Palästinenser fliehen aus Gaza-Stadt in Richtung Süden. Im November gab es einen viertägigen Waffenstillstand – nun scheint ein Ende der Kämpfe in weiter Ferne.
AFP/MAHMUD HAMS
Ein Jahr dauert nun, zum Jahrestag des
Hamas-Terrors, auch der von Israel in der Folge gestartete Feldzug im Gazastreifen an. Er hat die "Auslöschung" der Hamas zum Ziel, bedeutet aber für die Zivilbevölkerung entsetzliches Leid. UN-Sprecher Stéphane Dujarric bezeichnete die Lage in dem schmalen Küstenstreifen zuletzt als "mehr als katastrophal".
Diese oder ähnlich drastische Worte verwenden Hilfsorganisationen bereits seit Monaten. Sie sprechen unter anderem von
kompletter Zerstörung, einem
Zusammenbruch des Gesundheitssystems und der
gesamten Bevölkerung in Not. DER STANDARD hat fünf Menschen im Gazastreifen gefragt, wie sie das vergangene Jahr inmitten der humanitären Katastrophe erlebt haben, wie ihr Alltag vor dem Krieg aussah und welche Ängste und Hoffnungen sie nach einem Jahr Krieg haben.
Nada Hammad:
"Wenn der Krieg nicht endet, wird ihn niemand überleben"
Unser Leben war vor dem Krieg wirklich gut. Ich habe mit meinem vierjährigen Sohn bei meinen Eltern im Haus gelebt. Ich bin nach meiner Scheidung alleinerziehend und habe Geld als Übersetzerin und Lehrerin an einer öffentlichen Schule verdient. Am Nachmittag bin ich oft mit meinem Sohn in den Park oder ans Meer gegangen, wir haben es geliebt, Eis und exotische Früchte zu essen. Dann wurde uns alles brutal weggenommen. Während des Krieges wurde ich 30 Jahre alt.
Eigentlich hätte mein Sohn im Kindergarten anfangen sollen und ich wollte den Master in Linguistik machen. Doch der Krieg hat uns das genommen. Nicht nur physische Gegenstände, sondern auch Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume. Das vergangene Jahr war furchtbar. Unser Alltag bedeutet einen täglichen Kampf um die grundlegenden Dinge wie sauberes Wasser und warme Mahlzeiten. In den ersten Monaten hat es weder Mehl noch Gemüse oder Obst auf den Märkten gegeben. Nun finde ich keine warme Kleidung für meinen Sohn, und der Winter steht vor der Tür.
Wir mussten bereits viermal fliehen. Im Moment leben wir in Deir al-Balah. Ich versuche, positiv zu bleiben, vor allem für meinen Sohn und die Kinder in der Umgebung. Doch es ist schwer, ihnen eine Welt zu erklären, in der Bomben einschlagen und sie alles zurücklassen mussten. Ich wünsche mir, dass man uns als Menschen sieht und nicht nur als Zahlen im Zusammenhang mit einer Tragödie. Wir haben dieselben Träume wie alle Menschen auf der Welt, wollen ein warmes Zuhause und eine Zukunft für uns selbst und unsere Kinder. Ich versuche, nicht ständig an die nächste Mahlzeit zu denken oder daran, wen wir als Nächstes verlieren werden. Wir sind sehr ausdauernde Menschen.
Die Menschen müssen sich für einen Waffenstillstand einsetzen. Wenn der Krieg nicht endet, wird ihn niemand überleben. Und damit meine ich nicht nur, dass Menschen sterben, sondern dass sie durch ihre psychischen Schäden nur noch Hüllen ihrer selbst sein werden. Meine größte Angst ist, dass ich meinen Sohn verliere oder er mich. Ich möchte einfach nur nach Hause. Ich will, dass unsere Zukunft wieder beginnt.
Nada Hammad und ihr vierjähriger Sohn mussten bereits mehrmals fliehen.
privat
Care-Nothelferin Nahed Aby Iyada:
"Es ist jenseits von allem Grauen, das ich beschreiben kann"
Es ist so, als wäre man an einem sonnigen Ort gewesen, und plötzlich sperrt einen jemand in einen dunklen Raum, und man wartet darauf, dass das Licht zurückkehrt. Es ist auf so vielen Ebenen dunkel, alles, was man sieht, sind Luftangriffe, Töten, Zerstörung, geschlossene Grenzübergänge, keine Krankenhäuser, die man aufsuchen kann, keine medizinische Versorgung, die man in Anspruch nehmen kann. Das Fehlen an allem, was man sich vorstellen kann. Alles ist zum Stillstand gekommen. Dein Leben ist zum Stillstand gekommen. Du hast Angst. Du weißt nicht, ob du den nächsten Tag erleben wirst, du lebst von Tag zu Tag. Es ist jenseits von allem Grauen, das ich beschreiben kann.
