Neandertaler und danach - Geschichtsbuch der Steinzeit

josef

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#21
ÜPPIGE JAGDBEUTE
Neandertaler erlegten regelmäßig riesige Rüsseltiere
Eine neue Analyse zeigt, dass die Jagd auf Waldelefanten keineswegs Einzelfälle waren. Dies könnte auf Vorratswirtschaft und große Neandertalerversammlungen hindeuten
Neandertaler gingen gut organisiert auf die Jagd. Welchen Aufwand sie trieben, um offenbar auch eine größere Bevölkerung zu ernähren, bewies bereits ein spektakulärer Fund vor annähernd drei Jahren. Damals entdeckte ein Forschungsteam an der Fundstelle Neumark-Nord in einem ehemaligen Braunkohletagebau in Sachsen-Anhalt die Überreste von Europäischen Waldelefanten. In einer im vergangenen Februar vorgestellten Untersuchung bewiesen die Forschenden anhand von Schnittmarken, dass vor rund 125.000 Jahren über Jahrhunderte hinweg die riesigen Dickhäuter auf dem Speiseplan der Neandertaler standen.


Um einen ausgewachsenen Waldelefantenbullen niederzuringen, brauchte es vermutlich eine große Zahl hochmotivierter Neandertaler.
Illustr.: Alex Boersma/PNAS

Ein solches Wesen zu erlegen war keine Kleinigkeit: Der vor spätestens 33.000 Jahren ausgestorbene Waldelefant (Palaeoloxodon antiquus) war ein Gigant, selbst im Vergleich zum modernen Afrikanischen Elefanten. Mit einer Schulterhöhe von bis zu vier Metern und einem Gewicht von über zehn Tonnen überragte ein Waldelefantenbulle sogar das Wollhaarmammut, was ihn zu einem der größten Rüsseltieren machte, die je auf der Erde gewandelt sind.

Verräterische Schnittspuren
Dass die Waldelefantenjagd keine alleinige Spezialität der Neandertaler von der Fundstelle Neumark-Nord war, untermauert nun eine neuerliche Analyse von Überresten zahlreicher entsprechender Mahlzeiten von anderen Ausgrabungsstätten. Die Forschungsgruppe um Sabine Gaudzinski-Windheuser von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz identifizierte an Knochenfunden aus Gröbern in Sachsen-Anhalt und Taubach in Thüringen zahlreiche unverkennbare Schnittspuren von Steinwerkzeugen.

"Die Ergebnisse der Untersuchung der Knochen aus Gröbern und Taubach zeigen nun, dass die Jagd von Neandertalern auf Waldelefanten keine Ausnahme, sondern regelhaftes Verhalten war", sagte Gaudzinski-Windheuser. Die Forscherin war bereits maßgeblich an der Untersuchung der Knochen in Neumark-Nord beteiligt gewesen.


Ein fossiler Beckenknochen eines Waldelefanten vom Fundort Gröbern. Schnittspuren weisen darauf hin, dass das Tier wohl Opfer einer Neandertaler-Jagdgruppe geworden ist.
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Ausgereifte Vorratshaltung
Wie das Team nun im Fachjournal "Pnas" berichtet, dürften die Jagdgewohnheiten der Neandertaler auch auf eine ausgefeilte Vorratshaltung hindeuten, denn die große Mengen an Fleisch und Fett, die ein Elefant abwirft, werden wohl nicht alle auf einmal verzehrt worden sein. Womöglich beherrschten die Neandertaler bereits Techniken, die es ihnen erlaubten, Nahrungsmittel zu konservieren und zu lagern.

Außerdem lässt sich aus diesen Elefantenjagden auch auf das Sozialleben der Neandertaler schließen: Um solche großen Tiere erlegen zu können, bedarf es großer Jagdgesellschaften, berichten die Forschenden im Fachjournal "Pnas". Die Beute einer erfolgreichen Elefantenjagd reichte dann auch für eine große Zahl von Menschen, was den Fachleuten zufolge ebenfalls Hinweise auf die Lebensweise des Neandertalers liefert.


