Israel und Gazastreifen - Berichte zum aktuellen Nahostkonflikt

josef

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#45
Fliegerabwehr
Von David's Sling bis Iron Dome: So funktioniert die israelische Raketenabwehr
Die Luftverteidigung der israelischen Streitkräfte ist wohl die raffinierteste der Welt und umfasst neben Raketen bald auch Laserwaffen

Der Iron Dome wehrt anfliegende Raketen im Nahbereich ab.
REUTERS/Amir Cohen

Iron Dome, David's Sling und Arrows: Die israelische Luftverteidigung ist eine verwirrende Ansammlung militärischer Fachbegriffe und ein Gemisch aus vielen Einzelsystemen. Dabei den Überblick zu behalten, ist gar nicht so einfach. Kein Wunder: Gemeinhin gilt die Fliegerabwehr Israels als die vielschichtigste, komplexeste, aber auch effektivste der Welt. Lückenlos ist sie dennoch nicht.

Die Arrow-Familie
Wie bei derartigen Abwehrsystemen üblich, setzen die israelischen Streitkräfte auf ein mehrschichtiges System, das anfliegende Objekte in unterschiedlichen Höhen in unterschiedlicher Entfernung abfangen kann. Diese gestaffelte Form der Verteidigung kann man durchaus mit einer Zwiebelschale vergleichen. An der äußersten Schicht steht naturgemäß das System mit der größten Reichweite und Höhe: die Arrow 3.

Diese 2017 erstmals eingesetzte Rakete soll ballistische Langstreckenraketen dort abfangen, wo sie am leichtesten zu treffen sind: wenn sie sich außerhalb der Atmosphäre an der Spitze des Bogens bewegen. Deshalb kann die Arrow 3 auch Höhen von bis zu 100 Kilometer erreichen. Der Arrow-3-Flugkörper besteht aus einem zweistufigen Feststoff-Booster mit einem abtrennbaren kinetischen Kill-Vehicle. Dabei kommt kein Sprengkopf zum Einsatz: Das Kill Vehicle steuert mit Schubdüsen auf das Ziel zu, rammt die anfliegende ballistische Rakete und zerstört sie dadurch.


So funktioniert die israelische Luftraumverteidigung.Grafik: DER STANDARD

Die Arrow 3 ist es auch, die für die spektakulären Bilder von grellen, violetten Explosionen am Nachthimmel verantwortlich ist. Dabei dürfte es sich um erfolgreiche Abfangmanöver im nahen Weltraum handeln. Schon im April wurden ähnliche Phänomene beobachtet. Das auf hebräisch "Hetz" genannte Raketensystem entstand aus einem US-israelischen Gemeinschaftsprojekt mit Unterstützung durch Boeing.

Mit Stückkosten von geschätzten drei Millionen US-Dollar ist die Arrow 3 auch die teuerste Abwehrwaffe im Arsenal der israelischen Luftverteidigung.

Deutlich billiger gibt es die darunterliegende Abwehrschicht in Form der Arrow 2. Diese Rakete ist größer und technisch nicht so fortschrittlich wie die Arrow 3, erfüllt aber im dennoch ihren Zweck in der Abwehr von ballistischen Kurz- und Mittelstreckenraketen. Die Arrow 2 soll feindliche Raketen in der oberen Atmosphäre bekämpfen – also in etwa 50 Kilometer Höhe. Die Arrow 2 fängt ihre Ziele auf einer vergleichsweise kurzen Distanz von etwa 100 Kilometern vom Abschussort ab. Sie erreicht etwa neunfache Schallgeschwindigkeit. Mit der Bodenstation kann eine Stellung gleichzeitig auf bis zu 14 Ziele feuern, wie aus den Zahlen des Missile Threat Program des Center for Strategic & International Studies hervorgeht.

Die Rakete verfügt über einen Splittergefechtskopf, der auf das Ziel ausgerichtet werden kann, um es möglichst zielgerichtet zu zerstören. Sollte die Rakete ihr Ziel verfehlen, wird der Gefechtskopf nach wenigen Metern gezündet, um das Ziel mit der ungerichteten Splitterwirkung möglichst zu zerstören.

Die Arrow 2 hat ihre Ursprünge im Golfkrieg und wurde im Jahr 2000 in Dienst gestellt. Sie gilt aber mittlerweile als Ablösekandidatin und soll in den kommenden Jahren durch die Arrow 4 ersetzt werden.

David's Sling
In Ergänzung zur Arrow-Familie kommt David's Sling oder auf hebräisch "Zauberstab" zum Einsatz. Das System kann anfliegende Raketen in einer Entfernung von bis zu 300 Kilometern in einer Höhe von 15 Kilometern abfangen. 2017 wurde es gemeinsam von Rafael Advanced Defense Systems (Israel) und Raytheon (USA) entwickelt und in Betrieb genommen. Der Zweck der mit dem System abgefeuerten Stunner-Raketen ist es, Ziele in geringen Flughöhen abzufangen.

