Dritter Kriegswinter
Russlands Krieg der Kälte setzt der Ukraine mehr und mehr zu
Der ukrainischen Zivilbevölkerung droht wegen der russischen Luftangriffe ein Winter in Frost und Dunkelheit. Putin kommt seinem Ziel so bedrohlich nahe
Analyse
Immer wieder müssen Kiewerinnen und Kiewer in U-Bahn-Stationen Zuflucht vor russischen Luftangriffen suchen.
AFP/ROMAN PILIPEY
Wenn es Winter wird, drohen in der Ukraine die Lichter auszugehen. Die Quecksilbersäule verharrt vielerorts schon im November im Minusbereich, wegen der russischen Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur könnte das weite Land zwischen Lwiw und Saporischschja, Cherson und Charkiw zudem schon bald in Finsternis versinken. Von den 18 Gigawatt Strom, die etwa für Heizen und Beleuchtung benötigt werden, kann die Ukraine nur noch etwa die Hälfte produzieren – mit dramatischen Folgen für die Zivilbevölkerung. Während die Internationale Energieagentur IEA deshalb eine humanitäre Katastrophe befürchtet, kommt Wladimir Putin seinem Ziel in diesem Winter einen womöglich entscheidenden Schritt näher.
Russlands Machthaber wolle die Ukraine nämlich nicht unbedingt erobern, sondern zerstören, sagte der US-Historiker Stephen Kotkin jüngst im STANDARD-Interview. Die ukrainische Armee scheint nach mehr als 950 Tagen Krieg immer weniger imstande, im Abnützungskrieg mit Russland Schritt zu halten. Im Westen hingegen stellt man sich in den Staatskanzleien immer häufiger die Frage, wie lange die Ukraine-Hilfe angesichts der Lücken in den eigenen Arsenalen noch zu stemmen ist – und ob sich Kiew mit seinem Kriegsziel, das gesamte geraubte Territorium zu befreien, nicht doch überhebt.
Tatsächlich ist der ukrainischen Armee seit der Rückeroberung Chersons Ende 2022 kein großer Schlag gegen die Invasoren mehr gelungen; im Donbass, wo sie jüngst die ehemalige Bergbaustadt Wuhledar aufgeben musste, gerät die Ukraine ins Hintertreffen. Auch wenn das nahe Pokrowsk, ein Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Logistik im Osten, der langsam vormarschierenden russischen Armee wohl noch über den Winter widerstehen kann, ist der Preis, den Kiew dafür zahlen muss, immens hoch. Aktuell wird intensiv gekämpft.
Während Moskau seine horrenden Verluste – laut US-Schätzungen sind bisher mindestens 100.000 russische Soldaten gestorben – nach wie vor ohne Generalmobilmachung auszugleichen vermag, dünnt die Personaldecke auf der anderen Seite zunehmend aus. Schon heute stehen den 450.000 Ukrainern auf dem Feld 540.000 Russen gegenüber – bei den abgefeuerten Granaten ist die Rate mancherorts überhaupt 1:10. Und auch der ukrainische Einmarsch in die russische Region Kursk im Sommer hat kaum Druck aus der Front im Donbass genommen.
Sieg in weiter Ferne
In Umfragen glaubt freilich nach wie vor eine Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer an den Sieg – allerdings sind es heute vor allem die Älteren, die auf die Rückeroberung des gesamten geraubten Territoriums pochen. Wer Gefahr läuft, an die Front geschickt zu werden, hält sich mit Optimismus auffällig zurück. Wie der Krieg unter den derzeitigen Umständen gewonnen werden soll, weiß niemand.
Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Ende September der US-Regierung seinen "Siegesplan" skizziert hat, ist mit beinahe leeren Händen aus den USA zurückgekehrt. Grünes Licht für Angriffe im russischen Hinterland? Fehlanzeige. Sicherheitsgarantien? Gibt es vorerst nicht. Und anstatt der erhofften Marschflugkörper mit großer Reichweite schickt US-Präsident Joe Biden JSOW-Geschoße, die gerade einmal 160 Kilometer weit fliegen. Russland, sagte Selenskyj, müsse zum Frieden gezwungen werden. Nun scheint es so, als wäre es eher die Ukraine, die früher oder später die Waffen wird strecken müssen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (li.) traf in Washington auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris.
