Filmprogramme aus Österreich von 1896 bis 2020 systematisch aufgearbeitet

josef

Administrator
Mitarbeiter
#1
Kinogeschichte zum Nachblättern
1609186166517.png

Was spielt es heute im Kino? Leider nichts – aber das Programm der letzten 125 Jahre Kinogeschichte gibt es jetzt nachzulesen: In Zusammenarbeit mit dem Filmarchiv Austria hat der Filmhistoriker Herbert Wilfinger die Geschichte des Filmprogramms systematisch aufgearbeitet. Diese Programme erweisen sich als kulturgeschichtliche Quellen ersten Ranges, die so manches kuriose Detail preisgeben.
Online seit heute, 16.45 Uhr
Teilen
„Die Frauen hatten den Vorteil, die konnten das Filmprogramm im Handtasch’l mitnehmen“, sagt Wilfinger gegenüber ORF.at. „Die Männer hätten es für die Rocktasche falten müssen – also haben sie es mit der Post bestellt.“ So begründet er, dass das akribische Sammeln von Filmprogrammen nach Nummern heute ein fast rein männliches Phänomen ist. Jedenfalls sind die Programme heute ein Kuriosum, das Wilfinger, seit 1996 auch selbst Gestalter von Filmprogrammen, persönlich am Herzen liegt.

Er hält damit eine Tradition am Leben, die zu den Anfängen der Filmgeschichte zurückweist: Am 28. Dezember 1895 fand im Keller des Pariser Grand Cafe erstmals eine öffentliche Filmvorführung statt. Es gab es zehn Kurzfilme zu sehen, die zusammen 20 Minuten dauerten. An dem historischen Ereignis nahmen neben Filmpionier Georges Melies nur 32 Zuschauer teil.

Orientierung und wertvolle Quelle
Schon im Jahr darauf wurden in Österreich begleitende Filmtexte herausgegeben, die in den Kinos auflagen, Informations- und letztlich Werbetexte. Anfangs waren das keine reinen Filmtexte, sondern Kinospielpläne, weil es zu Beginn ja nur kurze Filme gab, so Wilfinger: „Der Vorläufer waren weniger die Theater- und Opernprogramme, sondern eher Programme von Variete und Zirkus, in der Form der Abfolge der Programmnummern.“

Fotostrecke mit 13 Bildern
1609186303233.png
Kärntner Kino

Illustrierter Film-Kurier

Illustrierter Film-Kurier

Illustrierter Film-Kurier

Illustrierter Film-Kurier

Filmarchiv Austria

Illustrierter Film-Kurier

Illustrierter Film-Kurier

Neuer Film-Kurier

Neuer Film-Kurier

Neuer Film-Kurier

Filmarchiv Austria

Filmarchiv Austria

Da stand oft nicht mehr als „Komödie – zum Totlachen“ oder „Drama – hochdramatisch“, die Filmtitel waren großteils niemandem bekannt. Ab 1911 ging man dazu über, einen Umschlag zu gestalten, in den Zettel zu den einzelnen Filmen eines Kinoabends gelegt wurden. „Während der Stummfilmzeit ist zu jedem Film ein Programm erschienen, weil die Kinobesitzer gesagt haben, wenn das Publikum den Inhalt nicht liest, versteht es den Film nicht.“ Schließlich war das Medium Film etwas Neues für das theatergewöhnte Publikum – und anfangs gab es noch keine erklärenden Zwischentitel.

„Außerdem hat die Zensur auch herumgeschnipselt“, so Wilfinger – erst eine Inhaltsangabe konnte beim Verständnis der Handlung helfen. Aus diesem Grund sind Filmprogramme aus den 1910er Jahren heute eine unschätzbare Primärquelle: Nicht selten sind diese Programmzettel der einzige Nachweis, dass ein Stummfilm überhaupt existiert hat. „Oft kennen auch die amerikanischen Filmhistoriker den Filminhalt nicht, und wir können die Handlung aufgrund der Filmprogramme ausführlicher wiedergeben oder vervollständigen.“

Massenmedium im Sonderformat
Später wurden die Programme zu den bis heute existierenden vierseitigen bebilderten Filmprogrammen, oft kunstvoll gestaltet und in verschiedenen Kleinverlagen hergestellt. In den 30er Jahren war das Filmprogramm ein erfolgreiches Massenmedium im Sonderformat – ein historisch bisher wenig erschlossener Aspekt der Alltagskultur, mit dem sich Wilfinger bereits seit 30 Jahren befasst.

Er selbst, Cineast aus Leidenschaft und ursprünglich Bauingenieur, hat im Laufe der Jahrzehnte an die 20.000 Programme gesammelt. Gemeinsam mit der Sammlung des Filmarchivs Austria ist das die wahrscheinlich weltweit umfangreichste Sammlung ihrer Art, die Wilfinger nun mit dem zweibändigen Grundlagenwerk „Kino zum Mitnehmen – Filmprogramme in Österreich 1896–2020“ erstmals aufgearbeitet hat. Die großzügig illustrierte Publikation ist nicht nur filmhistorisch bedeutend, sondern zugleich ein hochvergnüglicher Spaziergang durch 124 Jahre Film- und Kinogeschichte.

