Latènezeitliche Siedlungsbefunde bei Deutsch Wagram entdeckt

josef

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Der Hirsch und der Brunnen: Neues Kapitel der Geschichte von Deutsch-Wagram

Ein Tierskelett könnte Aufschluss darüber geben, wann die Siedlung Latènezeit verlassen wurde
Unter den Resten des in diesem Blog bereits präsentierten historischen Schlachtfelds bei Wagram aus dem Jahr 1809 wurden in rund 300 Meter Entfernung vom österreichischen Militärlager bislang unbekannte latènezeitliche Siedlungsbefunde entdeckt. Verursacher der Entdeckung dieser dörflichen Ansiedelung der späten jüngeren Eisenzeit (120 bis um Chr. Geburt) ist der geplante Ausbau der Marchfeldschnellstraße. Im Vorfeld der Straßenbaumaßnahmen wurden von der Archäologiefirma Novetus Untersuchungen in Verdachtsflächen – gemäß den Auflagen des österreichischen Denkmalschutzgesetzes vorab als archäologisch relevant definierten Trassenzonen – durchgeführt. Sogenannte Oberbodenabträge (Entfernung der Humusauflage) zeigten im Jänner 2018 Siedlungsspuren südöstlich der heutigen Stadtgemeinde, welche anschließend auf einer rund 8.400 Quadratmeter großen Fläche, die den geplanten Trassenverlauf in dem Bereich widerspiegelt, ergraben wurden.


foto: crazyeye/novetus
Grubenhaus im Oberbodenabtrag / ergrabenes Grubenhaus.

Brunnen aus der Latènezeit
Dunkle, teils mächtige Feuchtschwarzerdeböden geben uns einen Eindruck von den natürlichen Begebenheiten vor Ort. Diese oft sehr fruchtbaren Böden wurden und werden gerne als Ackerland genutzt. Davon zeugen nicht zuletzt moderne Pflugspuren, welche sich im nördlichen Teil der Grabungsfläche abzeichnen. Der begünstigte Standort der Siedlung liegt unweit einer wichtigen Lebensader des Marchfelds, des Rußbachs, dessen einst mäandrierender Verlauf Teil einer ausgeprägten Auenlandschaft war.

Die Struktur der Siedlung entspricht einer dörflichen Ansiedelung – Gehöfte, bestehend aus Gebäudegruppen verschiedener Funktionsweise. Als klassische Grubenhäuser anzusprechen sind drei Objekte mit gerundet-rechteckigem Grundriss (etwa 15 bis 26 Quadratmeter) und einheitlicher WNW-OSO Orientierung. Die in der Mitte ihrer Schmalseiten dokumentierten Firstpfosten legen eine Satteldachform nahe. Innerhalb eines kleineren (acht Quadratmeter) WN-SO-orientierten Grundrisses konnten drei kleinere runde Gruben mit einem Durchmesser von maximal einem Meter dokumentiert werden. Von der Sohle einer dieser Gruben wurde ein ganzes Vorratsgefäß geborgen. Hinweise auf handwerkliche Tätigkeitsbereiche lieferte außerdem eines von vier weiteren grubenhausartigen NO-SW-orientierten Objekten. Aus seiner Verfüllschicht konnten unter anderem ein Schlackenfragment und ein Webgewicht geborgen werden.

Neben dem Nachweis eines möglicherweise jüngeren Seitenarms des Rußbachs stellte die Ergrabung zweier spätlatènezeitlicher Brunnen sowohl ein Highlight als auch eine besondere logistische Herausforderung dar. Sobald sich herauskristallisierte, womit wir es hier zu tun hatten, wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen, um für den Fall einer Feuchtbodenerhaltung vorzusorgen. Permanent feuchte Bedingungen verlangsamen die Zersetzung von organischem Material, sodass beispielsweise pflanzliches Material, wie auch Holz, erhalten bleibt. Auch die Dokumentationsschärfe wurde der Befundsituation angepasst und schichtweise fotografische Aufnahmen für Structure-from-Motion-(SFM-)Rekonstruktionen erstellt, um ein möglichst genaues Abbild der Befundsituation zu erhalten, welche nach abgeschlossener Grabungstätigkeit physisch ja nicht mehr vorhanden ist. Abgesehen davon galt es, ein sicheres Ergraben des Befundes zu gewährleisten, was durch eine maschinelle Abtiefung des umgebenden Grabungsareals sowie ein abschnittsweises Ergraben und Dokumentieren sichergestellt wurde.


foto: crazyeye/novetus
Brunnen 1 im Zuge der Ausgrabung.