Ich bin in Gaza aufgewachsen, ich habe mein Leben hier verbracht. Bevor ich im April bei Care angefangen habe, war ich für verschiedene humanitäre Organisationen und auch als Fitnesstrainerin tätig. Vor dem Krieg hatte ich ein gutes Leben, ich habe gearbeitet und bin dreimal pro Woche ins Fitnessstudio gegangen. An den Tagen, an denen ich nicht ins Fitnessstudio ging, habe ich Zeit mit meinen Freundinnen verbracht oder Online-Kurse besucht. Ich war umgeben von Leben. Immer wieder habe ich auch mit Freunden in den USA telefoniert, ich habe dort studiert und versucht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Ich hatte auch eine Erlaubnis, ins Westjordanland zu reisen. Im Oktober sollte ich einen Monat dort verbringen – doch dann begann der Krieg.
Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Krieg aufhört und wir in unsere Häuser zurückkehren können. Ich wünsche mir, dass die Grenzübergänge wieder geöffnet werden und dass wir wieder Waren bekommen, aber auch, dass die Krankenhäuser wieder offen sind und die Patienten medizinische Versorgung erhalten, dass die Menschen wieder in ihren Häusern leben können und nicht in Zelten.
Ich weiß mittlerweile, was es bedeutet, in einem Zelt zu leben. Das Schlimmste ist, wenn Regen und niedrige Temperaturen angekündigt sind. Man wacht mitten in der Nacht auf, wenn es regnet, und überlegt, woher das Wasser kommen könnte, und bleibt dann die ganze Nacht wach, um das Zelt nach undichten Stellen abzusuchen und das Wasser rauszubekommen. Man sitzt auf einem Stuhl mit der Matratze auf dem Schoß, weil man nicht weiß, wie man schlafen soll. Wir leben an einem Ort, der nicht für Zelte geeignet ist, das Wasser könnte es plötzlich überfluten oder es zusammenbrechen lassen. Ich wünsche mir, dass der Krieg aufhört, damit die Menschen nicht noch ein weiteres Jahr den Winter in Zelten verbringen müssen.
Nahed Aby Iyada sollte im vergangenen Oktober eigentlich einen Monat im Westjordanland verbringen – doch dann begann der Krieg.
Care
Alaa Salameh:
"Wir verdienen es zu leben"
Vor dem Krieg war die wirtschaftliche Situation sehr schwierig, die Arbeitslosenrate lag bei mehr als 50 Prozent. Ich lebe in Gaza-Stadt und bin jetzt 34 Jahre alt. Ich komme aus einer armen Familie und habe schon als Jugendliche keine Zukunft für mich in Gaza gesehen. Vor dem Krieg habe ich als politische Analystin bei NGOs und auch als Lehrerin gearbeitet. Alle Jobs, die ich hatte, waren temporär.
Wir haben schon vorher immer wieder unter Krieg und Blockaden gelitten, aber man konnte sich ein Leben in Würde aufbauen, versuchen, Lösungen in diesen schwierigen Umständen zu finden. Es gab eine Form von Stabilität, Menschen haben es immer wieder mit neuen Projekten versucht.
Meine größte Angst ist, meine Familie, meine Liebsten zu verlieren. Auch die Angst, verletzt zu werden, ist groß, die Wunden sind so tief. Es gibt Tausende mit amputierten Gliedmaßen. Die Menschen sind verzweifelt, glauben aber, dass sie eines Tages zurück können, zu ihren Häusern, zu ihren Städten, zu ihrem Leben. Die Menschen wollen sich sicher fühlen.
Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, aber aus Perspektive der politischen Analystin befürchte ich, dass der Krieg nicht bald enden wird. Die israelische Regierung und auch die USA scheinen ein Interesse daran zu haben, dass der Krieg weitergeht. Sie sagen, sie wollen die Hamas zerstören, aber es trifft alle Palästinenserinnen und Palästinenser, was sie unseren Häusern, den Menschen, der Infrastruktur angetan haben. Sie wollen nicht, dass wir hier leben.
Palästinenserinnen und Palästinenser lieben das Leben, sie wollen Frieden, sie sind keine Terroristen. Wir wollen unsere Grundrechte, wir wollen zurück zu unserem Leben. Weil wir es verdienen zu leben.
Alaa Salameh glaubt nicht an ein baldiges Ende des Krieges.
privat
Sohaib Safi, Arzt bei MSF:
"Ich weiß nicht, ob ich meine Familie wiedersehen werde"
Vor dem Krieg war das Leben in Gaza generell schwierig, aber es gab so etwas wie persönliche Stabilität, mit meiner Tochter Rita, meiner Frau Nour, meinen Eltern und Brüdern. Ich habe davon geträumt, ein Haus und ein Auto zu haben. Wir haben gelacht und mit meinen Eltern gescherzt, waren in Restaurants, Rita spielte im Vergnügungspart "Kids Land". Wir waren glücklich trotz der generellen Sorgen.