Liebhaberstücke in Kleinstauflage
Auch kleine und größere Kuriositäten lassen sich an Filmprogrammen ablesen, etwa bei „Casablanca“, in dem Conrad Veidt in der 1947 angelaufenen Originalversion den Nazi-Offizier Major Strasser spielt. „In der deutschen Fassung, die in den 50er Jahren ins Kino gekommen ist, fehlt die Figur des Major Strasser komplett, und das ist auch am Filmprogramm nachzuvollziehen“, so Wilfinger – an das unbequeme Faktum, dass Nazis real existieren, wollte man das deutschsprachige Publikum lieber nicht erinnern.

Inzwischen haben die Filmprogramme, die Wilfinger seit fast 25 Jahren in vier Reihen mit unterschiedlichen Schwerpunkten selbst gestaltet, nur noch ein Liebhaberpublikum, etwa 200 Abonnenten verbleiben. Auch im Coronavirusjahr 2020, wo nur etwa halb so viele Filme wie regulär im Kino gestartet sind, ist Wilfinger den Filmprogrammen treu geblieben: „Ich habe viele Programme gemacht zu Filmen, die anders als geplant nie einen Kinostart erlebt haben“ – darunter zuletzt David Finchers „Mank“, der auf Netflix zu sehen ist. Wilfinger ist unverdrossen und glaubt ans Kino: „Es wird weiterproduziert.“

28.12.2020, Magdalena Miedl, ORF.at

Links:

Filmarchiv Austria
Herbert Wilfinger: Kino zum Mitnehmen. Filmprogramme in Österreich 1896–2020.
2 Bände, Verlag Filmarchiv Austria, 2020, 1.200 Seiten, 49,90 Euro.
Filmprogramme: Kinogeschichte zum Nachblättern
 
#2
Weil ich hier gerade "Ekstase" sehe:
dieser Film ist für uns interessant, weil die Haupdarstellerin (Hedy Kiesler, alias Hedy Lamarr) die damalige Frau des Hirtenberger (Patronenfabrik) Eigentümers Mandl war und später in den USA ein Patent hielt für z.B. Signalsteuerung für Torpedos oder mobile Telefonie.
Ihr Konterfei war auch auf der Verkaufsbox von Corel Draw (Software zum Zeichnen) zu sehen.
In einer Doku sagte sie auch sinngemäß: "sie hatte damals beim Dreh zu Ekstase keine Ahnung von den Zoomfähigkeiten der Kameras und hatte mit Nahaufnahmen nicht gerechnet".

Die meisten Dinge kann man ja dazu im Internet - da gibt es jede Menge, auch von ihrem Sohn - nachlesen. Im Anno steht zu dieser Zeit "sensationeller Erfolg bei den Kinos".
 
#4
Danke Josef!

Anmerkung: der Link zeigt nur 1/3 des Films, inkludiert die "erotischen" Szenen.
Da sieht man auch gut, wie mit Symbolen gearbeitet wurde, z.B. die rauchende Frau, die großformatige Gesichtsaufnahmen oder auch die Pferde im Hintergrund, welche sich aufbäumen usw.
Obwohl nur ca. 100 Jahre zwischen dem Film und unserer Gegenwart liegen, kann man sich nicht vorstellen, mit welchem geringen Wissensstand und Rechten die damaligen normalen Zeitgenossen ausgestattet waren.
Dieser Film war ja ein Kassenschlager in der damaligen Zeit.

2 1933.PNG Film Zeitung 25 Feb 1933 Quelle Anno.PNG
 
#7
Ist eine gute Nachricht, in vielen Dokus über Lamarr kommt ihre positive Haltung zu ihrer früheren Heimat zum Ausdruck. z.B. hat sie Häuser im Alpenstil in den USA erbauen lassen (sieht einigermaßen surrealistisch aus in den Dokus).
Ihr Sohn wollte anscheinend diese Neigung seiner Mutter, nach ihrem Tode, "entsprechen".

Auch eine Neigung des offiziellen Österreichs ist es, erst Verstorbene so richtig zu würdigen.
 
Zuletzt bearbeitet:
#8
Nur zur Info:
Hier ist eine Übersicht über den Nachlass von Brigitte Hamann , der Autorin von "Hitlers Wien " und vieler Bücher über die Habsburger.
Ist interessant, was sich so alles in einem Nachlass befinden kann.
Der Nachlass Brigitte Hamann wurde von der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus 2016 aus Familienbesitz erworben.
 

Anhänge

#9
OT
Anekdote@Lamarr-Nachlaß: ich war damals im FAA tätig und bei der Anlieferung des Nachlasses im Augarten dabei - unzählige Kartons und viele Koffer mit Kostümen. "Star" und Grund für einen ganz unakademischen, betriebsinternen Auflauf war ein üppiges Bustier mit aufgenähten Brustwarzen...die schönste Frau der Welt wußte, wie frau sich in Szene setzt!
 
Oben