Echt | 02.11.2010 | 21.15 Uhr
Wie kam es zum Erdrutsch von Nachterstedt?
Wenige Zeit vor der Katastrophe flog der Pilot Helmut Witte über mehrere Äcker am Concordiasee, um sie zu fotografieren. Den Auftrag dazu hatte der Landwirt Herbert Lisso gegeben. Er wollte mit den Luftaufnahmen Aufschluss über den Bewuchs seiner Felder erhalten. Immer wieder ist bei den Aufnahmen auch der See ins Bild gekommen. Nach dem Erdrutsch hat sich Helmut Witte diese Aufnahmen noch einmal genauer angesehen. Diesmal betrachtete er aber nicht die Äcker, sondern den See - und machte dabei eine interessante Entdeckung: Direkt neben der Nachterstedter Böschung trübte sich das Wasser schwarz. Einen Monat vor der Katastrophe wurde aus der Trübung eine riesige Schlammwolke. Nachdem Witte im Juli in "Echt" die Vermutungen des Bergbau-Experten Dr. Michael Lersow hörte, entschied er sich, ihm die Aufnahmen zukommen zu lassen.
Blick auf Wohnhäuser an der Erdrutsch-Abruchstelle am Concordia-See in Nachterstedt
Nachterstedt nach dem Erdrutsch: Hat sich die Katastrophe angekündigt?
Enormer Druck hinter der Böschung
Die Bilder bestätigen Lersows Vermutung, die spätere Verdichtung der Böschung habe dem Grundwasser den Zufluss zum See versperrt. Die Trübungen und später die Schlammwolke direkt neben der Böschung zeigen, dass hier das Wasser unter hohem Druck stand und sich an dieser Stelle seinen Weg in den See gebahnt hat.
"In der Böschung sind - das werden alle Fachleute sagen - noch genügend kohlehaltige Schichten vorhanden. Da ist etwas aufgebrochen und es hat sich eine riesige Kohle-Schlamm-Lawine in den See entladen. "
Dr. Michael Lersow
Auf einem Luftbild, das zwei Tage nach der Katastrophe gemacht wurde, wird sichtbar, wie stark der Grundwasserdruck war: Nach dem verheerenden Erdrutsch strömt Grundwasser ungehindert in den See und reißt gewaltige Schlammassen mit.
Der Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV), die für den ehemaligen Tagebau zuständig ist, hat über den Gebiet Kontrollflüge durchgeführt. Warum ist niemandem aufgefallen, dass mit der Nachterstedter Böschung etwas nicht stimmt? Nach Dr. Michael Lersow hätten die Fotos zwar bei der Beurteilung der Situation helfen können. Allerdings habe es mit den Wasserständen in den Grundwassermessstellen auch andere Hinweise gegeben:
"Daran hätte man erkennen können, dass auf der Nachterstedter Böschung ein Riesendruck gelastet hat"
Dr. Michael Lersow
Früher wurde der Grundwasserspiegel durch Alarmbrunnen und Pumpen stabil gehalten. Als sie 1992 abgeschaltet wurden, stieg der Grundwasserspiegel an. Dass sich gewaltige Mengen Grundwasser hinter der Böschung des Concordiasees anstauten, zeigen auch Foto von Äckern, die unter Wasser stehen. Die Folgen bekam Landwirt Herbert Lisso, der auch die Luftaufnahmen in Auftrag gegeben hatte, als erster zu spüren. Auf einem rund 1.000 Meter vom Concordiasee entfernten Acker machte er im September 2007 nach mehreren Tagen mit heftigem Regen eine Entdeckung:
"Wir stellten fest, dass wir Brüche auf dem Feld hatten, und zwar in dem Bereich, wo vor ungefähr 100 Jahren hier der erste Tagebau betrieben wurde. Es waren aber nicht nur die Brüche zu sehen, sondern, wenn man an diese Brüche heranging, hörte man dort Wasser rauschen."