Die rund fünf Millimeter langen Schnittspuren an dem Waldelefanten-Beckenknochen in der Vergrößerung.
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Große Neandertalergruppen
Nach Berechnungen der Wissenschafter könnte ein ausgewachsener Waldelefantenbulle den täglichen Kalorienbedarf von 2500 Neandertalern gedeckt haben. "Diese Zahl ist wichtig, denn sie führt zu neuen Einblicken in das Verhalten der Neandertaler", sagte Gaudzinski-Windheuser. Bisher war man eher davon ausgegangen, dass sich Neandertaler in Gruppen von kaum mehr als 20 Individuen zusammenschlossen. Doch die neuen Ergebnisse zur systematischen Jagd auf Waldelefanten deuten viel eher darauf hin, dass sich die Neandertaler zumindest zeitweise zu deutlich größeren Gruppen versammelt haben.
(tberg, red, 6.12.2023)

Studien
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#22
SCHLAF-WACH-RHYTHMIK
Neandertaler dürften Frühaufsteher gewesen sein
Wenn Sie eher zu den Lerchen als zu den Nachteulen gehören, dann könnte das mit Genvarianten zu tun haben, die wir von unseren ausgestorbenen Verwandten geerbt haben

Der frühe Neandertaler fing den Höhlenbären. Die "Morgentauglichkeit" unserer ausgestorbenen Verwandten dürfte eine Anpassung an die im Norden unterschiedlichen Tageslängen gewesen sein.
Images/iStockphoto

In der öffentlichen Meinung und in einschlägigen Gesundheitsstatistiken stehen die Frühaufsteher eindeutig besser da. Frühe Vögel, die laut Volksmund auch den Wurm fangen, gelten gemeinhin als leistungsbereiter und produktiver. (Obwohl eigentlich auch nachtaktive Eulen recht erfolgreich ihre Beute fangen.) In jedem Fall dürften menschliche Frühaufsteher gesundheitliche Vorteile haben, wie Untersuchungen immer wieder zeigen: So ermittelte eine Studie auf Basis von Daten der UK Biobank, dass Nachttypen ein höheres Sterberisiko haben.

Die UK Biobank umfasst die anonymisierten genetischen und gesundheitlichen Informationen von rund einer halben Millionen Personen, von denen sich rund 27 Prozent "definitiv als Morgenmensch" und neun Prozent "definitiv als Abendmensch“ deklarierten. 35 Prozent gaben an, "eher ein Morgenmensch" zu sein, 28 Prozent sahen sich "eher als Abendmensch". Wie die Forschung weiß, gibt es für diese Präferenzen genetische "Voreinstellungen", die nun von einem Wissenschafterteam um John Capra (University of California in San Francisco) auf ihre möglichen Ursprünge hin untersucht wurden.

Unterschiedliche Schlaf-wach-Rhythmen?
Die Hypothese der Forschenden: Womöglich haben wir bestimmte genetische Merkmale unseres Schlaf-wach-Rhythmus von den Neandertalern und/oder Denisovanern übernommen, denen nichtafrikanische Menschen ein bis zwei Prozent ihrer Erbsubstanz verdanken. Da sich die Entwicklungslinie der modernen Menschen vor rund 700.000 Jahren von diesen beiden ausgestorbenen nächsten Verwandten trennte und diese sehr viel früher in nördlicheren Regionen lebten, könnte das auch Auswirkungen auf die biologischen Uhren dieser Menschengruppen gehabt haben.

Als sich dann moderne Menschen vor rund 70.000 Jahren aus Afrika kommend weiter nach Europa und Asien vorwagten, trafen sie dort auf ihre gut angepassten Verwandten und paarten sich mit ihnen. Einige dieser für die neue Umgebung günstigen Genvarianten sind nachweislich auf die modernen Menschen übergegangen – während die meisten anderen, eher ungünstigen Neandertaler-Gene wieder "herausgemendelt" wurden.

