Michelberg bei Stockerau - Archäologische Untersuchungen

josef

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#1
Der Michelberg, seine Kirchen und ein unbekannter Friedhof

Archäologische Untersuchungen erbringen auch zu vermeintlich gut bekannten Orten neue und vielfach überraschende Ergebnisse
Der Michelberg bei Haselbach in der Gemeinde Niederhollabrunn, unweit der Stadt Stockerau in Niederösterreich, ist in der Archäologie kein Unbekannter. Aus historischen Quellen sind Kichenbauten des 14. bis 18. Jahrhundert bekannt, und Thomas Ebendorfer (1388–1464), bedeutender Theologe und Geschichtsschreiber seiner Zeit, behandelte in seinen Schriften die Geschichte seiner Heimatgemeinde Haselbach und des nahe gelegenen Michelbergs. Soweit bekannt, handelte es sich bei den Kirchen am Michelberg um Filialkirchen der Pfarre Niederhollabrunn.


foto: land niederösterreich
Michelberg bei Haselbach, 2011: Überblick über das Grabungsareal und die das Plateau umgebende frühbronzezeitliche Wallanlage. Die Kapelle wurde im 19. Jahrhundert errichtet.

Lückenhafte Geschichte

Archäologische Grabungen in den Jahren 2010 bis 2013 unter der Projektleitung des damaligen niederösterreichischen Landesarchäologen Ernst Lauermann sollten mehr Klarheit in die lückenhafte historische Überlieferung der Kirchenbauten bringen. Schon der Beginn der Nutzung als Kirchenstandort war unklar. Ebendorfer berichtete von einer spätantiken Pfarrkirche, die von Attila im 5. Jahrhundert zerstört worden sein soll und etwa um 740 in Niederhollabrunn wiedererrichtet wurde. Vereinzelte archäologische Funde vorangegangener Grabungen verweisen jedoch auf das 9./10. Jahrhundert.

Die Ausgrabungen erbrachten leider keinen direkten und eindeutigen Nachweis einer Kirche aus jenen Zeiten, doch könnten aufgefundene Gräber aus dem 10. Jahrhundert einen indirekten Hinweis auf einen Sakralbau in unmittelbarer Nähe geben. Einfache Holzkirchen, die in ihrem Grundriss an Profanbauten erinnern, sind aus dieser Zeit bekannt, und es liegt die Vermutung nahe, dass neben dem Friedhof eine ebensolche Kirche bestanden hat, deren Grundriss jedoch durch die nachfolgenden Bauten bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde.


foto: land niederösterreich
Michelberg bei Haselbach, 2012: Überblick über die Grabungsfläche.
Die kreisrunden Strukturen stammen von Peilanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg.

Dieser frühen Phase lassen sich auch die meisten Bestattungen zuordnen, die, wie auch C14-Daten bestätigen, im Zeitraum vom 10. Jahrhundert bis zum Bau der ersten Steinkirche im 13. Jahrhundert angelegt wurden. Bemerkenswert sind vier Kinderbestattungen, die noch Reste einer hölzernen Grababdeckung aufwiesen – aufgrund der vorherrschenden Bodenbedingungen ein durchaus überraschender Befund.

Um- und Einbauten
Im 13. Jahrhundert wurde eine Kirche im romanischen Stil, eine sogenannte Chorquadratkirche, mit einem Kirchturm im Westen errichtet, wie sich archäologisch nachweisen lässt. Aus der Zeit der Erbauung dieser Kirche lassen sich nur wenige Zeugnisse finden, etwa eine Grube zur Herstellung von Kalkmörtel, und auch Schriftquellen zu diesem Kirchenbau existieren nicht. In spätmittelalterlicher Zeit wurden offenbar verschiedene Um- und Einbauten vorgenommen, wie der Grabungsbefund belegt, während die historischen Quellen nur wenige vage, teils widersprüchliche Angaben zum Michelberg und seiner Kirche zu dieser Zeit geben. Spätestens um 1500 wurde jedoch ein neuer, größerer Kirchturm gegen die Südseite des Langhauses gebaut.


foto: georg matthäus vischer, topographia archiducatus austriae inferi (1672).
Die Kirche um 1670, von links: Westanbau, Südturm, Seitenschiff, Chor, hinten das Langhaus.