AFP/DREW ANGERER
Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Angesichts westlicher Vorbehalte, was die Erlaubnis zu grenzübergreifenden Angriffen betrifft, schwebt die näherrückende US-Präsidentschaftswahl nämlich wie ein zusätzliches Damoklesschwert über den Köpfen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Niemand weiß, wie ein möglicher Präsident Donald Trump tatsächlich handeln würde. Seine erratischen Wortmeldungen ("Die Ukraine ist kaputt") lassen Übles erahnen.
"Zweckoptimismus"
"Selenskyjs Zweckoptimismus ("Siegesplan") wird vermutlich nicht einmal zu Hause greifen, weil dort allen die dramatische Situation vollkommen klar ist", sagt der Militäranalyst Walter Feichtinger vom Wiener Center für Strategische Analysen dem STANDARD. Von einem nahenden Sieg könne keine Rede sein – ganz im Gegenteil: "Die Ukraine befindet sich unverändert in der Defensive. Der Winter verheißt für das ganze Land nichts Gutes." Weil es nach wie vor an der von Kiew so dringend erbetenen Luftabwehr mangelt, sind die ukrainischen Stellungen Angriffen zudem viel zu oft schutzlos ausgesetzt.
Die Lage an der Front.
APA
"Andererseits hat man sich mit dem Vorstoß in Kursk ein Faustpfand geschaffen und die Zerstörung des russischen Munitionslagers (in Toropez am 18. September, Anm.) hat gezeigt, was alles möglich wäre, wenn der Westen der Ukraine weitreichende Schläge erlaubt", sagt Feichtinger. Der Analyst vermutet deshalb, dass Kiew mit seinen Partnern im Moment intensiv über mögliche Ziele diskutiere – und dass ihr am Ende Angriffe auf einige, sehr genau definierte Ziele mit US-gefertigten Atacms-Raketen im russischen Hinterland erlaubt würden.
Die Zivilbevölkerung, hier in Charkiw, leidet unter der ständigen Bedrohung durch russische Drohnen und Raketen.
IMAGO/Viacheslav Madiievskyi
Zu den bestehenden Problemen Kiews kommt dazu, dass Washington nun schon seit einem Jahr mit noch einem Kriegsgebiet, dem Nahen Osten, konfrontiert ist. "Es ist in den Arsenalen mittlerweile schon wenig vorhanden. Deshalb wird jetzt dreimal überlegt, was man wohin schickt." Wenn es so weitergeht wie bisher, werde die Ukraine die Zerstörung ihrer Infrastruktur durch Russland nicht verhindern können, sagt Feichtinger.
"Die USA verfolgen nach wie vor die sogenannte Boiling-the-Frog-Strategie, die Russland zwar schwächen, aber nicht zur Eskalation treiben soll. Darum sagt man der Ukraine zwar Unterstützung zu, aber nicht in dem Ausmaß, wie diese es sich wünscht", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie. "Das ist jetzt besonders kritisch, weil der Ukraine die Zeit davonläuft." Im Pentagon gebe es zudem immer größere Zweifel, dass die Ukraine ihr Kriegsziel, nämlich die Rückeroberung aller russisch besetzter Gebiete, noch erreichen könne, vermutet Reisner.
Ganz aufgeben würden die USA die Ukraine aber nicht, weshalb der Druck auf Selenskyj, schmerzhafte Kompromisse einzugehen, weiter steigen dürfte. Russland nutzt das ukrainische Dilemma derweilen weiter aus: "Russland dürfte während der Schlammperiode versuchen, ukrainische Städte mit Artillerie und Gleitbomben sturmreif zu schießen, um dann nächstes Jahr wieder in den Angriff überzugehen", sagt Reisner. Gut möglich, dass auf den frostigen Winter dann ein noch kälterer Frühling folgt.
(Florian Niederndorfer, 6.10.2024)
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Tatsächlich ist der ukrainischen Armee seit der Rückeroberung Chersons Ende 2022 kein großer Schlag gegen die Invasoren mehr gelungen; im Donbass, wo sie jüngst die ehemalige Bergbaustadt Wuhledar aufgeben musste, gerät die Ukraine ins Hintertreffen. Auch wenn das nahe Pokrowsk, ein Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Logistik im Osten, der langsam vormarschierenden russischen Armee wohl noch über den Winter widerstehen kann, ist der Preis, den Kiew dafür zahlen muss, immens hoch. Aktuell wird intensiv gekämpft.
