Hunderte vor dem NS-Regime geflohene Österreicher dienten während des Zweiten Weltkrieges im Geheimdienst der US-Armee

josef

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Kreisler, Prawy und Co.
Psychologische Kriegsführung für die USA

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Mehrere hundert Österreicher haben im Zweiten Weltkrieg im Geheimdienst der US-Armee gedient: Sie wurden als deutschsprachige Geheimwaffen zu Propagandisten und Verhörprofis ausgebildet, um die Moral des Gegners zu schwächen. Zwei Historiker beleuchteten nun diese Österreicher, darunter Künstler, Exzentriker und Widerstandskämpfer. Sie kehrten in US-Uniform in ihr Geburtsland zurück.

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Die Österreicher, die sich nach biografischen Odysseen in den Diensten der US-Army wiederfanden, waren bunt gemischt. Darunter befanden sich konservative Ständestaatler genauso wie Anhänger der Sozialdemokratie und Kommunisten. Der allergrößte Teil war zuvor aus Österreich vor dem NS-Regime geflohen, viele davon Juden, und fand im Kampf gegen die Diktatur eine Aufgabe in der US-Armee. Sie seien „Widerstandskämpfer von außen“, so der Historiker Robert Lackner vom Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS).

Zusammen mit Florian Traussnig untersuchte Lackner umfangreich die Biografien der österreichischen Exilanten, die für den US-Geheimdienst gegen die Nazis kämpften. Lackner und Traussnig erkannten den biografischen Schatz, der „friedlich und aus österreichischer Sicht bislang unbeachtet im US-Nationalarchiv in College Park“ vor sich hingeschlummert habe. Daraus entstanden nach einem jahrelangen Forschungsprojekt zwei Bücher zum Thema (siehe Factbox).

Der Opferrolle entfliehen
In Camp Ritchie, einem Armeekomplex im Military Intelligence Training Center (MITC) in Maryland wurden die Männer im Zweiten Weltkrieg zu Kampfpropagandisten und Verhörspezialisten ausgebildet und hatten so „die Möglichkeit, der Schoah und der ihnen vom NS-Regime zugewiesenen Opferrolle zu entfliehen“, so Traussnig.
Das MITC versorgte die US-Armee mit Spezialisten, die Informationen über das Nazi-Regime und die Kriegsschauplätze sammelten und verteilten. Gefragt waren also Deutschkenntnisse und Spezialwissen. Die Hauptaufgaben der Österreicher lagen in den Befragungen von Kriegsgefangenen und in der Erstellung von Propaganda.

Biergarten in Maryland
Unter den Österreichern, die dem NS-Regime entkommen waren und nun Dienst in der US-Armee leisteten, waren illustre Persönlichkeiten, Intellektuelle, Künstler und Exzentriker. Der Wiener Kabarettist Georg Kreisler entwickelte Schärfe und Eloquenz auch in der Tätigkeit im Camp Ritchie. Der spätere „Opernführer der Nation“, Marcel Prawy, war 1938 nur durch eine List seines Chefs, des polnischen Startenors Jan Kiepura, über die Grenze des NS-Reichs gekommen. Kiepura schwindelte ihn aus Frankreich heraus ins neutrale Italien, später schaffte es Prawy in die USA. Prawy zog es in die Army, erst in der Field Artillery, dann kam er zum Geheimdienst, wo er im MITC zum Gefangenenverhör ausgebildet wurde.

Camp Ritchie konnte 500 Personen beherbergen, es gab ein Kino, Tennisplätze, Bowling und eine Kapelle. In dem Lager fanden von Juli 1942 bis September 1945 17 verschiedene Aus- und Weiterbildungen mit insgesamt 220 Klassen für unterschiedliche Zielgruppen statt. Das Herzstück des Programms war der achtwöchigen Basiskurs, der eine nachrichtendienstliche Grundausbildung, einen Spezialisierungsteil und Einsatzsimulationen im Feld beinhaltete. Die Inhalte sollten lebensnah vermittelt werden, daher wurde nicht nur mittels Schaubildern und Diagrammen gelehrt. Erbeutete Aufnahmen wie Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ wurden vorgeführt, eigens erstellte Theateraufführungen wurden dargeboten. Auch wurde im Lager ein ganzes deutsches Dorf samt Rathaus, Biergarten, Geschäften, Bank und Wohnhäusern nachgebaut. Man sollte sich gänzlich in den Feind hineinfühlen können.


Hoover Institution Archives
Das Flugblatt zur Schwächung der Moral des Gegners: Auch Österreicher wurden gezielt angesprochen.