In den Wirren der Reformationszeit versiegen die Schriftquellen zunächst vollständig, während ab dem Jahr 1617 zahlreiche Kirchenrechnungen von Umbauten und Renovierungsarbeiten zeugen. Archäologisch ist eine Umbauphase belegt, die den Charakter der Kirche wohl deutlich veränderte und schon vor der ersten frühneuzeitlichen Rechnungslegung in das späte 16. oder in das sehr frühe 17. Jahrhundert datieren könnte.

Im Zuge dieser Umbaumaßnahmen wurden der Chor und das Langhaus maßgeblich umgestaltet und der Kirchenraum durch den Anbau eines südlichen Seitenschiffs erweitert. Auch ein kleiner Anbau im Westen des Langhauses wurde errichtet. Der Grabungsbefund bestätigte teilweise die in Rechnungen genannten Renovierungs- und Umbaumaßnahmen aus den Jahren 1617 bis 1694. Rechnungen geben auch Auskunft über die Errichtung eines Marienaltars in den Jahren 1669 bis 1670, der in weiterer Folge das Schicksal der Kirche maßgeblich beeinflussen sollte. Durch historische Quellen ist zu dieser Zeit auch die Anwesenheit eines "Einsiedlers" oder Mesners belegt, der mit seiner Frau in einer der Kirche angeschlossenen Wohnung gelebt haben dürfte.

Das Wunder vom Michelberg
Am 30. März 1704 geschah nun etwas höchst Merkwürdiges: Ein Bildnis der Verkündigung Mariens neben dem "Seithen Frauen Altar" (dem Marienaltar) begann aus unerklärlichen Gründen zu schwitzen – ein Wunder! Dieses Phänomen konnte in den darauffolgenden Tagen immer wieder von unterschiedlichen Zeugen beobachtet werden, wodurch sich sogleich ein reger Zustrom von Gläubigen einstellte, die den Opferstock bereitwillig bedienten. Bereits kurz darauf wurde eine Kommission des zuständigen bischöflich-passauischen Konsistoriums in Wien zum Michelberg entsandt, um die Sachlage zu prüfen und die Zeugen zu befragen. Wohl nicht restlos vom Wunder überzeugt, riet die Kommission, die Verehrung zwar nicht zu unterbinden, jedoch auch nicht zu fördern.

In den folgenden Monaten etablierte sich ein Wallfahrtsbetrieb mit Prozessionen und so großen Menschenmassen, dass die Pfarradministration um Unterstützung bat. Die Seelsorge konnte nicht mehr gewährleistet werden, und Gläubige mussten ohne Empfang der Sakramente und ohne Beichte weggeschickt werden. Zudem tummelten sich unkontrolliert allerlei Bettler, Devotionalienhändler und Verkäufer von Wein und Speisen am Michelberg – aus kirchlicher Sicht eine untragbare Entwicklung.

So veranlasste das Passauer Offizialat die Überführung des Marienbilds in die Pfarrkirche von Niederhollabrunn und die Einstellung des Wallfahrtsbetriebs. Dies konnten sich die Haselbacher, sicherlich auch besorgt um ihre sprudelnden Einnahmen, natürlich nicht bieten lassen und holten nur wenige Tage später das Bild mit Gewalt wieder zurück auf den Michelberg. Das konnte sich das Passauer Konsistorium wiederum nicht bieten lassen, drohte mit Exkommunikation und bestellte alle Konfliktparteien nach Wien ein. Schließlich einigte man sich darauf, das Bild in der Filialkirche am Michelberg zu belassen, entzog es aber der Verehrung und ließ es sicher versperren.

Eine neue Pilgerkirche
Die Kirche am Michelberg florierte wirtschaftlich auch weiterhin, und so war bald der finanzielle Grundstein für eine komplette Neugestaltung gelegt. Zwischen 1745 und 1748 wurde die alte Kirche geschleift und eine neue, barocke Pilgerkirche errichtet, in die teilweise ältere Gebäudestrukturen integriert wurden. Das Gebäude war größer als viele Pfarrkirchen jener Zeit. Der Chor mit Rundapsis wurde durch eine Sakristei und vielleicht auch ein Heiliges Grab flankiert. Im geräumigen Langhaus war auch eine Orgelempore, die durch zwei Wendeltreppen erschlossen wurde. An der Südseite war ein Glockenturm und im Südwesten das Haus des Mesners, in dem sich ein großer Backofen befand.