Für einige Merkmale wurden solche Übernahmen bereits demonstriert: So dürften bei Neandertalern und/oder Denisovanern genetische Varianten im Zusammenhang mit der Anpassung an höher oder nördlicher gelegene Regionen entstanden sein, die im modernen Menschen fortleben. Die heutigen Bewohner des Hochlandes von Tibet etwa dürften sich dank dieser Gene an das Leben in dünnerer Luft angepasst haben. Auch die helle Haut der Mittel- und Nordeuropäer könnte ein Erbe der Neandertaler sein. Denn dadurch wird die Bildung von Vitamin D in nördlicheren Regionen erleichtert.

Morgentaugliche Neandertaler
Gilt diese genetische Übernahme auch für Gene, die den Tag-Nacht-Rhythmus regeln? Um diese Frage zu klären, untersuchten die Forschenden um den kalifornischen Bioinformatiker Capra, ob es genetische Hinweise auf Unterschiede in den biologischen Uhren von Neandertalern und modernen Menschen gibt. Mithilfe von Methoden der künstlichen Intelligenz ermittelten sie unter anderem 16 sogenannte circadiane Gene, die wahrscheinlich zwischen dem heutigen Menschen und unseren ausgestorbenen Verwandten unterschiedlich reguliert werden. Es scheint also funktionelle Unterschiede zwischen den Tag-Nacht-Rhythmen der Neandertaler und denen moderner Menschen zu geben, folgern die Forschenden im Fachblatt "Genome Biology and Evolution".

Im zweiten Schritt wurde analysiert, ob genetische Varianten, die von Neandertalern auf den modernen Menschen übergegangen sind, mit den Präferenzen für Wachsein und Schlaf in Verbindung stehen. Tatsächlich entdecke Capra mit seinem Team etliche dieser Varianten, die Auswirkungen auf den Tag-Nacht-Rhythmus hatten. Am auffälligsten war, dass diese Varianten durch die Bank die "Morgentauglichkeit" erhöhen, also die Neigung, früh aufzuwachen. Das stehe im Einklang mit Anpassungen an den nördlichen Breitengrad, schließen die Forschenden, die darauf verweisen, dass solche Adaptionen auch schon bei anderen Tieren (etwa Fruchtfliegen) beobachtet wurden.

Menschen, die zu den Frühaufstehern zählen, verfügen über eine etwas schnellere Taktung der circadianen Rhythmik. Der Tag-Nacht-Rhythmus beträgt bei ihnen etwas weniger als 24 Stunden, während die eher nachtaktiven Personen einen über 24 Stunden langen Rhythmus haben. In höheren Breiten – also weiter im Norden – ist eine kürzere Taktung vermutlich von Vorteil, denn sie erlaubt eine bessere Anpassung des Schlaf-wach-Rhythmus an äußere Signale wie die über das Jahr hinweg stark schwankenden Tageslängen. Dem entspricht, dass Frühaufsteher tendenziell eher in nördlichen Breiten anzutreffen sind. Und ihre Morgentauglichkeit ist, wie zu beweisen war, auch ein genetisches Erbe der Neandertaler. (tasch, 15.12.2023)
Neandertaler dürften Frühaufsteher gewesen sein
 

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#23
SENSATIONSFUND
Älteste Spuren des modernen Menschen in Zentraleuropa gefunden
Der Homo sapiens kam schon vor 45.000 Jahren über die Alpen – also tausende Jahre bevor der Neandertaler ausstarb. Die Mühen des Forschungsteams in einer deutschen Höhle haben sich gelohnt
Warum der Neandertaler ausgestorben ist, zählt noch immer zu den großen Rätseln der Menschheitsgeschichte. Bisher lag der Verdacht nahe, dass er womöglich gewaltsam vom modernen Menschen verdrängt wurde, der vor etwa 40.000 Jahren nach Europa kam und damit den Neandertaler ablöste. Doch die beiden Menschentypen dürften länger als bisher angenommen zeitgleich den Kontinent bevölkert haben. Das zeigt auch eine aufsehenerregende neue Studie im Fachjournal "Nature", die der renommierte Anthropologe Jean-Jacques Hublin leitete: Die bisher ältesten Hinweise auf den modernen Menschen nördlich der Alpen sind demnach mehr als 45.000 Jahre alt.