Ich hatte Ambitionen zu lernen und zu reisen, ich habe auch Oud gespielt und für mein Heimatland gesungen, über Leben und Liebe. Als der Krieg begann, hat sich alles verändert. Wir wurden am ersten Kriegstag vertrieben. Das Haus war nicht mehr unseres. Wir haben Tage und Nächte voller Angst durchlebt, ständig mit dem Gedanken, dass der Tod jeden Moment eintreffen könnte. Jeden Tag habe ich mir gewünscht, der Krieg würde enden.
An einem Tag saß ich um etwa vier Uhr Früh in der Küche. Plötzlich spürte ich eine Explosion in meinem Gesicht. Mich hat es durch die Luft geschleudert, ich hörte Schreie. Es war dunkel, überall war Staub, es war schwer zu atmen. Ich bin schnell zu meiner Frau und meiner Tochter. Sie standen unter Schock, waren aber nicht verletzt. Ich hatte den Geschmack von Blut im Mund. Dann habe ich gemerkt, dass ich im Gesicht verletzt war.
Heute habe ich Narben auf meiner rechten Augenbraue und meiner Nase. Ich werde mich immer an diesen Tag erinnern, den Schock und den Schmerz. Und die Worte meiner Tochter: "Wieso blutet Papa? Er ist doch Arzt und hilft den Menschen."
Heute bin ich allein mit meinen Eltern in Gaza. Zwischen meiner Frau, meiner Tochter und mir sind Grenzen, Panzer, die Armee, Zerstörung und Krieg. Alles ist unsicher. Meine Tochter, die jetzt in Ägypten ist, sagt mir jeden Tag, dass sie mich vermisst. Und jeden Tag sage ich ihr: Hoffentlich werde ich bald zu euch kommen. Aber in Wirklichkeit weiß ich nicht, ob ich sie je wiedersehen werde. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Krieg überleben werde.
Sohaib Safi und seine Tochter Rita, mittlerweile ist sie mit ihrer Mutter nach Ägypten geflohen.
msf
Soheir Ajjour:
"Ich will endlich weinen"
Vor einem Jahr war unser Leben noch anders. Ich bin zur Arbeit bei einer Hilfsorganisation gegangen, wo ich für soziales Engagement zuständig bin, und habe für meine beiden Kinder in der Früh die Jausenboxen hergerichtet, bevor ich sie zur Schule gebracht habe. Mein Sohn ist acht Jahre alt, meine Tochter drei, und ich bin 40. Wir haben unser Leben genossen, es war voller Hoffnung für unsere Zukunft. Nun leben wir gefühlt in der Steinzeit, suchen nach Nahrungsmitteln und lassen unsere Kinder drinnen, weil es draußen zu gefährlich ist.
Wir haben unsere Wohnung in Gaza-Stadt verloren und mussten bereits mehrmals fliehen. Im Moment befinden wir uns in Deir al-Balah. Das vergangene Jahr war für alle ein endloser Albtraum. Der Krieg hat für uns überraschend und schockierend begonnen und uns ungläubig zurückgelassen. Ich frage mich seitdem, wie meine Kinder es verdient haben, so sehr zu leiden. Ich habe alles verloren, meine Wohnung, meine Nachbarschaft und ein Gefühl für normales Leben. Mein Sohn sollte sich eigentlich in der Schule befinden und mit seinen Freunden spielen. Sein bester Freund wurde zu Kriegsbeginn getötet, und ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, ihm das zu sagen. Ich habe nicht einmal die Kraft, die Mutter des toten Buben anzurufen und ihr mein Beileid auszusprechen. Meine Tochter kann in der Nacht nur noch bei mir schlafen. Sie muss mich ständig berühren, um sich sicher zu fühlen.
Jeder hier ist es leid, in Angst und mit dem Frust zu leben. Es war ein Jahr ohne die einfachen Dinge, die das Leben angenehmer machen – wie eine warme Dusche, das eigene Bett oder überhaupt Privatsphäre. Ich wünsche mir, dass der Krieg sofort endet. Ich will endlich wieder in Ruhe schlafen können. Ich will endlich weinen, weil ich das Gefühl habe, dass ich die Trauer so lange in mir trage, bis ich die Möglichkeit habe, sie zu verarbeiten. Doch diese Möglichkeit fühlt sich noch weit entfernt an. Ich will keinen meiner Liebsten mehr verlieren.
Gleichzeitig muss ich hoffnungsvoll bleiben, sonst verliere ich meinen Lebenswillen. Ich mache das für meine Kinder, nicht für mich. Die Welt muss sehen, dass wir Menschen mit Würde sind und in dieser Umgebung nicht mehr lange leben können. Es ist das erste Mal, dass ich über den Krieg rede und darüber, wie ich mich fühle. Ich habe mich dafür entschieden, weil ich will, dass die Leute wissen, dass wir hier unsere Leben verlieren.
Soheir Ajjour musste mit ihren beiden Kindern bereits mehrmals fliehen.
privat
(Protokolle: Bianca Blei, Noura Maan, 9.10.2024)
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