Kaserne und Karneval
Eine eigene Einheit sollte die deutschen Soldaten möglichst realitätsgetreu darstellen. Das „führte insofern zu dem grotesken Resultat, dass die Farmer in der Umgebung des Camps inmitten der Blue Ridge Mountains jederzeit auf eine im Stechschritt marschierende, Deutsch sprechende Kompanie von Wehrmacht oder Waffen-SS in voller Bewaffnung stoßen konnten“, so Lackner. Auch die Verhöre wurden mittels Deutsch sprechender Soldaten simuliert, „mit der Perfektion alter Schmierenkomödianten“, wird der Zeitzeuge Hanus Burger zitiert. Es habe in Camp Ritchie – im Gegensatz zu anderen militärischen Räumen – viel Platz für Spielereien und Anarchisches gegeben, so Lackner. Selten seien Kaserne und Karneval derart eng miteinander verknüpft gewesen. Die MITC-Schüler – insgesamt gingen mehr als 19.000 Menschen aus der ganzen Welt durch diese Schule – nannten das Camp auch scherzhaft „Military Institute of Total Confusion“.

Die „Ritchie Boys“ sahen sich selbst auch innerhalb des US-Militärs als „die anderen“, Querdenker und Intellektuelle an. Prawy machte es „ganz stolz, nun zu den offiziell intelligentesten aller Soldaten zählen zu dürfen“. Prawy war als „Ritchie Boy“ in der Truppenunterhaltung eingesetzt, zusammen mit dem Kabarettisten Kreisler, der 1938 mit seiner Familie aus Österreich vertrieben worden war. Kreisler kam zur US-Army, nachdem er US-Staatsbürger geworden war.

Ein Zeitungsmann als Ausbildner
Zum legendären Camp Ritchie gehörte noch eine zweite, weniger komfortable Dependance: das „Camp Sharpe“ im nahen Gettysburg, rund 20 Kilometer entfernt. Das Lager war von einem „Schlammsee“ umgeben, es warteten statt angenehmer Arbeitsplätze und Unterhaltung nur die „elenden Baracken voller Spinnweben und Mäusedreck“. Hier wurden insgesamt rund 800 Männer allein in der Kampfpropaganda ausgebildet, darunter wohl 41 aus Österreich.

Sie verfassten Flugzettel, um deutsche Soldaten zur Aufgabe zu bewegen, oder betrieben Soldatensender. Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes sollten sie das geistige Leben in Deutschland reorganisieren, deutsche Zeitungen redigieren und Unterricht und Unterhaltung wieder unter demokratischen Vorzeichen in Gang zu bringen.

Namensgeber Sharpe
General George H. Sharpe kämpfte im US-Bürgerkrieg als Aufklärungsoffizier gegen die Südstaaten. Davor (1851–52) war er Sekretär der US-Gesandtschaft in Österreich.
Der Leiter von Camp Sharpe war der Österreicher Hans Habe, eine schillernde und exzentrische Figur. Habe wurde in der Monarchie 1911 als Janos Bekessy in Budapest geboren. Sein Vater war der umstrittene Zeitungsmodul Imre Bekessy, in einer Dauerfehde mit Karl Kraus verstrickt. Sohn Janos benannte sich im Zuge seiner eigenen publizistischen Karriere um, um seine Herkunft nicht zu offenbaren. Als Hans Habe deckte er 1931 auf, dass Adolf Hitlers Familienname in Wirklichkeit Schicklgruber lautete. Nach Einsätzen in der US-Armee in Italien und Nordafrika übernahm Habe die Ausbildung der „Psychokrieger“ gegen Hitler. Habe schulte sie darin, mittels psychologischer Kriegsführung die Moral des Gegners anzugreifen.

„Ei sörrender“
In ihren Botschaften an die Nazi-Soldaten sollte einerseits die militärische Überlegenheit der US-Armee hervorgehoben werden, die angeblichen Geheimwaffen der Nazi-Führung hinterfragt und Privilegien aufgelistet werden, sollte ein Soldat sich in Kriegsgefangenschaft begeben. Man versprach die sofortige Entfernung aus der Kampfzone, gute Kost, Versorgung im Spital, die Möglichkeit, Briefe nach Hause zu schreiben. Auch dürfe man „so schnell es geht“ nach dem Krieg in die Heimat zurückkehren.