Das ist auch deshalb erstaunlich, weil es in dieser Region damals eher kalt und unwirtlich war. Klima und Landschaft seien vergleichbar mit den heutigen offenen Steppenlandschaften Sibiriens und Nordskandinaviens, wie die Studienergebnisse zeigen. Die Pioniere unter den Homo sapiens hielt das jedoch nicht davon ab, in neue Lebensräume im nördlichen Europa vorzudringen. Der Beweis dafür sind Skelettfunde im deutschen Bundesland Thüringen. Direkt unter der mittelalterlichen Burg Ranis in der gleichnamigen winzigen Stadt befindet sich die Ilsenhöhle, in der man bereits in den 1930er-Jahren bei Ausgrabungen auf Knochen stieß.

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In Ranis (Thüringen) stieß das internationale Forschungsteam auf beachtliche Funde.

Gemeinsame Technik
Die Knochen und gut 15 Zentimeter langen Steinklingen stammen aus dem gleichen Zeitraum. Der Datierung zufolge lebten dort schon vor 47.500 Jahren moderne Menschen, wenngleich es wohl nur wenige Gruppen waren, die sich damals derartig weit in den Norden wagten. Das prähistorische Werkzeug wird einer bestimmten Technikform zugeordnet, die in die Zeit des Übergangs von Neandertalern zum Homo sapiens fällt. "Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von modernen Menschen stammen", sagt Hublin, der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der mittlerweile am Collège de France in Paris forscht.


Unter der Burg Ranis (links) liegt der Eingang zur Ilsenhöhle, in der beidseitig bearbeitete Steinklingen (rechts; aus dem sogenannten Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Kulturkomplex, kurz LRJ) und menschliche Knochen entdeckt wurden.
Tim Schüler, TLDA / Josephine Schubert, Museum Burg Ranis

Auch ist nun klar, dass Homo sapiens früher in dieser zentraleuropäischen (und damit ziemlich weit im Nordwesten liegenden) Region auftauchte, als man ihn dort erwartet hätte. Erst tausende Jahre später dürften die letzten Neandertaler im Südwesten Europas ausgestorben sein – abgesehen von den etwa ein bis zwei Prozent Neandertaler-Erbgut, das sie in den meisten heute lebenden Menschen hinterlassen haben.

Nicht nur die neuen Grabungen unter einem immensen Felsen lieferten die spektakulären Erkenntnisse für insgesamt drei Publikationen, auch die kleinen Knochenteile von 1932 bis 1938 wurden neu analysiert. Dabei handelte es sich nicht nur – wie damals gedacht – um Tierknochen, erzählt Paläoanthropologin und Studienautorin Hélène Rougier von der California State University Northridge: "Diese mühsame Arbeit wurde durch die Entdeckung einiger neuer Menschenknochen belohnt."


Bei den neuen Ausgrabungen, die zwischen 2016 und 2022 stattfanden, stießen die Expertinnen und Experten auf weitere menschliche Knochen.
Tim Schüler TLDA, License: CC-BY-ND

Schicht im Schacht
Beschwerlich war auch die neue Grabung bis in acht Meter Tiefe. In diesem Bereich sei auch in den 1930er-Jahren gegraben worden, wobei unklar war, ob in den Sedimenten noch unentdeckte Funde übrig waren, sagt Studienautor Marcel Weiss, der mittlerweile an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig ist. "Glücklicherweise trafen wir auf einen 1,7 Meter mächtigen Felsblock, unter dem damals nicht gegraben wurde", sagt der Archäologe. Der Brocken wurde mühsam in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert. Darunter stieß das Team auf Schichten mit menschlichen Knochenresten – "eine große Überraschung", wie Weiss betont.