Herbert Lisso
Erdrutsch in Nachterstedt 2009
Experten gehen von einem enormen Grundwasserdruck hinter der Böschung aus.
Bis zu zehn Meter breit waren die Erdbrüche. Dieses Rauschen darin habe sich für Lisso so angehört, "als ob es von einer höheren Ebene in eine tiefere Ebene fällt." Landwirt
Lisso meldete den Vorfall der LMBV. Die Löcher wurden zugeschüttet. Damit gab es einen weiteren Hinweis, dass der Grundwasserdruck auf die Nachterstedter Böschung zunahm.
Gleichzeitig schritten die Baumaßnahmen am Ufer voran, die den Durchfluss zum Concordiasee behinderten.
Gefahr noch nicht gebannt
"Echt" hat die Fotos Peter Keck, einem weiteren Fachmann, vorgelegt. Keck leitete in den 1990iger-Jahren das Oberbergamt in Halle. Er war selbst mit der Sanierung des Concordia Tagebaus befasst und stimmt Lersows Modell zu. Wie Lersow kann auch er nicht nachvollziehen, warum das die LMBV erst Ende 2011 ein Gutachten vorlegen will. Und er sieht die Gefahr noch nicht gebannt:
"Mir erscheint der Zeitraum, bis sich hier gutachterlich geäußert wird, eigentlich zu lang - auch aus der Gefahrensituation heraus. Denn das Grundwasser fließt ja weiter zu und der Druck wirkt ja zumindest in gleicher Größenordnung weiter. Es wird notwendig, zumindest vorbeugende Maßnahmen einzuleiten, um die ganze Situation kontrolliert in den Griff zu bekommen."
Peter Keck
LMBV-Sprecher: Kein einfacher Prozess
Vertreter der LMBV, die "Echt" mit Luftaufnahmen und den Schlüssen der Experten konfrontierte, wollen sich aber nicht unter Druck setzen lassen. Pressesprecher Dr. Uwe Steinhuber sieht die Sachlage komplizierter:
"Wenn es eine einfache Antwort gegeben hätte, wie es manch Kaffeesatzleser denkt, der sich als Experte hier selber bemüßigt fühlt, ... dann wäre die Antwort schon längst da. Dann wäre es schon für jeden nachvollziehbar, dann wäre es ein einfacher Prozess gewesen. Aber der ist es nicht."
Dr. Uwe Steinhuber, Pressesprecher der LMBV
Trotzdem werden die Schlüsse von Lersow und Keck nicht abgelehnt. Auch die Fotos will man im Zuge der eigenen Untersuchungen auswerten.
"Auf jeden Fall können die Gutachter keinen der Gründe, die Sie genannt haben, derzeit ausschließen."
Dirk Henssen, LMBV, Projektgruppe Nachterstedt
Vielleicht bringen die Fotos ja auch die Untersuchungen der LMBV voran. Demnächst will man sich über Pontons der Unglücksstelle nähern, um auch dort Bohrungen vorzunehmen. Zeitlich bleibt es dabei: Frühestens im Sommer 2012 können Teile des Concordiasees wieder freigegeben werden.
Während in Nachterstedt noch nach Ursachen gesucht wird, gab es am 12. Oktober im ehemaligen Tagebau Spreetal bei Hoyerswerda einen gewaltigen Erdrutsch. Ein Landstreifen von 1,8 Kilometer Länge und 600 Breite rutschte in die Tiefe. Wie durch ein Wunder kamen keine Menschen zu Schaden. Wie lange wird die Ursachenforschung hier dauern? Und können sich solche Ereinisse wiederholen?
Der Druck auf die Bergämter und die LMBV wächst. Und zumindest im Fall Nachterstedt mahnt Dr. Michael Lersow zur Eile:
"Die Tagebausanierung in Ostdeutschland ist eine Erfolgsgeschichte und das soll sie auch bleiben. Also sollte man alles tun, um zu zeigen, dass man dieses schlimme Ereignis aufarbeiten kann."
Dr. Michael Lersow