Dabei kann muss es sich nicht zwingend um ballistische Flugkörper handeln. David's Sling kann auch gegen Marschflugkörper und Cruise Missiles eingesetzt werden, wenn sich diese im Konturflugmodus ihrem Ziel nähern. David's Sling wurde vor allem in Hinblick auf die Iskander-Raketen aus Russland und die chinesische DF-15 entwickelt. Auch bei den Stunner-Raketen handelt es sich um Hit-to-Kill-Waffen, die Rakete muss also direkt im Ziel einschlagen.

Die David's Sling wurde auch Mai 2023 eingesetzt, als 1100 Raketen vom Gazastreifen auf Israel abgefeuert wurden. Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben 96 Prozent der Raketen, die eine Bedrohung darstellten, abgeschossen. David's Sling verfügt über ein Feature, das in der modernen Fliegerabwehr immer wichtiger wird: Das System kann vorhersagen, wo Ziele einschlagen werden. Das wiederum macht Prioritätensetzung möglich: Schlägt eine feindliche Rakete ohnehin in der Wüste ein, wo sie keinen nennenswerten Schaden anrichtet, wird sie vom System als niedrige Bedrohung erfasst und nicht bekämpft. Wird jedoch ein Flugfeld oder eine dichtbesiedelte Stadt angegriffen, weist David's Sling dem Ziel eine hohe Priorität zu.


Eine Arrow 3 beim Start.
REUTERS/Amir Cohen

Damit sollen auch Sättigungsangriffe zumindest teilweise gekontert werden. Aktuell ist es noch häufig so, dass ein Angreifer in der Luft materiell im Vorteil ist: Er kann den gegnerischen Luftraum mit billigen Flugkörpern und Drohnen quasi Fluten, indem die Fliegerabwehr des Verteidigers überfordert wird.

"Billig" ist auch David's Sling nicht: Eine einzelne Stunner-Rakete kostet rund eine Million Dollar.

Iron Dome: die Kuppel
Im Nahbereich kommt der Iron Dome zum Einsatz, der auch eine der kostengünstigsten Varianten traditioneller Luftverteidigung gehört. Die Raketen des Iron Dome sind dabei mit einer Höchstgeschwindigkeit von Mach 2 im Vergleich zu den großen Varianten der Systeme David's Sling und Arrow bestenfalls halb so schnell. Dafür sind die Stückkosten mit 50.000 Dollar vergleichsweise winzig. Da aber üblicherweise zwei Raketen auf ein Ziel abgeschossen werden, werden die Kosten meist mit 100.000 Dollar angegeben, was immer noch nur ein Zehntel der Stunner aus David's Sling ausmacht.


Eine Werferbatterie des Iron Dome.
REUTERS/Hannah McKay

Der Aufbau einer Iron-Dome-Einheit ähnelt jenem der anderen Systeme: Eine Radarstation und ein Leitstand steuern bis zu vier Werferbatterien, die je 20 Abfangraketen beherbergen. Eine Iron-Dome-Einheit kann ein Gebiet von rund 155 Quadratkilometern verteidigen. Die genaue Flughöhe der Tamir-Raketen des Iron Dome ist nicht bekannt. Die diesbezüglichen Angaben variieren zwischen zehn und knapp 20 Kilometern.

Iron Dome wurde von den israelischen Firmen Rafael Advanced Defense Systems und Israel Aerospace Industries – mit Unterstützung der USA – entwickelt und 2011 in Betrieb genommen. Nach anfänglicher Kritik an dem System soll die Trefferquote laut israelischen Angaben bei rund 97 Prozent liegen. Auch Iron Dome verfügt über die Fähigkeit, Ziele automatisch zu priorisieren, ähnlich wie David's Sling.

Höchst experimentell: der Iron Beam
Im sehr nahen Bereich plant die israelische Armee den Einsatz einer Laserwaffe namens Iron Beam. Entwickler Rafael nennt Iron Beam das erste Hochenergie-Laserwaffensystem (High Energie Laser Weapons System, HELWS). Der 100-Kilowatt-Laser soll seinen Strahl auf die Größe einer Münze fokussieren können. Damit soll es möglich sein, nicht nur anfliegende Raketen und Drohnen, sondern auch Artillerie- und Mörsergeschoße zu zerstören. Dazu muss der Laser aber mehrere Sekunden im Ziel bleiben. Wie weit das System reicht, ist unklar. Hersteller Rafael macht keine genaueren Angaben und nennt nur "mehrere Kilometer".

Iron Beam soll in bestehende Systeme zur Luftverteidigung integrierbar sein. Das bedeutet, dass Leitstände und Radar etwa von Iron Dome auch für die Laserwaffe genutzt werden können. Energiewaffen gelten generell als vielversprechende Lösung in der Abwehr von Drohnen oder ähnlichen Bedrohungen. Noch unterliegen sie aber Einschränkungen, so auch der Iron Beam: Bei Regen, Smog oder Staub ist das System nicht einsatzfähig. Wenn es funktioniert, ist das System allerdings unschlagbar günstig: Ein "Schuss" kostet nur rund 3,50 Euro.
(Peter Zellinger, 3.10.2024)
Von David's Sling bis Iron Dome: So funktioniert die israelische Raketenabwehr
 