In acht Meter Tiefe unter Gestein stießen Fachleute in der Ilsenhöhle auf neue prähistorische Spuren.
Marcel Weiss, License: CC-BY-ND 4.0

Das Team, zu dem auch die an der Universität Wien tätigen Fachleute Michael Hein und Mareike Stahlschmidt gehören, analysierte tausende Knochensplitter, unter denen sich viele Tierreste befanden. Dabei wurde die Form der Knochen untersucht, aber auch ihre DNA und Spuren ihrer Proteine. Sie zeigten, dass die Höhle abwechselnd von verschiedenen Spezies bewohnt wurde – darunter überwinternde Höhlenbären sowie Hyänen.

Tierisch kalt
Die Menschen, die sich hier befanden, dürften die Ilsenhöhle nur relativ kurzzeitig genutzt haben. Die Bearbeitungsspuren deuten auf ein facettenreiches Beutespektrum hin, vermutlich ernährten sie sich etwa vom Fleisch ansässiger Rentiere, Pferde und Wollnashörner. "Bisher ging man davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedingungen erst mehrere Tausend Jahre später entstand", sagt Studienautorin Sarah Pederzani vom Leipziger Max-Planck-Institut, daher überraschte die frühe Ansiedlung im heutigen Thüringen. Sogar während einer besonders kalten Zeit vor 45.000 bis 43.000 Jahren, in der sich die Klimabedingungen verschärften, überlebten die Menschen und suchten Zuflucht in der Höhle. "Vielleicht waren kalte Steppen mit größeren Herden von Beutetieren für diese Menschengruppen attraktiver als bisher vermutet."


Tierknochen mit Werkzeugspuren deuten darauf hin, dass der moderne Mensch vor 45.000 Jahren Wild verzehrte, sich aber auch über die Kadaver von Fleischfressern wie Wölfen hermachte.
Geoff M. Smith, License: CC-BY-ND 4.0

Mehrere menschliche Knochen aus den alten und neuen Funden enthielten die gleichen Sequenzen mitochondrialer DNA, also des Erbguts, das sich in den sogenannten Kraftwerken der Zellen befindet, die über die mütterliche Linie vererbt werden. Daraus schließen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, dass es sich entweder um dasselbe Individuum handeln könnte oder um enge Verwandte mütterlicherseits.

Die Sensationsfunde zeichnen ein neues Bild von den vielleicht ersten anatomisch modernen Siedlerinnen und Siedlern im Zentrum Europas, die sich trotz widriger Bedingungen behaupten konnten. Ähnlich wie die Studien des französischen Archäologen Ludovic Slimak zeigen sie, dass Homo sapiens früher als angenommen Teile des Kontinents besiedelte: Slimak vermutet, dass dies in drei größeren Migrationswellen geschah, die älteste soll schon vor 54.000 Jahren stattgefunden haben. Außerdem teilten moderne Menschen damals wohl eine spezielle Technik der Steinbearbeitung mit ihren Neandertaler-Zeitgenossen – ein Indiz, das auf ähnliche Fähigkeiten und vielleicht auch kulturellen Austausch schließen lässt.
(Julia Sica, 31.1.2024)
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#24
STEINZEITKLEBER
Neandertaler nutzten Kleber für Steinwerkzeuge
Ein Forschungsteam stellte die Mixtur nach einem Steinzeitrezept 40.000 Jahre später selbst her. Sie zeigt, dass Neandertaler und moderne Menschen ähnliche Techniken nutzten

Nicht alle Bestandteile von Werkzeugen erhalten sich über Jahrtausende. Ein Forschungsteam stieß beim Sichten alter Funde auf aufschlussreiche Pigmentspuren.
gorodenkoff/Images/Stockphoto

Man nehme Ocker und Bitumen und vermenge die Masse zu einer klebrigen Knete: Fertig ist der erste bekannte Mehrkomponentenkleber Europas. Vor mehr als 40.000 Jahren wurde er im französischen Le Moustier angemischt, einer bekannten Neandertalerfundstätte. Der Klebstoff dürfte gleichzeitig als Griff gedient haben. Ein internationales Forschungsteam produzierte vor kurzem eine Imitation dessen.

