Enthüllungsbuch über das Untertauchen des ehemaligen steirischen Gauleiters S. Uiberreither

josef

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Unfassbares Doppelleben
Wie NS-Kriegsverbrecher Sigfried Uiberreither 37 Jahre lang untertauchen konnte
Der Historiker Stefan Karner forschte jahrelang über das mysteriöse Verschwinden des steirischen Reichsstatthalters und legt nun ein minutiös recherchiertes Enthüllungsbuch vor

Der steirische Gauleiter und Reichskommissar Sigfried Uiberreither war einer der mächtigsten Nazis in Österreich. Nach 1945 schützte ihn ein verstecktes Leben unter falscher Identität vor Verfolgung – bis zu seinem Tod 1984.
Weltbild / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Einige der grausamsten Endphaseverbrechen des Nationalsozialismus finden vor 80 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Steiermark und des Burgenlands statt. Am bekanntesten ist das Massaker von Rechnitz, das am 24. und 25. März 1945 begangen wird. In der Nacht auf Palmsonntag werden dort rund 200 vor allem jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn erschossen, die für den Bau des Südostwalls zur Abwehr der Roten Armee zwangsverpflichtet worden sind.

Mitverantwortlich für die Errichtung dieser letztlich wirkungslosen Verteidigungsstellung ist Sigfried Uiberreither, seit 1938 Gauleiter und Reichsstatthalter der Steiermark sowie seit 1942 für diese Region zuständiger Reichsverteidigungskommissar. Der studierte Jurist und Burschenschafter, der beim "Anschluss" 1938 noch nicht einmal 30 Jahre alt ist, glaubt bis zuletzt an den "Endsieg". Entsprechend unbarmherzig ist sein Umgang mit den für die Bauarbeiten zwangsverpflichteten Ungarn.

Verbrechen im Frühjahr 1945
Mit dem Massaker in Rechnitz hat er zwar nichts zu tun, doch mit zahllosen anderen Morden am Ende der NS-Schreckensherrschaft: So verfügt er zur Steigerung der Arbeitsleistung, dass für jeden geflohenen jüdischen Zwangsarbeiter zehn andere zu erschießen seien. Als es Ende März zur "Evakuierung" der tausenden ungarischen Juden kommt, werden diese auf Geheiß Uiberreithers unter unmenschlichen Bedingungen ins KZ Mauthausen getrieben. Bei den berüchtigten Todesmärschen sterben mindestens 600 von ihnen allein in der Steiermark, viele davon durch Exekutionen am Straßenrand.

Ein ähnliches Schicksal erleiden viele Insassen von steirischen KZ-Außenlagern. Dazu ordnet Uiberreither noch Anfang April 1945 die Hinrichtungen von Regimegegnern an, ohne das Urteil der Standgerichte abzuwarten. Zu den letzten Opfern, die am Abend des 3. April in der SS-Kaserne Graz-Wetzelsdorf exekutiert werden, gehört eine Gruppe um den Widerstandskämpfer Rudolf Hübner sowie die Juristin Julia Pongračič, die in der Behörde des Reichsstatthalters arbeitete. Ihre Leichen werden in einem Bombentrichter am Feliferhof verscharrt.


Bericht über die Hinrichtung von Dr. Julia Pongračič und weiteren Widerstandskämpfern in der "Grazer Volkszeitung" vom 15. Mai 1945.
Anno / ÖNB

Erst am 8. Mai, unmittelbar vor dem Einmarsch der Roten Armee in Graz, setzt Uiberreither seinen gemäßigteren Stellvertreter Armin Dadieu ein, um für die Machtübergabe zu sorgen und um selbst das erste Mal unterzutauchen. Während seine Familie – Gattin Käte, drei Söhne und Schwiegermutter Else Wegener – im obersteirischen Dorf Kleinsölk untergekommen ist, ist Uiberreithers Flucht nach einem Monat am Neumarkter Sattel zu Ende.