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#46
Militärtechnik
Der Iran will erstmals Fattah-2-Hyperschallraketen eingesetzt haben
Die angebliche iranische Superwaffe soll israelische Flugabwehrstellungen zerstört haben. An der Darstellung gibt es aber erhebliche Zweifel
2. Oktober 2024, 12:06

Eine Hyperschallrakete wird von Stellungen der Huthi im Jemen abgeschossen.
IMAGO/Wang Shang

Bei dem Raketenangriff des Iran auf Israel soll erstmals eine neue Hyperschallrakete zum Einsatz gekommen sein. Derartigen Waffen wird eine enorme Leistungsfähigkeit nachgesagt: Sie sind nicht nur unglaublich schnell, sie sollen von Radarsystemen unerkannt aus unerwarteten Richtungen zuschlagen können. Sämtliche Abwehrsysteme sollen gegen diese "Superwaffe" quasi nutzlos sein.

Iranische "Eroberer"
So stellte der Iran seine Fattah-1 (etwa: Eroberer) im Juni 2023 mit all den eingangs erwähnten Attributen vor. Die Rakete soll eine Reichweite von 1400 Kilometern haben und Geschwindigkeiten von Mach 13 bis 15 (16.000 bis 18.500 km/h) erreichen können. Damit wäre die Waffe in der Lage, jedes Abwehrsystem zu überwinden. Ab Mach 5 (also 6200 km/h, der fünffachen Schallgeschwindigkeit) spricht man von Hyperschall. Alles darunter wird als Überschall bezeichnet.

Umso größer war die Verwunderung, als wenige Monate später bereits die zweite Version der Waffe vorgestellt wurde. Neu waren ein Flüssigkeitsraketentriebwerk, das dabei helfen soll, die Geschwindigkeit zu regulieren. So sollte ein Maximum an Reichweite herausgeholt werden. Laut iranischen Medien hat die verbesserte Version eine Reichweite von 1500 Kilometern, also nicht wesentlich mehr als das Vorgängermodell. Bei der Vorstellung der Fattah-2 war noch nicht einmal klar, ob die Vorgängerin überhaupt funktioniert.


Die Fattah-1 wurde im Juni vorgestellt.
IMAGO/UPI Photo

Laut einer Analyse der New York Times könnte der Iran bei seinen Angriffen auf Israel am 1. Oktober 2024 Fattah-1-Raketen eingesetzt haben. Forscher haben Trümmer der Fattah-1 bei den vergangenen Angriffen auf Israel identifiziert. Ob die iranischen Hyperschallraketen tatsächlich ihr Ziel getroffen haben, ist unklar, weshalb die tatsächliche Effektivität der Waffe in der Fachwelt höchst umstritten ist.

Wie bei allem Kriegsgerät lässt sich auch bei Hyperschallwaffen trefflich über Definitionen streiten. Zynische Naturen könnten gar meinen, der Begriff "Hyperschall" werde spätestens seit der Ankündigung der russischen Kinschal inflationär verwendet und sei mittlerweile wenig mehr als ein Propaganda-Buzzword.

Superwaffen auf dem Papier
Hyperschallraketen haben auf dem Papier deutliche Vorteile gegenüber Interkontinentalraketen, wie sie Anfang der 60er-Jahre entwickelt wurden. Diese verfolgen eine elliptische Flugbahn. Nach dem Start dringen sie für kurze Zeit in den Weltraum ein und stürzen dann auf ihr Ziel zu. Derartige Raketen können schon beim Start von Abwehrsystemen wie jenen Israels erfasst werden. Da sie nur sehr eingeschränkt steuerbar sind, ändern ballistische Raketen ihre Flugbahn auch nicht maßgeblich. So lässt sich auf der Seite der Verteidiger das Angriffsziel vorhersagen, und die Rakete kann schon im Weltraum oder kurz nach Wiedereintritt in die Atmosphäre abgefangen werden. Zwar erreichen ballistische Raketen ebenfalls Geschwindigkeiten von Mach 20, sie gelten wegen ihrer eingeschränkten Manövrierbarkeit aber nicht als Hyperschallwaffen.

All diese Nachteile sollen Waffen wie die russische Avangard oder die iranische Fattah eben nicht haben. Die Idee: Die Rakete wird von einem Bomber gestartet, steigt dort auf und gibt ein sogenanntes Re-Entry-Vehicle frei. Dabei handelt es sich entweder um einen Gleiter oder eine weitere Rakete, die den Sprengkopf ins Ziel befördern soll. Dabei bleibt sie manövrierfähig und erreicht Geschwindigkeiten eines Vielfachen der Schallgeschwindigkeit. Das wiederum erschwert Abfangversuche.

Die zweite Stufe der Fattah-Rakete funktioniert genauso: Das manövrierfähige Wiedereintrittsfahrzeug bleibt dank des Flüssigkeitstriebwerks bis zuletzt manövrierfähig.