Diese Kirche bestand jedoch keine vierzig Jahre. Im Zuge der Reformen von Kaiser Joseph II. wurde sie 1783 geschlossen und schließlich in den Jahren 1785/86 unter Zuhilfenahme von Sprengstoff abgebrochen. Charakteristische Schuttschichten liefern dazu auch archäologische Belege. Auf Bitten der Haselbacher Bevölkerung und nach Klärung der kirchenrechtlichen Belange bekam der Ort Haselbach 1785 die Genehmigung für eine eigene Pfarrkirche, die schließlich 1788 eröffnet wurde. Hochaltar, Kanzel und das Marienbild wurden in die neue Kirche überstellt und sind heute noch dort zu bestaunen. Zwei Jahre später wurde auch der Friedhof geweiht, zuvor mussten Haselbacher Bürger in Niederhollabrunn beerdigt werden.


grafik: 7reasons
Die Kirche am Michelberg von Südosten. Dargestellt um 1300, um 1500, um 1700 und um 1750.

Außergewöhnliche Bestattete
Auch bezüglich des Bestattungswesens lieferten die Grabungen am Michelberg Überraschendes. Bei den archäologischen Untersuchungen wurden unerwartet viele Bestattungen in der Nähe der Mauerreste entdeckt. C14-Datierungen ausgewählter Skelette dokumentieren Bestattungsvorgänge über einen Zeitraum vom frühen Hochmittelalter (ab dem 10. Jahrhundert) bis in die frühe Neuzeit (bis 1745), obwohl es dazu keinerlei historische Überlieferung gibt. Zahlreiche Gräber konnten den unterschiedlichen Bauphasen der Kirche zugeordnet werden, wobei sich der frühhochmittelalterliche Zeithorizont mit einer Mindestindividuenzahl von 77 als Hauptbelegungsphase darstellte. Einige Areale wurden innerhalb einer Nutzungsphase wiederholt für Bestattungen genutzt, sodass es zu einer starken Störung der älteren Gräber kam.


foto: land niederösterreich
Bei den archäologischen Grabungen wurden unerwartet viele Bestattungen, darunter zahlreiche Feten- und Säuglingsbestattungen, entdeckt.

Außergewöhnlich ist die Sterbealtersverteilung der am Michelberg Bestatteten: Von insgesamt mindestens 222 Individuen waren nur 21 erwachsen. Bei der überwiegenden Mehrheit der geborgenen Skelette handelt es sich um um den Zeitpunkt der Geburt verstorbene Kinder. Aber auch Frühgeburten mit einem Alter von weniger als sieben Lunarmonaten wurden auf dem Michelberg kirchennah bestattet.

Wenngleich die Kindersterblichkeit im Mittelalter sehr hoch war – Schätzungen zufolge starb die Hälfte der Lebendgeborenen bereits im Kleinkindalter –, entspricht die hier beobachtete Bevölkerungszusammensetzung hinsichtlich des Sterbealters keiner natürlichen Struktur eines ländlichen Friedhofs. Vielmehr ergibt sich der Eindruck, dass vor allem ausgewählte Erwachsene (überwiegend Männer) und Neugeborene auf dem Michelberg bestattet wurden. Auch wenn die genauen Umstände beziehungsweise Beweggründe der Bewohner von Haselbach, gerade diese Kinder und Erwachsenen nicht in der Ortschaft zu bestatten, heute nicht mehr in Erfahrung gebracht werden können, sind die Gräber am Michelberg ein einzigartiges Beispiel für den fürsorglichen Umgang mit verstorbenen Frühgeburten und Kleinkindern.
(Paul Mitchell, Elisabeth Rammer, Andrea Stadlmayr, Margit Berner, 31.1.2019)

Elisabeth Rammer studierte Ur- und Frühgeschichte an der Universität Wien, leitete die Ausgrabungen am Michelberg und arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems. Die Hauptarbeitsgebiete umfassen die Jungsteinzeit sowie die frühe Bronzezeit.

Paul Mitchell, geboren in London, Studium der Geschichte in Manchester sowie Archäologe in London und Freiburg im Breisgau ist seit 1995 in Wien und Umgebung als selbständiger Bauforscher im Auftrag verschiedener Kunden aktiv.