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Sieg in weiter Ferne
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Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Ende September der US-Regierung seinen "Siegesplan" skizziert hat, ist mit beinahe leeren Händen aus den USA zurückgekehrt. Grünes Licht für Angriffe im russischen Hinterland? Fehlanzeige. Sicherheitsgarantien? Gibt es vorerst nicht. Und anstatt der erhofften Marschflugkörper mit großer Reichweite schickt US-Präsident Joe Biden JSOW-Geschoße, die gerade einmal 160 Kilometer weit fliegen. Russland, sagte Selenskyj, müsse zum Frieden gezwungen werden. Nun scheint es so, als wäre es eher die Ukraine, die früher oder später die Waffen wird strecken müssen.
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Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Angesichts westlicher Vorbehalte, was die Erlaubnis zu grenzübergreifenden Angriffen betrifft, schwebt die näherrückende US-Präsidentschaftswahl nämlich wie ein zusätzliches Damoklesschwert über den Köpfen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Niemand weiß, wie ein möglicher Präsident Donald Trump tatsächlich handeln würde. Seine erratischen Wortmeldungen ("Die Ukraine ist kaputt") lassen Übles erahnen.
"Zweckoptimismus"
"Selenskyjs Zweckoptimismus ("Siegesplan") wird vermutlich nicht einmal zu Hause greifen, weil dort allen die dramatische Situation vollkommen klar ist", sagt der Militäranalyst Walter Feichtinger vom Wiener Center für Strategische Analysen dem STANDARD. Von einem nahenden Sieg könne keine Rede sein – ganz im Gegenteil: "Die Ukraine befindet sich unverändert in der Defensive. Der Winter verheißt für das ganze Land nichts Gutes." Weil es nach wie vor an der von Kiew so dringend erbetenen Luftabwehr mangelt, sind die ukrainischen Stellungen Angriffen zudem viel zu oft schutzlos ausgesetzt.
Die Lage an der Front.
APA
"Andererseits hat man sich mit dem Vorstoß in Kursk ein Faustpfand geschaffen und die Zerstörung des russischen Munitionslagers (in Toropez am 18. September, Anm.) hat gezeigt, was alles möglich wäre, wenn der Westen der Ukraine weitreichende Schläge erlaubt", sagt Feichtinger. Der Analyst vermutet deshalb, dass Kiew mit seinen Partnern im Moment intensiv über mögliche Ziele diskutiere – und dass ihr am Ende Angriffe auf einige, sehr genau definierte Ziele mit US-gefertigten Atacms-Raketen im russischen Hinterland erlaubt würden.
Die Zivilbevölkerung, hier in Charkiw, leidet unter der ständigen Bedrohung durch russische Drohnen und Raketen.
IMAGO/Viacheslav Madiievskyi
Zu den bestehenden Problemen Kiews kommt dazu, dass Washington nun schon seit einem Jahr mit noch einem Kriegsgebiet, dem Nahen Osten, konfrontiert ist. "Es ist in den Arsenalen mittlerweile schon wenig vorhanden. Deshalb wird jetzt dreimal überlegt, was man wohin schickt." Wenn es so weitergeht wie bisher, werde die Ukraine die Zerstörung ihrer Infrastruktur durch Russland nicht verhindern können, sagt Feichtinger.
"Die USA verfolgen nach wie vor die sogenannte Boiling-the-Frog-Strategie, die Russland zwar schwächen, aber nicht zur Eskalation treiben soll. Darum sagt man der Ukraine zwar Unterstützung zu, aber nicht in dem Ausmaß, wie diese es sich wünscht", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie. "Das ist jetzt besonders kritisch, weil der Ukraine die Zeit davonläuft." Im Pentagon gebe es zudem immer größere Zweifel, dass die Ukraine ihr Kriegsziel, nämlich die Rückeroberung aller russisch besetzter Gebiete, noch erreichen könne, vermutet Reisner.
Ganz aufgeben würden die USA die Ukraine aber nicht, weshalb der Druck auf Selenskyj, schmerzhafte Kompromisse einzugehen, weiter steigen dürfte. Russland nutzt das ukrainische Dilemma derweilen weiter aus: "Russland dürfte während der Schlammperiode versuchen, ukrainische Städte mit Artillerie und Gleitbomben sturmreif zu schießen, um dann nächstes Jahr wieder in den Angriff überzugehen", sagt Reisner. Gut möglich, dass auf den frostigen Winter dann ein noch kälterer Frühling folgt.
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