Hyperschallraketen waren und sind aber vor allem Propagandawaffen, denn in der Praxis tun sich allerhand Probleme auf. Der Luftwiderstand, der auf die Wiedereintrittsfahrzeuge wirkt, ist enorm, was die Beweglichkeit stark einschränkt. Dadurch entsteht enorme Hitze. Laut einem Artikel von David Wright und Cameron Tracy von der Union of Concerned Scientists für Spektrum der Wissenschaft sind an den Vorderkanten leicht Temperaturen von rund 2000 Grad Celsius möglich. Eine solche Hitzesignatur ist von Abwehrsystemen wiederum gut zu erkennen. Dazu kommt, dass Hyperschallwaffen nicht unbedingt schneller im Ziel ankommen als ballistische Raketen – eben weil sie die meiste Zeit in der bremsenden Atmosphäre verbringen.

Der Hype hält der Realität nicht stand
Einen deutlichen Dämpfer erhielt der Hype um Hyperschallraketen, nachdem bekannt geworden war, dass sie sehr wohl abgefangen werden können. Den ukrainischen Streitkräften ist es gelungen, eine russische Kinschal mit einer Patriot-Rakete abzufangen. Dazu kamen auch noch Berichte, wonach die vom Kreml hochgepriesenen Wunderwaffen einfach ihr Ziel verfehlten. In den USA hat man wegen all der Nachteile die Entwicklung von Hyperschallraketen bereits deutlich zurückgefahren. Auch in China soll es mittlerweile Bedenken geben, ob Waffen wie die Kinschal überhaupt irgendeinen Unterschied auf dem Schlachtfeld machen. Das könnte auch daran liegen, dass die Kinschal per Definition gar keine "echte" Hyperschallrakete ist, weil sie nicht in Lage ist, bei hohen Geschwindigkeiten effektiv zu manövrieren.


Propagandawaffe: Die Fattah soll Tel Aviv in nur 400 Sekunden erreichen, heißt es auf diesem Plakat in Teheran.
EPA/ABEDIN TAHERKENAREH

Im Iran ist man noch nicht in der Phase des Zweifelns an der Fattah-2 angekommen. Iranische Nachrichtenagenturen jubeln nun, eine Fattah-2 habe eine israelische Abschussvorrichtung für Arrow-2-Raketen zerstört. Neben der Behauptung, man habe im Zuge des Raketenangriffs auch 20 israelische F-35-Jets auf dem Boden vernichtet. Diese Angabe scheint angesichts der Tatsache, dass Israel nur 39 derartige Flugzeuge besitzt, doch eher unrealistisch. Genau wie die nahezu mythischen Fähigkeiten, die Hyperschallraketen nachgesagt werden.
(Peter Zellinger, 2.10.2024)
Der Iran will erstmals Fattah-2-Hyperschallraketen eingesetzt haben
 

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#47
7. Oktober 2023
Hamas-Massaker als „tiefe Zäsur“
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Am 7. Oktober 2023 haben Kämpfer der Terrororganisation Hamas Israel zu Wasser, zu Land und aus der Luft angegriffen. Beim schwersten Anschlag auf den israelischen Staat seit dessen Gründung wurden 1.205 Menschen getötet und 251 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Der Nahost-Experte Marcus Schneider sieht in den Ereignissen eine „tiefe Zäsur“, die Israel stark traumatisierte und einen zerstörerischen Krieg zur Folge hatte.
Online seit gestern, 23.47 Uhr
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Um 6.29 Ortszeit (5.29 MESZ) am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, der an diesem Tag zudem mit dem jüdischen Feiertag Simchat Tora zusammenfiel, registrierte die israelische Armee Tausende von Raketen, die aus dem Gazastreifen auf israelische Grenzgebiete abgefeuert wurden. Das israelische Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ war dem Ausmaß des starken Beschusses schnell nicht mehr gewachsen.

Gleichzeitig stürmten rund 1.200 Kämpfer der Hamas und verbündeter islamistischer Gruppierungen aus dem Gazastreifen auf Motorrädern, in Pick-up-Trucks und sogar in motorisierten Gleitschirmen über die Grenze in den Süden Israels. Mit Sprengstoff und Bulldozern durchbrachen sie den Zaun, der den Gazastreifen von Israel trennt, und verübten in einem beispiellosen Angriff auf fast 50 verschiedene Orte – darunter Armeestützpunkte rund um den Gazastreifen, Kibbuzim, die Stadt Sderot und das Supernova-Musikfestival – ein Massaker.

AP/Hatem Ali
251 Menschen wurden von der Hamas – manche bereits tot – als Geiseln genommen und in den Gazastreifen entführt

UNO sah Belege für Vergewaltigungen
Vielerorts war die Panik und Verwirrung groß, der Angriff kam für viele vollkommen überraschend. Allein beim Musikfestival töteten die Angreifer mindestens 370 junge Menschen. Jene, die überlebt haben, kämpfen auch nach einem Jahr noch mit ihren Erinnerungen. In den Kibbuzim und Ortschaften gingen die Angreifer von Tür zu Tür, töteten die Bewohnerinnen und Bewohner und brannten deren Häuser nieder.


Debatte
Nahost: Wie weitere Eskalation verhindern?