Andrea Stadlmayr studierte Anthropologie an der Universität Wien und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Anthropologischen Abteilung des NHM Wien. Ihre Interessenschwerpunkte sind Bioarchäologie und Hominidenevolution. Margit Berner studierte Anthropologie an der Universität Wien und ist Wissenschafterin und Sammlungsleiterin an der Anthropologischen Abteilung des NHM Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Osteologie, Paläopathologie, Geschichte der Anthropologie, Museologie.

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#2
Der Michelberg: Zum Alltagsgeschehen rund um mittelalterliche und neuzeitliche Kirchen

Funde erzählen Geschichte und Geschichten und eröffnen Perspektiven, die über andere Quellen nicht erschließbar sind. Dies trifft auch auf das Fundmaterial vom niederösterreichischen Michelberg zu
Nachdem vergangene Woche die Entwicklung der Kirche und der Friedhof im Zentrum des Interesses standen, sollen nun einige Aspekte des Fundmaterials näher beleuchtet werden, denn auch dieses erwies sich in vielen Belangen als durchaus überraschend. Würde man diesen Fundort allein anhand der archäologischen Funde charakterisieren, so würde sich zunächst das Bild eines Siedlungsplatzes mit all seinen Facetten aufdrängen.

Bruchstücke von Haushaltskeramik und Reste von Kachelöfen sind die mit Abstand häufigste Fundgattung, und auch zahlreiche Küchenmesser und sogenannte Feuerschläger, Eisenobjekte, mit denen unter Zuhilfenahme von Feuerstein und Zundermaterial Feuer "geschlagen" werden konnte, stellen einen eindeutigen Siedlungsbezug dar. Hufeisen sowie das Mundstück einer Trense bezeugen die Anwesenheit von Nutztieren, und unterschiedliche Sicheln und Sensen verweisen auf einen ackerbäuerlichen Hintergrund. Diese dürften jedoch der gärtnerischen Pflege des Kirchenumfeldes gedient haben, da das Bergplateau für den Anbau von Getreide und anderen Feldfrüchten nicht geeignet ist. Auch zwei mittelalterliche Pfeilspitzen kamen ans Tageslicht, die vermutlich mit erlegtem Wild auf den Michelberg verbracht wurden, denn Hinweise auf kriegerische Ereignisse gibt es für diese Zeit nicht.

Kinderspielzeug und topaktuelle Mode

Selbst Spielzeug lässt sich unter dem Fundmaterial finden. Neben kleinen Augenwürfeln aus Tierknochen, die von Jung und Alt bei verschiedenen Spielen Verwendung fanden, belegt ein Köpfchen einer keramischen Puppe die Präsenz von Kinderspielzeug. Es handelt sich um ein sogenanntes "Kruselerpüppchen". Die Bezeichnung leitet sich vom "Kruseler" ab (mittelhochdeutsch "krus": gedreht, kraus), einer weiblichen Kopftracht, bei der mehrere Lagen von Tüchern zu wellenartigen Rüschen gefaltet wurden und die im 14. und 15. Jahrhundert in Europa weitverbreitet war. Die Figuren spiegeln damit die damals topaktuelle Mode wider und waren in der "Jungdamenwelt" wohl sehr begehrt.


foto: karin kühtreiber, land niederösterreich
Kopf einer sogenannten "Kruselerfigur".

Durch solche Funde wird zum einen der meist wenig beachtete Aspekt "Spiel und Zerstreuung" fassbar, zum anderen jedoch auch der Fernhandel, für den die nahegelegene Donau die wichtigste West-Ost-Verbindung in unserem Raum darstellte. Die Keramikpuppe etwa wurde im Raum Nürnberg erzeugt, wo zahlreiche Varianten dieser Puppen bekannt sind, darunter auch typidente Stücke. Händler dürften diese Spielzeugfiguren donauabwärts an verschiedenen Orten verkauft haben – neben dem Raum Stockerau auch in Bratislava, wo ein zu jenem vom Michelberg identes Exemplar gefunden wurde. Ebenso weitgereist ist ein mehrfarbig bemalter Teller aus dem 17./18. Jahrhundert, dessen charakteristisches Muster ihn als Erzeugnis einer archäologisch gut bekannten Hafnerwerkstatt in Perg, im unteren Mühlviertel, ausweist.