Die drohende Auslieferung
Er wird im Juni von den britischen Behörden festgenommen und mit seinem Kärntner Gauleiterkollegen Friedrich Rainer an wechselnden Orten interniert, zunächst in Klagenfurt, dann als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, schließlich in Dachau. Ein Verfahren droht dem Kriegsverbrecher nicht nur durch die britische Militärverwaltung in Österreich, sondern auch in Titos Jugoslawien. Als Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark ist Uiberreither ab 1941 für die brutale und durch Schädelvermessungen auch rassistisch legitimierte Germanisierungspolitik verantwortlich gewesen, die zur Umsiedlung tausender Sloweninnen und Slowenen führte – und zur Erschießung hunderter Zivilpersonen.

Nachdem Friedrich Rainer im Frühjahr 1947 von Dachau nach Jugoslawien ausgeliefert worden ist, wo ihm der Prozess gemacht wurde, muss auch Uiberreither ein ähnliches Schicksal befürchten. Er plant die Flucht aus dem Lager, die am 10. Mai 1947 auch gelingt. Österreichische Zeitungen berichteten zwar darüber. Doch die Aufregung hielt sich in Grenzen, und bald verlieren sich die Spuren des Kriegsverbrechers.

Gut gestreutes Gerücht
Anfang der 1950er-Jahre taucht dann das Gerücht auf, Uiberreither sei – wie Armin Dadieu und viele andere hochrangige Nazis – über eine der Rattenlinien nach Südamerika geflüchtet: Die US-Geheimdienste hätten ihn ziehen lassen, weil er den US-Amerikanern im Tausch den Nachlass seines verstorbenen Schwiegervaters Alfred Wegener zukommen ließ, des berühmten Grönlandforschers und Entdeckers der Kontinentalverschiebung. Allzu intensiv wird fortan nicht mehr nach ihm gefahndet, um es freundlich zu formulieren.

1971 vermeldet der spätere STANDARD-Chefredakteur Gerfried Sperl in der Kleinen Zeitung den Tod Uiberreithers, der in Bolivien gestorben sei. Der argentinische Journalist Uki Goñi wiederum "bestätigt" in seinem Buch The Real Odessa (orig. 2002), dass Uiberreither unter dem Pseudonym Armin Dadieux in Argentinien gelebt habe. Und selbst noch jener investigative Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der 2021 erstmals den maßgeblichen Informanten für die Enttarnung Adolf Eichmanns nennt, erwähnt Uiberreither als einen der nach Argentinien entkommenen Nazi-Verbrecher.

Doch spätestens seit 2008 hätte man es besser wissen können. Da offenbarte nämlich ein Text im steirischen Magazin Korso schier Unglaubliches: Der gesuchte steirische Kriegsverbrecher Uiberreither hatte unter falschem Namen völlig unbehelligt bis zu seinem Tod Ende 1984 in der deutschen Stadt Sindelfingen gelebt, gemeinsam mit Frau, Schwiegermutter und vier Söhnen.

Einer, der schon früh von Uiberreithers Tod in Sindelfingen erfuhr, war der Historiker Stefan Karner. Der seit 2018 emeritierte Professor und frühere Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz hatte bereits 1986 von seinem Kollegen Manfried Rauchensteiner die knappe Information erhalten. Fast vier Jahrzehnte später und nach jahrelangen intensiven Recherchen liegt nun Karners umfangreiche Biografie über Uiberreither vor, die auf über 500 Seiten minutiös die zwei Leben des steirischen Gauleiters rekonstruiert – und wie er 37 Jahre lang untertauchen konnte.

Im ersten Teil zeichnet Karner, der viele maßgebliche Publikationen über die NS-Zeit in der Steiermark vorlegte, zunächst noch einmal die steile NS-Karriere des studierten Juristen und Burschenschafters nach. Der Historiker beschreibt Uiberreither, der mit gerade einmal 30 Jahren zum jüngsten Gauleiter im Deutschen Reich wird, als intelligent, kulturaffin und asketisch, aber auch als überheblich, jähzornig und unbeherrscht gegenüber den meisten seiner Kollegen.


