der Stadt Salzburg schrieb diese Zeilen, bevor sie in Berlin-Plötzensee im März 1943 enthauptet wurde.
"Widerstand, Verfolgung, Befreiung – Zeitgeschichtliche Wanderungen" heißt das 248 Seiten starke Buch mit 35 historischen Wanderungen und Spaziergängen von einer bis zu acht Stunden. Die meisten von ihnen führen durch das Land Salzburg, einige auch durch Oberösterreich, Südostbayern und das Ausseerland.
Das Besondere an diesem Buch: Es ist ein politisches Buch und gleichzeitig ein praktikabler Wanderführer mit Karten, Ausrüstungs- und Einkehrtipps und ganz genau beschriebenen Routen, die jeweils einer Geschichte als Themenstrecke angehängt sind.
Die Meisterebenalm, wo sich "Bibelforscher" und Wehrdienstverweigerer Leopold Engleitner versteckte.
Foto: Thomas Neuhold
"Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!", schreiben Neuhold – selbst Sohn, Neffe und Enkel von steirischen Widerstandskämpfern – und Praher in ihrem Vorwort. In den drei Jahren Arbeit am Buch konnten die beiden nicht ahnen, dass es in einer Zeit erscheinen würde, in der täglich für den Urlaub in der Heimat geworben wird.
Durch die Landeshauptstadt führen neben dem einstündigen Spaziergang auf den Spuren Hoffmanns und ihrer Genossen auch eine Stefan-Zweig-Wanderung über den Kapuzinerberg, wo der Schriftsteller im Paschinger Schlössl lebte, und eine Route in den Stadtteil Leopoldskron-Moos, wo hunderte Sinti, darunter viele Kinder, in einem Lager eingesperrt waren, bevor sie in KZs deportiert und ermordet wurden.
Unbekannte Orte
Hauptsächlich aber geht es in die Berge. Bei der Auswahl ihrer Geschichten setzten Neuhold und Praher bewusst nicht nur auf bekannte wie jene Franz Jägerstätters, sondern erzählen auch von Menschen und Orten, die noch weitgehend unbekannt sind. Dabei werden alle Facetten der Verfolgung, aber auch Schicksale von Befreiern und die Jagd auf Täter nach dem Krieg behandelt.
Der "Bibelforscher" bzw. Zeuge Jehovas Leopold Engleitner versteckte sich auf der Meisterebenalm. Wer seinem Weg folgt, sieht den Attersee von hoch oben. Bei einer vierstündigen Wanderung zum Ursprung der Salzach lernt man den bisher wenig bekannten Hilfsarbeiter und Widerstandskämpfer Ernst Pikes aus Wald im Pinzgau kennen.
Atemberaubende Fluchtgeschichten
Der Kommunist konnte nach mehreren Inhaftierungen 1943 fliehen und überlebte teils durch Hilfe der Bevölkerung versteckt in den Bergen. Besonders atemberaubend sind die Fluchtgeschichten vom Salzkammergut-Partisanen Sepp Plieseis – aus dem KZ Hallein über den Pitschenberg.
Sepp Plieseis (vorne) und Mitstreiter nach dem Krieg in Sicherheit 1946 im Toten Gebirge.
Foto: Verlag Anton Pustet
Ebenso filmreif ist die Geschichte von vier aus Österreich stammenden britischen Geheimagenten, die als Fallschirmspringer bei Schlechtwetter im Höllengebirge abgeworfen wurden und sich erst gegenseitig finden mussten, bevor sie Jagd auf Joseph Goebbels machen konnten.
Ordensfrau und Priester
Im Pongau trifft man auf die bekannte Geschichte der Ordensleiterin Anna Bertha Königsegg, die sich bei Schwarzach offen gegen die NS-Euthanasie und schützend vor ihre Patienten stellte. "Ihre" Strecke führt von St. Veit auf den Hochglocker hinauf. Zwei widerständige Priester finden auch Eingang ins politische Wanderbuch: Balthasar Linsinger versteckte und rettete fünf jüdische Kinder in seiner Pfarre in Großarl, der Bramberger Pfarrer Andreas Rieser wurde als Regimekritiker denunziert und überlebte die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau. Nahe seiner Heimatpfarre im Pinzgau, der er noch bis 1966 vorstand, findet man den idyllischen Karsee am Wildkogel.
Auch die Strecke von rund 5.000 Juden, die 1947 über den Krimmler Tauern nach Süden und weiter nach Palästina flohen und denen regelmäßig im Alpine Peace Crossing gedacht wird, fehlt natürlich nicht.
Im Salzkammergut hielten sich während des Zweiten Weltkriegs viele Widerstandskämpfer auf, danach verschanzten sich dort zwei der schlimmsten Kriegsverbrecher der Geschichte: Ernst Kaltenbrunner und Adolf Eichmann.
Foto: Verlag Anton Pustet
Kaltenbrunner wurde im Mai 1945 auf der Wildenseealm, Eichmann auf einer Alm bei Altaussee verhaftet. Eichmann gelang aber noch einmal die Flucht, er wurde erst 1960 vom israelischen Geheimdienst in Argentinien wieder aufgespürt.
Besonders berührend ist die Geschichte des 17-jährigen Italieners Giuseppe Groppo, der 1944 als einer von 6.974 Zwangsarbeitern in den Hohen Tauern im Kraftwerksbau arbeiten musste. Groppo war 1943 in seiner Heimat wegen der Faschisten in den Untergrund gegangen.
Jene Stelle, wo der 17-jährige Italiener Giuseppe Groppo starb.
Foto: Thomas Neuhold
Als ihn die Soldaten von zu Hause verschleppten, rief er seiner Mutter zu, sie solle sich nicht sorgen, er sei sicher bald zurück. Er blieb 70 Jahre verschollen. Ihm gelang zwar die Flucht aus dem Lager Kaprun, doch er irrte schlecht ausgerüstet im Gebirge umher, stürzte ab und verhungerte oder erfror. Seine Leiche wurde 1944 von zwei blumenpflückenden Mädchen entdeckt, doch erst 2014 konnte der Historiker Rudolf Leo aufklären, dass der Tote der in der Provinz Vicenza vermisste Groppo war.
Es kam zu einem Treffen mit einem der blumenpflückenden Mädchen von einst und Neffen von Groppo, später wurde eine Gedenkfeier veranstaltet. Dank des Buches kann man nun nordöstlich von Fusch an der Glocknerstraße zweieinhalb Stunden bis zu jenem Ort gehen, wo Giuseppe Groppo ganz alleine starb.
(Colette M. Schmidt, 3.8.2020)
Ein antifaschistisches Wanderbuch - derStandard.at