Im Grabungsbefund fanden sich tatsächlich vereinzelte Baustrukturen wie unterschiedliche mittelalterliche Kelleranlagen, die nur schwerlich im Kontext eines Sakralbaus zu interpretieren sind und eher an ein Siedlungsgeschehen im Umfeld der Kirche denken lassen. Konkrete Hinweise, wie dieses ausgesehen haben mag, erbrachte die Grabung aber nicht. Anhand des Alters der Funde lässt sich jedoch sagen, dass diese Siedlungscharakteristik schon im 11. Jahrhundert bestanden hat und wohl bis zum Abriss der Kirche 1785/86 andauerte. Für die Neuzeit ist zumindest die Wohnung des Mesners beziehungsweise "Einsiedlers" und seiner Frau, deren Anwesenheit historisch bezeugt ist, auch archäologisch belegt.

Unter dem umfangreichen Fundmaterial finden sich jedoch auch Stücke, die direkt auf den sakralen Aspekt des Ortes verweisen. So könnte der vollständig erhaltene Rahmen eines "Kneifers" aus dem 18. Jahrhundert vielleicht einem hier tätigen Geistlichen gehört haben, zumindest aber wohl einer Person, die lesen konnte.


foto: karin kühtreiber, land niederösterreich
Brillenrahmen eines "Kneifers" aus dem 17./18. Jahrhundert.

Einblick in die Volksgläubigkeit
Verschiedene religiöse Gegenstände wie Rosenkränze, Kreuze und Anhänger mit Gebetstexten stellen hingegen einen eindeutig klerikalen Bezug dar. Wallfahrtsmedaillen aus Mariazell oder aus dem italienischen Pilgerort Loreto sind Belege für das Wallfahrtswesen und wurden vielleicht auch den Bestatteten mit ins Grab gegeben. Ein kreuzförmiges Amulett, das die im 18. Jahrhundert populären Pestheiligen Benedikt und Sebastian anruft, gibt Einblick in die Volksgläubigkeit und lässt die Hoffnung der Menschen erahnen, durch solche "Schutzmittel" vor Krankheit und Unheil bewahrt zu werden.


foto: karin kühtreiber, land niederösterreich
Wallfahrtsmedaille aus Mariazell.


foto: karin kühtreiber, land niederösterreich
Wallfahrtsmedaille aus Loreto (links), Sirolo (rechts).

Erstaunlich breites Wildtierspektrum
Auch die aufgefundenen Tierknochen geben Einblicke in das Alltagsgeschehen rund um die Kirchen am Michelberg. Neben den üblichen Wirtschaftstierarten (Rind, Schwein, Schaf und Ziege) ließen sich auch Überreste eines erstaunlich breiten Wildtierspektrums finden. Neben einigen Fischknochen lassen sich vor allem Skelettreste von Hirschen, Rehen, Wildschweinen und Feldhasen nennen, die sicherlich nicht zufällig auf den Michelberg gelangten. Hack- und Schnittspuren an manchen dieser Knochen belegen die kulinarische Verwertung der Wildtiere, die offenbar zumindest manchmal den Speiseplan bereicherten.


foto: herbert böhm, universität wien
Mittelfußknochen von einem Rothirsch mit zahlreichen Hackspuren.

Die wichtigsten Tierarten für die Fleischversorgung der Pilger und der Bevölkerung waren jedoch sicherlich die Schweine, Rinder und Schafe. Anhand der nachgewiesenen Skelettteile lässt sich erschließen, dass diese Tiere als vollständige Schlachtkörper (vermutlich als Lebendvieh) auf den Michelberg kamen, sofern sie nicht dort gehalten wurden. Sie dürften somit auch vor Ort geschlachtet und ihre Knochen im Umfeld der Kirche entsorgt worden sein. Dennoch zeichnen sich vor allem bei den Schweinen und Schafen deutliche Überrepräsentanzen der stark bemuskelten Extremitätenabschnitte und der Rippen ab, die eine selektive Zufuhr von Fleischpartien wahrscheinlich machen.