Gauleiter Sigfried Uiberreither (Mitte) regierte in der Steiermark "mit eisener Hand", wie Stefan Karner schreibt. Sein Stellvertreter Armin Dadieu (links) war deutlich moderater; rechts: Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge.
Fürböck / Privatbestand Stefan Karner

Die 1939 erfolgte Heirat mit der Gelehrtentochter Käte Wegener, einer Jungmädel-Führerin, trägt zum weiteren sozialen Aufstieg bei und macht ihn zum Schwager des Tibetforschers und NS-Anhängers Heinrich Harrer, der mit einer anderen Wegener-Tochter verheiratet ist. Karners Recherchen liefern auch zu diesem ersten offiziellen Leben und seiner Herrschaft "mit eiserner Hand" viele neue Fakten und dokumentieren Uiberreithers offensichtliche Widersprüchlichkeit: Antisemitische Ausfälle und Tiraden gegen Juden sind laut Karner kaum bekannt. Die Massenmorde im KZ Mauthausen kritisiert er und riskiert damit sogar einen Streit mit Heinrich Himmler.

Geheime Nazi-Netzwerke
Völlig neu sind dann aber die Erkenntnisse zum Untertauchen Uiberreithers und seiner Familie 1947. Entscheidend für das Gelingen der Flucht und des spurlosen Verschwindens sind Kontakte, die er während der Internierung zu anderen Nazis knüpft, vor allem zu den aus Tirol stammenden Brüdern Hans und Hartmann Lauterbacher. Letzterer hat früh beste Verbindungen zum US-Geheimdienst CIC und ist für die völlig von Nazis unterwanderte Organisation Gehlen tätig, aus der später der Bundesnachrichtendienst hervorgeht.

Dieses weitläufige Nazi-Netzwerk hilft mit, dass die Tarnung nicht auffliegt, und die eigene Schwiegermutter streut erfolgreich das Gerücht der Flucht Uiberreithers nach Südamerika. Der nur zu Beginn intensiv gesuchte Kriegsverbrecher kommt stattdessen bei der Kühlgerätefirma Bitzer in Sindelfingen unter, rund 15 Kilometer südwestlich von Stuttgart. Auch dieser Kontakt entstand durch einen Haftkameraden.

Zwei Leben zu je 37 Jahren
In Sindelfingen decken nicht nur der Firmenbesitzer, sondern auch der Bürgermeister und der evangelisch-pietistische Pfarrer Uiberreithers neue Identität: Er heißt fortan Friedrich Schönharting, geboren 1906 in Breslau. Mit dieser Verwandlung gelingt es ihm, sein erstes verbrecherisches Leben vergessen zu machen, sich eine zweite, erfolgreiche Existenz als Firmenmanager aufzubauen und sich 37 Jahre lang der Verfolgung zu entziehen. Die Familie macht diszipliniert mit, Frau Käte wird zu einer beliebten Musiklehrerin, ihre vier begabten Söhne machen später als Wissenschafter und/oder Unternehmer Karriere.

Diese buchstäblich unfassbare Geschichte der zwei Leben Uiberreithers, die jeweils 37 Jahre lang dauern, rekonstruiert Karner in vielen penibel recherchierten Details, anhand zahlloser Originalquellen und mit einer Vielzahl von Fotos und Illustrationen. Der Autor ruft damit – 80 Jahre nach Kriegsende – einmal mehr die Schrecken der NS-Herrschaft und insbesondere die Grausamkeit der Endphaseverbrechen in Erinnerung. Nicht zuletzt offenbart sein Buch auf spannende Weise, wie lange und erfolgreich Nazi-Netzwerke in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft ihresgleichen vor einer gerechten Bestrafung schützten.
Klaus Taschwer, 27.3.2025)

Das Buch:

Die zwei Leben Uiberreithers auf dem Cover des Buchs. Oben: Uiberreither mit Hitler 1941 im heutigen Maribor, unten: mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter und den vier Söhnen Mitte der 1950er-Jahre in Sindelfingen.
Leykam


Stefan Karner, "Gauleiter Uiberreither. Zwei Leben. Gesucht als Kriegsverbrecher – gelebt in Deutschland".
Leykam, Wien 2025
512 Seiten.
Wie NS-Kriegsverbrecher Sigfried Uiberreither 37 Jahre lang untertauchen konnte
 
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