Einem Bericht der UNO vom März zufolge gab es zudem „berechtigten Grund zur Annahme“, dass es zu Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen an mindestens drei Orten gekommen ist. Das für die Untersuchung zuständige Team sichtete dafür mehr als 5.000 Fotos und 50 Stunden Videomaterial und führte 34 Interviews mit Zeuginnen und Zeugen durch.
„Bei den meisten dieser Vorfälle wurden Opfer einer Vergewaltigung anschließend getötet, und mindestens zwei Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Vergewaltigung von Frauenleichen“, hieß es in dem Bericht, der von der UNO-Sonderbeauftragten für sexualisierte Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, angefertigt wurde.

Israelische Armee traf nur langsam ein
Um 8.30 Uhr hatten die Angreifer sechs Militärstützpunkte entlang der Grenze gestürmt. Die Menschen in den überfallenen Kibbuzim mussten sich stundenlang allein wehren, da die Armee nur langsam zu Hilfe kam. Im besonders betroffenen Kibbuz Beeri trafen die ersten israelischen Soldaten „ab 13.30 Uhr“ ein, wie es in einem Bericht der Armee heißt. Erst um 16.15 Uhr konnte die Kontrolle über den Kibbuz vollständig wiedererlangt werden.

Gegen 18.00 Uhr gab die Armee bekannt, dass sowohl Zivilistinnen und Zivilisten als auch Soldatinnen und Soldaten in den Gazastreifen verschleppt wurden. Unter den insgesamt 251 als Geiseln genommenen Menschen wurden allein 44 auf dem Musikfestival und mindestens 74 aus dem 400-Einwohner-Kibbuz Nir Os entführt. Manche von ihnen waren laut israelischer Armee bereits tot, als die Angreifer sie in den Gazastreifen verschleppten.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Experte sieht „tiefe Zäsur“
Für Marcus Schneider von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut stellen die Ereignisse vom 7. Oktober „in der Tat eine tiefe Zäsur“ dar, „weil der Feind erstmals auf israelisches Territorium vorgedrungen ist“. Zudem stelle der Angriff auch eine Zäsur dar, weil diejenigen Institutionen, denen die israelische Bevölkerung am meisten vertraute (Armee und Geheimdienste, Anm.), völlig versagt hätten, das Massaker zu verhindern, sagt der Nahost-Experte im Gespräch mit ORF.at.


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In Israel seien mit dem Angriff vor allem Gewissheiten „massiv beschädigt“ worden, befand auch der Politologe Jan Busse gegenüber der AFP. Dazu gehöre vor allem das Versprechen der israelischen Regierung, für die Sicherheit ihrer Bevölkerung zu sorgen. Aus Angst vor weiteren Hamas-Attacken schlossen sich am 7. Oktober und in den Tagen darauf viele Israelis in ihre Häuser ein. Viele Straßen blieben menschenleer.
„Die Traumatisierung ist offensichtlich“, meint Schneider auch im Hinblick auf die israelische Gesellschaft. Die Angst sei als „Grundgefühl da, aufgrund der historischen Erfahrung der Schoah“. Schneider zufolge wird die Angst jedoch nun auch politisch gezielt geschürt und instrumentalisiert, um die Vergeltung zu rechtfertigen.

Netanjahu: „Befinden uns im Krieg“
Um 11.34 (Ortszeit) wandte sich Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am 7. Oktober in einer Fernsehsprache an seine Landsleute und erklärte: „Wir befinden uns im Krieg.“ Israel erklärte die Vernichtung der Hamas und die Befreiung aller Geiseln zu seinen wichtigsten Kriegszielen. Gleichzeitig startete man damit, Ziele im schmalen Gazastreifen – in dem fast 2,4 Mio. Menschen dicht gedrängt leben –, zu bombardieren.

AP/Hassan Eslaiah
Hamas-Anhänger jubeln auf einem brennenden Panzer auf der israelischen Seite des Grenzzauns zum Gazastreifen

Nach mehreren Evakuierungsaufrufen an die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen begann Israel am 27. Oktober seine Bodenoffensive. Bis dato wurden dabei nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums fast 42.000 Menschen getötet, ein Großteil von ihnen Zivilistinnen und Zivilisten. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden, die UNO stuft diese Zahl jedoch als glaubwürdig ein.

Geiseldeal in weiter Ferne
Rund 100 Geiseln befinden sich noch in der Gewalt der Hamas. 33 von ihnen sind nach israelischen Angaben tot. In Israel gibt es seit Monaten Massenproteste für die Freilassung der Geiseln und eine Waffenruhe in Gaza. Auch die internationale Gemeinschaft drängt angesichts der humanitären Lage in Gaza auf einen solchen Deal.

Ein Geiseldeal scheint jedoch im Moment in weiter Ferne – zu weit auseinander liegen die Standpunkte Israels und der Hamas. Schneider zufolge hätten sich beide Seiten – sowohl Israelis als auch Palästinenser – in „extreme Richtungen entwickelt“. Daher sei es auch so schwierig, einen Frieden zu erreichen, da es „grundsätzlich so gut wie keine Empathie für die jeweils andere Seite gibt“.