Aberglaube oder Rückzugsort
In den neuzeitlichen Kirchenrechnungen wurden auch Ankäufe von Rind- und Schweinefleisch angeführt, die sich somit auch im archäologischen Material abzeichnen dürften. Die Schlachtalterverteilung zeigt, dass durchaus auf die Fleischqualität Wert gelegt wurde. Neben einigen Überresten von Lämmern stechen vor allem die zahlreichen Ferkelknochen ins Auge. Rund 40 Prozent der Schweine wurden bereits als sehr junge Ferkel geschlachtet, während kein einziger Nachweis eines komplett ausgewachsenen Individuums gefunden werden konnte.

Neben solchen Funden, die Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten erlauben, kamen jedoch auch Tierreste zutage, die sich nur schwerlich interpretieren lassen. So wurde in einer Grube, die sich neben der frühneuzeitlichen Kirche befand, ein vollständig erhaltener Topf gefunden, der neben einigen kleinen Knochenfragmenten von Säugetieren und Vögeln fast ausschließlich die Überreste von Wechselkröten beinhaltete. Mindestens 15 Exemplare unterschiedlichen Individualalters konnten nachgewiesen werden. Es erscheint zwar durchaus möglich, dass dieser Befund intentionelles Handeln vor dem Hintergrund des Volksglaubens beziehungsweise Aberglaubens widerspiegelt, jedoch sind auch ganz natürliche Umstände für eine solche Fundvergesellschaftung wahrscheinlich. So könnte etwa der Hohlraum des Gefäßes im Boden ein geeigneter Rückzugsort für diese weitverbreitete Krötenart gewesen sein, an dem, im Laufe der Zeit, immer wieder Tiere verendeten.

Münzen und münzähnliche Gegenstände
Eine weitere bedeutende Fundkategorie stellen numismatische Objekte dar. Diese geben nicht nur wichtige Hinweise für die Datierung, sondern lassen auch tiefe Einblicke in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu. Die Ausgrabungen auf dem Michelberg ergaben 104 Münzen und einen Rechenpfennig, ein münzähnlicher Gegenstand, der zum Rechnen auf Linien verwendet wurde und weite Verbreitung fand. Der Rechenpfennig wurde aus Messing hergestellt, stammte aus Nürnberg und datiert aus dem 18. Jahrhundert.

Die Münzreihe vom Michelberg setzt jedoch schon deutlich früher ein. Neben einem römischen Follis des Kaisers Diocletian (284–305), der vermutlich sekundär auf den Michelberg gelangte, fanden sich Münzen des 11. bis 20. Jahrhunderts. Das früheste mittelalterliche Stück ist ein ungarischer Denar von König Salomon (1063–1074), der zur Frage der ungarischen Präsenz in der Region westlich der March und nördlich der Donau einen wichtigen neuen Fundbeleg darstellt. Nach dem Beginn der ungarischen Münzprägung um 1015 waren diese Denare im nördlichen Niederösterreich bald präsent.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_002_1044:
Ungarn, König Salomon (1063–1074), Denar, Münzstätte Gran. Silber; Durchmesser 17,3 mm; Gewicht 0,51 g,


Av. foto: hanna pietsch, universität wien MM_002_1044:
Ungarn, König Salomon (1063–1074), Denar, Münzstätte Gran. Silber; Durchmesser 17,3 mm; Gewicht 0,51 g, Rv.

Der wichtigste Fundort solcher Stücke ist der Oberleiser Berg, auf dem sich im 11. Jahrhundert vermutlich ein Marktplatz oder ein ähnliches wirtschaftliches Zentrum befunden haben dürfte. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurden die Ungarn nach Osten zurückgedrängt, was sich in einem Abnehmen der Funde ungarischer Denare widerspiegelt. Erst im Laufe des 12. Jahrhunderts breiten sich einheimische Münzen aus den Münzstätten Krems und Neunkirchen in diesem Raum aus. Münzen aus dem 12. Jahrhundert sind auf dem Michelberg allerdings nicht vertreten. In der weiteren Münzreihe sind das 14. und 15. Jahrhundert mit jeweils um die 30 Münzen besonders stark repräsentiert.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_004_0252:
Österreich, Herzog Rudolf III. (1298–1306), Wiener Pfennig, Münzstätte Wien. Silber; Durchmesser 18,9 mm; Gewicht 0,88 g, Av.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_004_0252:
Österreich, Herzog Rudolf III. (1298–1306), Wiener Pfennig, Münzstätte Wien. Silber; Durchmesser 18,9 mm; Gewicht 0,88 g, Rv.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_042_1989:
Österreich, Herzog Albrecht V. (1411–1439), Hälbling, Münzstätte Wien. Silber; 11,9 x 10,7 mm; Gewicht 0,22 g, Av.