Was kann uns der Brunnen sagen?
Der Aufwand hat sich nicht nur aus archäologischer Sicht gelohnt, sondern ließ auch das Herz unserer Archäozoologin höher schlagen. Doch beginnen wir von Anfang an oder vielmehr von den letzten Verfüllschichten, die den Versturz der Brunnenanlage dokumentierten, und arbeiten uns über die ursprüngliche Brunnensetzgrube bis zum eigentlichen, leider nicht mehr erhaltenen Brunnenkasten vor. Da in unserem Fall das Durchschlagen mächtiger Lockergesteinsschichten notwendig war, ist dennoch von holzverschalten Schächten auszugehen. Die anfangs unregelmäßig-ovale Form des verstürzten Brunnens 1 wich bald der eigentlichen runden Brunnensetzgrube von rund 2,5 Meter Durchmesser. Dort zeichnete sich auch der eigentliche Brunnenschacht ab, der sich zur Brunnensohle hin (rund 3,5 Meter unter der heutigen Oberfläche) weiter leicht verjüngte. Die Ausmaße der beiden Brunnen sind annähernd ident. An den Sohlen der Befunde wurden sowohl bei Brunnen 1 der ursprünglich circa 0,94 mal 1 Meter breite Kasten als auch bei Brunnen 2 (0,97 mal 1 Meter) im Zuge der Ergrabung neuerlich mit Grundwasser geflutet. Leider war der Grundwasserspiegel des Marchfelds seit der Eisenzeit doch deutlich abgesunken und erreichte vermutlich erst wieder infolge der Einspeisung des Marchfeldkanals in den Rußbach Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts dieses Niveau.

Die entnommenen Sedimentproben beziehungsweise darin enthaltene pflanzliche Makro- sowie Mikroreste könnten hier noch die eine oder andere Information über die damaligen Lebensumstände vor Ort beinhalten. Ihre Auswertung im Zuge eines Projekts unter der Leitung von Peter Trebsche von der Uni Innsbruck könnte etwa Fragen der Ernährung (angebaute Kulturpflanzen et cetera), der Nutzung natürlicher Ressourcen (zum Beispiel Bauholz) bis hin zur ehemaligen Nutzung archäologischer Befunde (Speicher und so weiter) beantworteten. Die Verfüllungen von Brunnen können wertvolle Einblicke in die Zeit ihrer Benutzung bis hin zu ihrer Aufgabe liefern. Nicht selten finden sich in ihnen im Lauf der Zeit in den Brunnen gefallene oder geworfene Gegenstände. So konnten auch an der Sohle von Brunnen 1 eine stark zerscherbte Keramiklage bestehend aus mindestens drei Keramikgefäßen dokumentiert werden.


foto: crazyeye/novetus
3D-Rekonstruktion (image-based modelling) des Brunnens 2.

Ein verirrter Hirsch
Eine besondere Überraschung barg die Verfüllung des zweiten Brunnenschachts für uns. Hier konnte ein junges Hirschskelett in Rückenlage mit dem Schädel im Osten freigelegt werden. Das Sediment war in dem Bereich durch das Grundwasser schon feucht. Teilweise vorhandene rötlich-braune Verfärbungen/Flitter wiesen auf vergangene organische Reste hin. Das schlecht erhaltene Skelett wurde von der Archäozoologin Jane Horvath geborgen und anhand von Vergleichsfunden der archäologisch-zoologischen Sammlung des NHM Wien als Rothirsch (Cervus elaphus) mit einem Alter von unter 25 Monaten bestimmt.


foto: novetus
Knochen des jungen Rothirsches.

Unter dem Tierskelett befanden sich teils massive Holzkohlereste von bis zu 0,2 mal 0,15 Meter Größe, welche im Ganzen geborgen wurden. Auf diesem Niveau konnten auch Eisenobjekte einzeln eingemessen und geborgen werden, bei denen es sich teilweise um Klammern oder Beschläge handeln könnte. In weiteren Verfüllschichten über der Sohle des Brunnens eingebettet, konnten außerdem zwei komplette Gefäße, möglicherweise Schöpf- oder Vorratsgefäße, freigelegt werden.


foto: crazyeye/novetus
3D-Rekonstruktion (image-based modelling) der Ganzgefäße aus Brunnen 2.

Der Hirsch und der Brunnen
Wieso ist dieser Befund so interessant? Nun, Ganzgefäße sind im archäologischen Kontext schon nicht alltäglich, aber der Fund des Junghirsches könnte uns ein Indiz für die Aufgabe des Brunnens liefern. Das schlecht erhaltene Skelettmaterial zeigte kein Anzeichnen einer Einwirkung von außen, und der Argumentation der Archäozoologin folgend verstarb der Rothirsch in der Winterzeit – hatte sich das Jungtier auf zu unsicheres Terrain gewagt und liefert uns so einen terminus ante quem für die Aufgabe der Siedlung? Diese und viele weitere Fragen zum urgeschichtlichen Deutsch-Wagram müssen bis zur wissenschaftlichen Aufarbeitung vorerst unbeantwortet bleiben.
(Christina Neureiter, 27.6.2019)

Christina Neureiter betreute die Grabungsarbeiten der Firma Novetus vor Ort. Während des Studiums der Ur- & Frühgeschichte in Wien arbeitete sie auf Grabungen im Rahmen von Forschungsprojekten im In- und Ausland, bevor sie in der Privatwirtschaft und den Denkmalschutzgrabungen eine neue Herausforderung fand. Ein besonderer Dank gilt dem Auftraggeber Asfinag sowie den Kooperationspartnern. Näheres zu den Befunden und Funden der latènezeitlichen Siedlung können Sie in den Beiträgen zum Tag der Niederösterreichischen Landesarchäologie nachlesen.

Der Hirsch und der Brunnen: Neues Kapitel der Geschichte von Deutsch-Wagram - derStandard.at
 
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