Zudem sei die Situation auch ein Jahr nach dem Massaker weiter „extrem gefährlich“, urteilt Schneider im Hinblick auf die Eröffnung einer zweiten Kriegsfront Israels mit dem nördlichen Nachbarn Libanon und dessen vom Iran gestützter Hisbollah-Miliz. Die Gefahr eines regionalen Flächenbrands sei allgegenwärtig.
07.10.2024, Florian Amelin, ORF.at/Agenturen

7. Oktober 2023: Hamas-Massaker als „tiefe Zäsur“
 

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#48
Nahost
Ein Jahr Krieg in Gaza: "Ich will, dass man uns als Menschen sieht"
Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen schildern ihren Alltag vor und nach dem Krieg – und ob sie nach einem Jahr noch Hoffnung haben

Palästinenser fliehen aus Gaza-Stadt in Richtung Süden. Im November gab es einen viertägigen Waffenstillstand – nun scheint ein Ende der Kämpfe in weiter Ferne.
AFP/MAHMUD HAMS

Ein Jahr dauert nun, zum Jahrestag des Hamas-Terrors, auch der von Israel in der Folge gestartete Feldzug im Gazastreifen an. Er hat die "Auslöschung" der Hamas zum Ziel, bedeutet aber für die Zivilbevölkerung entsetzliches Leid. UN-Sprecher Stéphane Dujarric bezeichnete die Lage in dem schmalen Küstenstreifen zuletzt als "mehr als katastrophal".

Diese oder ähnlich drastische Worte verwenden Hilfsorganisationen bereits seit Monaten. Sie sprechen unter anderem von kompletter Zerstörung, einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems und der gesamten Bevölkerung in Not. DER STANDARD hat fünf Menschen im Gazastreifen gefragt, wie sie das vergangene Jahr inmitten der humanitären Katastrophe erlebt haben, wie ihr Alltag vor dem Krieg aussah und welche Ängste und Hoffnungen sie nach einem Jahr Krieg haben.

Nada Hammad:
"Wenn der Krieg nicht endet, wird ihn niemand überleben"

Unser Leben war vor dem Krieg wirklich gut. Ich habe mit meinem vierjährigen Sohn bei meinen Eltern im Haus gelebt. Ich bin nach meiner Scheidung alleinerziehend und habe Geld als Übersetzerin und Lehrerin an einer öffentlichen Schule verdient. Am Nachmittag bin ich oft mit meinem Sohn in den Park oder ans Meer gegangen, wir haben es geliebt, Eis und exotische Früchte zu essen. Dann wurde uns alles brutal weggenommen. Während des Krieges wurde ich 30 Jahre alt.

Eigentlich hätte mein Sohn im Kindergarten anfangen sollen und ich wollte den Master in Linguistik machen. Doch der Krieg hat uns das genommen. Nicht nur physische Gegenstände, sondern auch Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume. Das vergangene Jahr war furchtbar. Unser Alltag bedeutet einen täglichen Kampf um die grundlegenden Dinge wie sauberes Wasser und warme Mahlzeiten. In den ersten Monaten hat es weder Mehl noch Gemüse oder Obst auf den Märkten gegeben. Nun finde ich keine warme Kleidung für meinen Sohn, und der Winter steht vor der Tür.

Wir mussten bereits viermal fliehen. Im Moment leben wir in Deir al-Balah. Ich versuche, positiv zu bleiben, vor allem für meinen Sohn und die Kinder in der Umgebung. Doch es ist schwer, ihnen eine Welt zu erklären, in der Bomben einschlagen und sie alles zurücklassen mussten. Ich wünsche mir, dass man uns als Menschen sieht und nicht nur als Zahlen im Zusammenhang mit einer Tragödie. Wir haben dieselben Träume wie alle Menschen auf der Welt, wollen ein warmes Zuhause und eine Zukunft für uns selbst und unsere Kinder. Ich versuche, nicht ständig an die nächste Mahlzeit zu denken oder daran, wen wir als Nächstes verlieren werden. Wir sind sehr ausdauernde Menschen.

Die Menschen müssen sich für einen Waffenstillstand einsetzen. Wenn der Krieg nicht endet, wird ihn niemand überleben. Und damit meine ich nicht nur, dass Menschen sterben, sondern dass sie durch ihre psychischen Schäden nur noch Hüllen ihrer selbst sein werden. Meine größte Angst ist, dass ich meinen Sohn verliere oder er mich. Ich möchte einfach nur nach Hause. Ich will, dass unsere Zukunft wieder beginnt.


Nada Hammad und ihr vierjähriger Sohn mussten bereits mehrmals fliehen.
privat

Care-Nothelferin Nahed Aby Iyada:
"Es ist jenseits von allem Grauen, das ich beschreiben kann"

Es ist so, als wäre man an einem sonnigen Ort gewesen, und plötzlich sperrt einen jemand in einen dunklen Raum, und man wartet darauf, dass das Licht zurückkehrt. Es ist auf so vielen Ebenen dunkel, alles, was man sieht, sind Luftangriffe, Töten, Zerstörung, geschlossene Grenzübergänge, keine Krankenhäuser, die man aufsuchen kann, keine medizinische Versorgung, die man in Anspruch nehmen kann. Das Fehlen an allem, was man sich vorstellen kann. Alles ist zum Stillstand gekommen. Dein Leben ist zum Stillstand gekommen. Du hast Angst. Du weißt nicht, ob du den nächsten Tag erleben wirst, du lebst von Tag zu Tag. Es ist jenseits von allem Grauen, das ich beschreiben kann.