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Der Passierschein versprach NS-Soldaten gute Behandlung bei Kapitulation

Der „Passierschein“-Flugblatttypus habe sich als besonders erfolgreich erwiesen, so Traussnig. Ein solcher Schein sei vielfach von deutschen Soldaten lange aufbewahrt worden. Er stellte für deutsche Soldaten eine Art Garantie- und Versicherungsschein für den Fall einer möglichen Kapitulation oder Desertion dar. Die Flugblätter waren nach psychologischen Mustern verfasst, Muster, die mittels Gefangenenverhören erstellt worden waren. Auch gab er mitunter wieder, was deutsche Soldaten auf Englisch sagen sollten, wenn sie aufgeben wollten, etwa „Ei sörrender“ („I surrender“ – „Ich kapituliere“).

„Weiße Propaganda“
Im Radio wurde das Begleitprogramm gesendet: Berichte über die gute oder zumindest faire Behandlung durch die US-Armee. Ein Grundstock an Vertrauen hatte sich die US-Seite auch durch die Art der Nachrichten gemacht, die sie an die gegnerischen Kämpfer schickte: Sie waren ehrlicher und realistischer gestaltet als die selbstmörderische Durchhaltepropaganda des NS-Regimes. Diese „weiße Propaganda“ der US-Armee sei „wegen ihres hohen Informationsgehalts von den feindlichen Empfängern vielfach akzeptiert oder zumindest respektiert“ worden, so Traussnig.

Wie der Weg der exilösterreichischen Verhörspezialisten nach dem Krieg verlief, war höchst unterschiedlich. Rund 1.000 MITC-Absolventen blieben in den USA und viele auch bei der Army. Manche arbeiteten als Übersetzer und Verhörsoldaten in Kriegsverbrecherprozessen, andere arbeiteten am Entnazifizierungsprozess, beim Wiederaufbau des Kultursektors und von Zeitungen mit. Der Großteil baute sich eine zivile Existenz in den USA auf.

Wiener GIs
Der Kabarettist und Komponist Kreisler war nach Kriegsende in Deutschland als Übersetzer tätig, verhörte etwa Julius Streicher. Später kehrte er zeitweise in die USA zurück und arbeitete im Filmbusiness. Erst 1956 kam er nach Wien zurück und entwickelte seine Bühnenkarriere samt schwarzem Humor und beißender Systemkritik weiter. In seinen Liedern und Wortmeldungen rechnete er immer wieder auch mit dem politischen und gesellschaftlichen Österreich ab, sich selbst bezeichnete der Anarchist als US-Staatsbürger, „auf keinen Fall bin ich Österreicher“, so Kreisler.

Prawy kam nach dem Krieg als Kulturoffizier wieder nach Wien – in der Uniform eines GI. Hier empfing er Orson Welles, der am Film „Der Dritte Mann“ arbeitete. Erst 1950 quittierte Prawy den Dienst bei den US-Streitkräften und wurde Schallplattenproduzent und Veranstalter von Musikabenden im Kosmos-Kino, später brachte er zum ersten Mal Musicals aus den USA auf den europäischen Kontinent – anfangs unter großem Protest des Publikums.

Militärisch gesehen sei diese Kampfpropaganda eine unbedeutende Nebenfront des Zweiten Weltkriegs gewesen, doch sei sie als „Widerstand von außen“ bemerkenswert. Es sei eine „Geschichte der Selbstermächtigung“, so der Historiker. Die Arbeit sei nicht nur gemacht worden, sondern „hat vereinzelt, aber doch, feindliche Kämpfer zur Aufgabe bewegt und so dafür gesorgt, dass ‚Hunderte Eimer Blut‘ nicht versickert“ seien.

Zwei Bücher zum Thema
  • Robert Lackner: Camp Ritchie und seine Österreicher, erschienen am 8. Juni, Böhlau.
  • Florian Traussnig: Die Psychokrieger aus Camp Sharpe, erscheint am 10. August, Böhlau.
Die beiden Historiker zählten knapp 500 Personen österreichischer Herkunft, die zu den mythenumrankten „Ritchie Boys“ gehörten, jenen, die in Camp Ritchie in Maryland ausgebildet worden waren. Es waren „intellektuell wendige, großteils junge Männer, die scharenweise aus dem ‚Dritten Reich‘ geflohen waren und als Neo-Amerikaner aufgrund ihrer Kenntnisse über den deutschen Feind, seine Mentalität, seine Kultur und seine Sprache als nachrichtendienstliche und propagandistische Schlüsselkräfte des US-Militärs eingesetzt wurden“.

06.07.2020, Caecilia Smekal, ORF.at

Links:
Kreisler, Prawy und Co.: Psychologische Kriegsführung für die USA
 
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