Eine Klinge wird in dem Gemisch fixiert, schon ist das Steinwerkzeug mit Griff fertig. Das mag trivial klingen, gilt aber als Beleg für fortgeschrittene Denkleistungen und Werkzeugkulturen. Auch einfachere Klebstoffe wie Baumharz wurden genutzt. Kleber mit mehreren Komponenten gehen nicht nur auf den Neandertaler zurück: In Afrika, wo wohl keine Neandertaler lebten, wurden ähnliche Mischungen noch höheren Alters entdeckt, die vom anatomisch modernen Homo sapiens stammen.

Für die neue Studie, die im Fachmagazin "Science Advances" erschien, untersuchte das Team um Ewa Dutkiewicz und Patrick Schmidt von der Universität Tübingen in Deutschland Fundstücke, die schon 1907 geborgen wurden. Nach ihrer Entdeckung durch den Schweizer Archäologen Otto Hauser landeten sie in einer Berliner Museumssammlung. "Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er-Jahren unberührt", erzählt Dutkiewicz. Erst kürzlich stieß man wieder auf sie und erkannte die wertvollen Objekte.


So könnte das Gemisch auch vor 40.000 Jahren zu einem Griff geformt worden sein. Es besteht zu 55 Prozent aus Ocker und ist nicht mehr klebrig.
Patrick Schmidt

Überraschende Mischung
An den fünf Steinwerkzeugen sind nämlich Spuren organischer Stoffe zu erkennen, die sich über die Jahrtausende erstaunlich gut erhalten haben. Bitumen ist ein schwarzes, flüssiges bis festes Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das natürlich im Boden vorkommt. Dort findet man je nach Region auch das Farbpigment Ocker, die Provence ist beispielsweise bekannt für die Ockerfelsen von Roussillon. Das Forschungsteam nimmt an, dass die beiden Bestandteile aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen wurden, bevor sie am Fundplatz in der Dordogne im Südwesten Frankreichs landeten.


Die vor mehr als 100 Jahren entdeckten Steinwerkzeuge von Le Moustier weisen orangefarbene Spuren des Ockerklebers auf.
Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Gunther Möller

Das Forschungsteam untersuchte die Klebespuren unter dem Mikroskop. "Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag", wird Erstautor Schmidt in einer Aussendung der Uni Tübingen zitiert. In Experimenten hatten er und seine Gruppe festgestellt, dass luftgetrocknetes Bitumen allein bereits als Klebstoff taugt, gibt man aber dermaßen viel Ocker hinzu, ist das Gemisch nicht mehr klebrig.

"Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet", sagt der Archäologe. Zusammen mit 55 Prozent Ocker ergebe sich eine formbare Masse. Sie ist klebrig genug, dass man eine Steinklinge darin befestigen kann, aber die Hände bleiben sauber. Das passt zur Verwendung der Masse als Griff. Diese These wird durch mikroskopische Untersuchungen der Gebrauchsspuren gestützt.


Das Gemisch von Bitumen und Ocker unter dem Mikroskop.
Staatliche Museen zu Berlin,Museum für Vor- und Frühgeschichte / Ewa Dutkiewicz

Ähnliche Denkmuster
Weil die Le-Moustier-Höhle bisher Neandertalern zugeordnet wurde, die dort vor 120.000 bis 40.000 Jahren lebten, gehen die Fachleute davon aus, dass die Werkzeuge ebenfalls von diesem Menschentypus stammen. Vor etwa 40.000 Jahren starb der Neandertaler aus, als der moderne Mensch bereits seit ein paar Jahrtausenden in Europa angekommen war. Die Gründe dafür sind unbekannt, womöglich gab es aber im Vergleich zu wenige und kleine Neandertalerpopulationen, die dann quasi im modernen Menschen aufgingen und in heute lebenden Menschen ein bis zwei Prozent ihrer DNA hinterlassen haben.


Flüssiges Bitumen und Ockerpulver vor dem Vermischen.
Patrick Schmidt

Beide Gruppen dürften sich in vielerlei Hinsicht geähnelt und komplexere Werkzeuge mit Klebegriffen hergestellt haben. "Was unsere Studie zeigt, ist, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln", sagt Schmidt. "Ihre verschiedenen Klebstofftechnologien haben die gleiche Bedeutung für unser Verständnis von der Menschwerdung."