Ich bin in Gaza aufgewachsen, ich habe mein Leben hier verbracht. Bevor ich im April bei Care angefangen habe, war ich für verschiedene humanitäre Organisationen und auch als Fitnesstrainerin tätig. Vor dem Krieg hatte ich ein gutes Leben, ich habe gearbeitet und bin dreimal pro Woche ins Fitnessstudio gegangen. An den Tagen, an denen ich nicht ins Fitnessstudio ging, habe ich Zeit mit meinen Freundinnen verbracht oder Online-Kurse besucht. Ich war umgeben von Leben. Immer wieder habe ich auch mit Freunden in den USA telefoniert, ich habe dort studiert und versucht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Ich hatte auch eine Erlaubnis, ins Westjordanland zu reisen. Im Oktober sollte ich einen Monat dort verbringen – doch dann begann der Krieg.

Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Krieg aufhört und wir in unsere Häuser zurückkehren können. Ich wünsche mir, dass die Grenzübergänge wieder geöffnet werden und dass wir wieder Waren bekommen, aber auch, dass die Krankenhäuser wieder offen sind und die Patienten medizinische Versorgung erhalten, dass die Menschen wieder in ihren Häusern leben können und nicht in Zelten.

Ich weiß mittlerweile, was es bedeutet, in einem Zelt zu leben. Das Schlimmste ist, wenn Regen und niedrige Temperaturen angekündigt sind. Man wacht mitten in der Nacht auf, wenn es regnet, und überlegt, woher das Wasser kommen könnte, und bleibt dann die ganze Nacht wach, um das Zelt nach undichten Stellen abzusuchen und das Wasser rauszubekommen. Man sitzt auf einem Stuhl mit der Matratze auf dem Schoß, weil man nicht weiß, wie man schlafen soll. Wir leben an einem Ort, der nicht für Zelte geeignet ist, das Wasser könnte es plötzlich überfluten oder es zusammenbrechen lassen. Ich wünsche mir, dass der Krieg aufhört, damit die Menschen nicht noch ein weiteres Jahr den Winter in Zelten verbringen müssen.


Nahed Aby Iyada sollte im vergangenen Oktober eigentlich einen Monat im Westjordanland verbringen – doch dann begann der Krieg.
Care

Alaa Salameh:
"Wir verdienen es zu leben"

Vor dem Krieg war die wirtschaftliche Situation sehr schwierig, die Arbeitslosenrate lag bei mehr als 50 Prozent. Ich lebe in Gaza-Stadt und bin jetzt 34 Jahre alt. Ich komme aus einer armen Familie und habe schon als Jugendliche keine Zukunft für mich in Gaza gesehen. Vor dem Krieg habe ich als politische Analystin bei NGOs und auch als Lehrerin gearbeitet. Alle Jobs, die ich hatte, waren temporär.

Wir haben schon vorher immer wieder unter Krieg und Blockaden gelitten, aber man konnte sich ein Leben in Würde aufbauen, versuchen, Lösungen in diesen schwierigen Umständen zu finden. Es gab eine Form von Stabilität, Menschen haben es immer wieder mit neuen Projekten versucht.

Meine größte Angst ist, meine Familie, meine Liebsten zu verlieren. Auch die Angst, verletzt zu werden, ist groß, die Wunden sind so tief. Es gibt Tausende mit amputierten Gliedmaßen. Die Menschen sind verzweifelt, glauben aber, dass sie eines Tages zurück können, zu ihren Häusern, zu ihren Städten, zu ihrem Leben. Die Menschen wollen sich sicher fühlen.

Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, aber aus Perspektive der politischen Analystin befürchte ich, dass der Krieg nicht bald enden wird. Die israelische Regierung und auch die USA scheinen ein Interesse daran zu haben, dass der Krieg weitergeht. Sie sagen, sie wollen die Hamas zerstören, aber es trifft alle Palästinenserinnen und Palästinenser, was sie unseren Häusern, den Menschen, der Infrastruktur angetan haben. Sie wollen nicht, dass wir hier leben.

Palästinenserinnen und Palästinenser lieben das Leben, sie wollen Frieden, sie sind keine Terroristen. Wir wollen unsere Grundrechte, wir wollen zurück zu unserem Leben. Weil wir es verdienen zu leben.


Alaa Salameh glaubt nicht an ein baldiges Ende des Krieges.
privat

Sohaib Safi, Arzt bei MSF:
"Ich weiß nicht, ob ich meine Familie wiedersehen werde"

Vor dem Krieg war das Leben in Gaza generell schwierig, aber es gab so etwas wie persönliche Stabilität, mit meiner Tochter Rita, meiner Frau Nour, meinen Eltern und Brüdern. Ich habe davon geträumt, ein Haus und ein Auto zu haben. Wir haben gelacht und mit meinen Eltern gescherzt, waren in Restaurants, Rita spielte im Vergnügungspart "Kids Land". Wir waren glücklich trotz der generellen Sorgen.

