Historiker Marcello La Speranza: „Lost Places“: Das „Pompeji der Gegenwart“

josef

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„Lost Places“: Das „Pompeji der Gegenwart“
Popkultur trifft Wissenschaft: In Wien hat sich eine große Szene entwickelt, die verlassene Orte besucht. Ein bekannter Vertreter ist der Historiker Marcello La Speranza. „Wien heute“ durfte ihn zu einigen, spannenden „Lost Places“ begleiten.
Ein ehemaliger Supermarkt, zweimal abgebrannt, das Obergeschoss von Obdachlosen okkupiert. Nur die eisige Luft, die das Gebäude durchströmt, macht den Geruch gerade noch erträglich. „No worries“ steht auf dem Betonboden, der von Müll und Exkrementen überseht ist. Im Dach sind breite Löcher, an den Wänden gigantische Graffiti. „Wenn das kein Lost Place ist, was dann?“, fragt Marcello La Speranza mit funkelnden Augen.


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Der Historiker und Archäologe sieht es als „Berufung“, vergessene Orte wie diesen zu finden, Fotos davon zu machen, den Verfall zu dokumentieren. „Das ist das Pompeji der Gegenwart“, sagt er und meint es völlig ernst. La Speranza begann seine wissenschaftliche Karriere als Mitarbeiter im römischen Legionärslager Carnuntum in Niederösterreich. Anfangs hätten ihm die archäologischen Ausgrabungen noch Freude bereitet. Dann wurde das Gelände für den Tourismus freigegeben, kommerzialisiert.

„Jeder verlassene Ort ist ein ‚Lost Place‘“
„Meine Aufgabe war es, zerbrochene Blumenvasen im Sand zu vergraben, die dann von Schulklassen wieder ausgegraben wurden“, erzählt er. Für La Speranza kein ertragbarer Zustand. Heute, über zwanzig Jahre danach, ist er das Wiener Urgestein, wenn es um „Lost Places“ geht. Auch wenn er mit dem Begriff wenig anfangen kann. Er beschreibe eine Popkultur, keine wissenschaftliche Disziplin: „Die Popkultur bringt Aufmerksamkeit, schadet aber oft der historischen Forschung.“

Als „Lost Place“ könne jeder Ort bezeichnet werden, der vergessen wurde. Genaue Definition gebe es keine. Ob verwahrlost, ob gut erhalten, ob antik, alt oder frisch verfallen. „Dieser Platz hat seine Funktion als ‚Lost Place‘ in der Form, wie er stirbt, wie er vergeht, wie er von der Geschichte verschluckt wird“, sagt La Speranza über den ehemaligen Supermarkt, dessen Abriss optionslos scheint.


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Als „Pompeji der Gegenwart“ bezeichnet La Speranza den alten Supermarkt

Experte für Luftschutzbunker
Der Historiker mit Faible für Weltkriegsutensilien wühlt sich durch den vermeintlichen Müll diverser Epochen. Er hat Feldpost aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges aus dem Flakturm gerettet, in dem sich das Haus des Meeres befindet. Er archivierte verrostete Sirenen, Arzneiverpackungen, einen alten Puppenwagen. „Alles Schätze“, meint er, die ansonsten weggeschmissen worden wären. Er kennt wohl jeden Luftschutzbunker in Wien.

Zum Beispiel jenen, der in einem Getreidesilo am Alberner Hafen versteckt liegt. Im Keller, unter den Getreidespeichern, die seit 1939 in Betrieb sind. Eine Stiege führt zur Luftschleuse. Spinnfäden hängen meterlang bis auf den Boden, gleichen den Ästen einer Trauerweide. Der Bunker ist leer. „Es gab hier eine Gasschleuse, die die Kampfstoffe Grünkreuzgas und Gelbkreuzgas draußen gehalten hat“, sagt La Speranza. Die Hauseigentümer bestätigen das. Der Bunker musste im Zweiten Weltkrieg auch mehrmals verwendet werden.


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Der Historiker ist bestens über den Bunker im Getreidesilo informiert

Hype um „Lost Places“ in Wien
La Speranza ist begeistert darüber, dass der Silo noch immer intakt ist: „Gerade diese Symbiose aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kann so einen Platz befruchtend beeinflussen.“ Der Historiker hat über Orte wie diesen Bücher verfasst. Er hält Vorträge, findet immer neue Plätze, kooperiert eng mit dem Verein Berliner Unterwelten. In Wien gebe es leider keine vergleichbare Institution, meint er. Selbst die Unterweltführungen habe sich die Stadt unter den Nagel gerissen.

Es ist schwierig, im „Lost Places“-Hype noch Aufmerksamkeit zu bekommen. Vom Historiker über den Fotografen bis hin zum Hobbydetektiv - die Liste der Publikationen wird immer länger: „Wien streng geheim!“, „Geheimnisvolle Unterwelt in Wien“, „Verborgene Orte im Alten Wien“, „Unheimliches Wien“.


ORF/Michael Hammerl
La Speranza hat diese Luftschutzsirene aus dem Zweiten Weltkrieg archiviert

Nicht alles kann bewahrt werden
In seinem Brotberuf ist La Speranza deshalb Buchhändler. „Lost Places“ sind eine Leidenschaft, die nicht reich macht. Für den geborenen Wiener mit italienischen Wurzeln kein Grund, nicht mehr nach dem Vergessenen zu schauen. Im Herbst will er mit Forscherkollegen eine kleine Buchreihe herausbringen. Er wolle weiterforschen, jeden Wimpernschlag der Geschichte dokumentieren.

In einem abgebrannten Haus nahe dem Alberner Hafen findet er altes Porzellan. „Satan lebt in dir", hat jemand an die Wand geschmiert. Die Dachträger des Hauses sind verschmort. Zeitweise bröselt ein Stück Holz ab. „Es gehört viel mehr unter Denkmalschutz gestellt“, sagt La Speranza, fügt aber wissend hinzu: „Man kann natürlich nicht alles bewahren.“

Michael Hammerl, wien.ORF.at


Marcello La Speranza (Website)
Publiziert am 26.03.2018

















Fotos ORF/Michael Hammerl

http://wien.orf.at/news/stories/2902615/
 
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