Ganz ausgeschlossen ist nicht, dass die Neandertaler vom modernen Menschen lernten, wie man die Bitumen-Ocker-Mixtur herstellt. Es gibt aber auch weitaus ältere Hinweise auf Neandertalerpopulationen, die Birkenrinde erhitzten, um einen pechschwarzen Allzweckkleber herzustellen. Das Rezept hätten sie sich vermutlich auch selbst ausdenken können.
(Julia Sica, 24.2.2024)
Neandertaler nutzten Kleber für Steinwerkzeuge
 

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#25
KEULE STATT GEWEHR
Warum viele unserer Vorstellungen über die Steinzeit falsch sind
Kleinfamilie, Rassentheorie, Paläodiät: Unser Bild der Urgeschichte hängt vom Jetzt ab, sagt Kulturwissenschafterin Mira Shah. Das dient der Selbstfindung, kann aber auch problematisch sein
13. Juli 2024, 06:00

Archäologie bringt Licht ins Dunkel der unbekannten Urgeschichte, kann aber auch auf Umwege führen.
gorodenkoff / Stock

Vater, Mutter, Kind: Einst stellte man sich vor, dass Menschen schon in der Steinzeit wie die bürgerliche Kernfamilie zusammenlebten. Das Bild, das man sich im 19. Jahrhundert von der weit zurückliegenden Vergangenheit machte, hatte also vieles mit zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen gemein. Die Mutter hat das Kind im Arm, der Vater verteidigt die Familie – nur eben mit Keule statt Schwert oder Gewehr. Wilder, weniger zivilisiert.

Die Vorstellung der Urgeschichte ist relativ jung. Einen Meilenstein setzte vor knapp 200 Jahren der dänische Altertumsforscher Christian Jürgensen Thomsen, der das sogenannte Dreiperiodensystem vorstellte. Damit teilte er die europäische Urgeschichte in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit ein und orientierte sich dabei an den Materialien der genutzten Werkzeuge. "Wissenschaftshistorisch gibt es die Steinzeit als prähistorische Epoche, in der entsprechend alte Funde verortet werden, erst von diesem Punkt an", sagt Shah.

Spuren von Urmenschen
Zuvor herrschte die bibeltreue Auffassung, die Erde sei vor 6000 Jahren von Gott geschaffen worden. Sie geriet nicht nur durch säkularere Gesellschaften ins Wanken, sondern auch durch den engen Rahmen, den der Zeitraum darstellt, und die Einsicht: Die Erde und die Menschheit sind viel älter, als man gedacht hat. Laut Shah wurde dies "aber erst in den 1860er-Jahren zu voll akzeptiertem Wissen".

Von der Antike hatte man durch viele hinterlassene Texte eine gute Vorstellung, die Zeit davor war und ist wesentlich mysteriöser. Was schriftlichen Quellen wohl noch am nächsten kommt, sind steinzeitliche Höhlenmalereien. Sie zeugen "von einem Bewusstsein dafür, sichtbare Spuren für die Zukunft zu hinterlassen", sagt die Wissenschafterin. Für sie erklärt dies die große Faszination, die die Zeichnungen und Abdrücke heute ausüben, im Gegensatz zu diversen Werkzeugen.


Höhlenmalereien gelten vielen als Anfänge der Kunst oder sogar Vorstufen von Schrift. Die Überbleibsel inspirieren Menschen seit Jahrhunderten, hier in der spanischen La-Pileta-Höhle in der Nähe von Málaga.
Jorge Guerrero / AFP

Steinzeit in Buch und Serie
Begeisterung für die Urgeschichte machte Autorinnen und Autoren kreativ, die auch vor ideologischer Instrumentalisierung nicht zurückschreckten. Komparatistin Shah nennt etwa den Dänen Johannes Vilhelm Jensen: Er veröffentlichte 1908 Bræen, auf Deutsch: Der Gletscher. Ein neuer Mythos vom ersten Menschen. Der Roman und seine Nachfolger skizzieren eine kaltzeitliche Evolution zu einer überlegenen nordischen "Rasse", die über alle anderen herrschen soll. Ausgerechnet 1944 erhielt der Autor mit den problematischen Rassetheorien den Literaturnobelpreis. Noch expliziter wurde rassistische Ideologie beim deutschen Nationalsozialisten und Prähistoriker Gustav Riek. Der spätere SS-Hauptsturmführer, der schon 1929 in die NSDAP eintrat, schrieb 1934 in Die Mammutjäger vom Lonetal über die Ausrottung der Neandertaler durch die klügeren modernen Menschen.