Insgesamt zeigt die Münzreihe vom Michelberg Auffälligkeiten, wie sie bei Münzfunden aus Kirchen immer wieder beobachtet werden: Drei Viertel der Münzen sind Pfennige oder Hälblinge bzw. Heller (1/2 Pfennige), wobei ungewöhnlich viele Hälblinge gefunden wurden. Das größte Nominale ist ein Groschen, also eine Münze zu drei Kreuzer oder zwölf Pfennige, die auch noch zum Kleingeld zählt. Es handelt sich also durchwegs um Klein- und Kleinstgeld, größere Münzen fehlen vollständig.

Auf der Ausgrabung gab es Bereiche, an denen sich Münzfunde auffällig konzentrierten, jedoch ist durch die oftmaligen Erdbewegungen im Zuge der Umbauten und des Kirchenabbruchs mit deutlichen Verlagerungen zu rechnen, die eine Rekonstruktion der ursprünglichen Fundverteilung verunmöglichen. Prinzipiell kann aber auch die Position von Fundmünzen im archäologischen Befund Rückschlüsse auf Einrichtungen – im Falle von Kirchen etwa Opferstöcken – oder bestimmte Handlungen zulassen.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_061_0913:
Österreich, Friedrich V. (1439–1493), Zweier (2 Pfennig, ab 1481), Münzstätte Wien. Silber; Durchmesser 13,9 mm; Gewicht 0,40 g, Av.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_061_0913:
Österreich, Friedrich V. (1439–1493), Zweier (2 Pfennig, ab 1481), Münzstätte Wien. Silber; Durchmesser 13,9 mm; Gewicht 0,40 g, Rv.


foto: hanna pietsch, universität wien MM_075_0777:
Österreich, Leopold I. (1657–1705), Gröschel 1669, Münzstätte Oppeln. Silber; Durchmesser 16,0 mm; Gewicht 0,60 g, Av


foto: hanna pietsch, universität wien MM_075_0777:
Österreich, Leopold I. (1657–1705), Gröschel 1669, Münzstätte Oppeln. Silber; Durchmesser 16,0 mm; Gewicht 0,60 g, Rv.

Fundmünzen liefern somit wichtige Erkenntnisse über den Fundort, aber sie sind auch Mosaiksteinchen für größere Fragen nach der Geldgeschichte und dem Geldumlauf, in diesem Fall im nördlichen Niederösterreich und im Donauraum. Die Erfassung solcher Einzelfundmünzen ist deshalb nicht weniger wichtig wie die von spektakulären Tongefäßen, die randvoll mit Münzen sind. (Herbert Böhm, Hubert Emmerig, Karin Kühtreiber, 7.2.2019)

Herbert Böhm ist projektbezogener Mitarbeiter am Vienna Institute for Archaeological Science der Universität Wien und an mehreren nationalen und internationalen Forschungsprojekten als Archäozoologe beteiligt.

Hubert Emmerig ist Numismatiker am Institut für Numismatik und Geldgeschichte der Universität Wien. Die Erfassung von Münzfunden und Fundmünzen des Mittelalters und der Neuzeit aus dem Raum des heutigen Österreich ist einer seiner Arbeitsschwerpunkte.

Karin Kühtreiber
ist Mittelalter- und Neuzeitarchäologin und seit vielen Jahren in nationalen und internationalen Forschungsprojekten tätig. Ihre bisherigen Forschungsschwerpunkte betrafen Fragen bezüglich der mittelalterlichen Keramikentwicklung, der Burgen- und Siedlungsarchäologie sowie des frühneuzeitlichen Bestattungswesens.


Danksagung: Für die Unterstützung bei der Bearbeitung der Krötenknochen sei Norbert Frotzler, Institut für Paläontologie an der Universität Wien, sehr herzlich gedankt.
Der Michelberg: Zum Alltagsgeschehen rund um mittelalterliche und neuzeitliche Kirchen - derStandard.at
 
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