Ich hatte Ambitionen zu lernen und zu reisen, ich habe auch Oud gespielt und für mein Heimatland gesungen, über Leben und Liebe. Als der Krieg begann, hat sich alles verändert. Wir wurden am ersten Kriegstag vertrieben. Das Haus war nicht mehr unseres. Wir haben Tage und Nächte voller Angst durchlebt, ständig mit dem Gedanken, dass der Tod jeden Moment eintreffen könnte. Jeden Tag habe ich mir gewünscht, der Krieg würde enden.

An einem Tag saß ich um etwa vier Uhr Früh in der Küche. Plötzlich spürte ich eine Explosion in meinem Gesicht. Mich hat es durch die Luft geschleudert, ich hörte Schreie. Es war dunkel, überall war Staub, es war schwer zu atmen. Ich bin schnell zu meiner Frau und meiner Tochter. Sie standen unter Schock, waren aber nicht verletzt. Ich hatte den Geschmack von Blut im Mund. Dann habe ich gemerkt, dass ich im Gesicht verletzt war.

Heute habe ich Narben auf meiner rechten Augenbraue und meiner Nase. Ich werde mich immer an diesen Tag erinnern, den Schock und den Schmerz. Und die Worte meiner Tochter: "Wieso blutet Papa? Er ist doch Arzt und hilft den Menschen."

Heute bin ich allein mit meinen Eltern in Gaza. Zwischen meiner Frau, meiner Tochter und mir sind Grenzen, Panzer, die Armee, Zerstörung und Krieg. Alles ist unsicher. Meine Tochter, die jetzt in Ägypten ist, sagt mir jeden Tag, dass sie mich vermisst. Und jeden Tag sage ich ihr: Hoffentlich werde ich bald zu euch kommen. Aber in Wirklichkeit weiß ich nicht, ob ich sie je wiedersehen werde. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Krieg überleben werde.


Sohaib Safi und seine Tochter Rita, mittlerweile ist sie mit ihrer Mutter nach Ägypten geflohen.
msf

Soheir Ajjour:
"Ich will endlich weinen"

Vor einem Jahr war unser Leben noch anders. Ich bin zur Arbeit bei einer Hilfsorganisation gegangen, wo ich für soziales Engagement zuständig bin, und habe für meine beiden Kinder in der Früh die Jausenboxen hergerichtet, bevor ich sie zur Schule gebracht habe. Mein Sohn ist acht Jahre alt, meine Tochter drei, und ich bin 40. Wir haben unser Leben genossen, es war voller Hoffnung für unsere Zukunft. Nun leben wir gefühlt in der Steinzeit, suchen nach Nahrungsmitteln und lassen unsere Kinder drinnen, weil es draußen zu gefährlich ist.

Wir haben unsere Wohnung in Gaza-Stadt verloren und mussten bereits mehrmals fliehen. Im Moment befinden wir uns in Deir al-Balah. Das vergangene Jahr war für alle ein endloser Albtraum. Der Krieg hat für uns überraschend und schockierend begonnen und uns ungläubig zurückgelassen. Ich frage mich seitdem, wie meine Kinder es verdient haben, so sehr zu leiden. Ich habe alles verloren, meine Wohnung, meine Nachbarschaft und ein Gefühl für normales Leben. Mein Sohn sollte sich eigentlich in der Schule befinden und mit seinen Freunden spielen. Sein bester Freund wurde zu Kriegsbeginn getötet, und ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, ihm das zu sagen. Ich habe nicht einmal die Kraft, die Mutter des toten Buben anzurufen und ihr mein Beileid auszusprechen. Meine Tochter kann in der Nacht nur noch bei mir schlafen. Sie muss mich ständig berühren, um sich sicher zu fühlen.

Jeder hier ist es leid, in Angst und mit dem Frust zu leben. Es war ein Jahr ohne die einfachen Dinge, die das Leben angenehmer machen – wie eine warme Dusche, das eigene Bett oder überhaupt Privatsphäre. Ich wünsche mir, dass der Krieg sofort endet. Ich will endlich wieder in Ruhe schlafen können. Ich will endlich weinen, weil ich das Gefühl habe, dass ich die Trauer so lange in mir trage, bis ich die Möglichkeit habe, sie zu verarbeiten. Doch diese Möglichkeit fühlt sich noch weit entfernt an. Ich will keinen meiner Liebsten mehr verlieren.

Gleichzeitig muss ich hoffnungsvoll bleiben, sonst verliere ich meinen Lebenswillen. Ich mache das für meine Kinder, nicht für mich. Die Welt muss sehen, dass wir Menschen mit Würde sind und in dieser Umgebung nicht mehr lange leben können. Es ist das erste Mal, dass ich über den Krieg rede und darüber, wie ich mich fühle. Ich habe mich dafür entschieden, weil ich will, dass die Leute wissen, dass wir hier unsere Leben verlieren.


Soheir Ajjour musste mit ihren beiden Kindern bereits mehrmals fliehen.
privat

(Protokolle: Bianca Blei, Noura Maan, 9.10.2024)

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