Eine andere Perspektive nimmt der britische Nobelpreisträger William Golding ein, bekannt für Herr der Fliegen. In Die Erben (1955) wird Empathie für die Neandertaler deutlich, die gewalttätigen modernen Menschen begegnen. Einer jüngeren Zielgruppe wurde das Thema mit Ayla und der Clan des Bären (1980) der US-amerikanischen Bestsellerautorin Jean Marie Auel und den Folgewerken vertraut gemacht.

Im Bewegtbild zählt Familie Feuerstein aus den 1960er-Jahren zu den berühmten Beispielen, die das klassische Rollenbild in der humorisierten Steinzeit platzieren. Mittlerweile ist es "um die Imagination der Steinzeit ruhiger geworden", sagt Shah, die Umsetzung neuerer Forschungsergebnisse lasse auf sich warten. Durchlässiger sei das beim Thema Dinosaurier, also der vormenschlichen Prähistorie: "Allein im Jurassic-World-Franchise ist die visuelle Darstellung immer näher an neuen Erkenntnissen."


Betty! Wiiilmaaa! Familie Feuerstein und ihre Nachbarschaft sind das wohl bekannteste Beispiel für Steinzeit in der Popkultur.
Joe Klamar / AFP

Selbstfindung in der Urgeschichte
Während die Antike mit der Aufklärung lange als großes Vorbild galt, bezieht man sich heute in vielerlei Hinsicht auf die Steinzeit, findet Shah. Ob sie als Sehnsuchtsort zählt und für manch einen Stadtbewohner mit Burnout "zurück zur Natur" führt, ist fraglich. Wenn US-General Curtis LeMay 1965 schrieb, die Amerikaner könnten die vietnamesischen Kommunisten "in die Steinzeit zurückbomben", und der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Klimaschutz Verzicht als "Weg zurück in die Steinzeit" bezeichnete, war das sicher nicht positiv gemeint.

Doch die prähistorische Epoche wird auch zur Selbstfindung genutzt. Sie hilft laut der Wissenschafterin zu erklären, warum der Mensch ist, wie er ist: "Wie unsere Körper sind, wie wir essen, wie wir lieben, wie wir kämpfen und Gewalt ausüben, ob wir Empathie empfinden: All das wird nicht mehr an der Antike festgemacht, sondern in vielen Punkten an der Steinzeit."


Rekonstruktionen wie die hier gezeigte "Shanidar Z", eine Neandertalerfrau aus dem heutigen Kurdistan, die vor 75.000 Jahren lebte, sollen Urgeschichte greifbarer machen. Daneben sitzt Evolutionsbiologin Emma Pomeroy von der University of Cambridge in England.
Justin Tallis / AFP

Anthropologische Erkenntnisse geraten dabei in ein umstrittenes Grenzgebiet. "Vor allem seit den 2000er-Jahren ist die Steinzeit erstaunlich präsent", sagt Shah. Das australische Paar Allan und Barbara Pease prägte die Küchenpsychologie mit klischeebeladenen Büchern, in denen Geschlechterrollen auch auf die Steinzeit zurückgeführt wurden. Und die "Paläodiät" wurde populär, die eine fleischlastige Ernährung nach dem Vorbild der Altsteinzeit empfahl. Dass sich Menschen vor dem Ackerbau hauptsächlich von Großwild ernährten, daran gibt es etlichen Studien folgend große Zweifel.

Von der Kernfamilie zum Matriarchat
Klarerweise sind Dinge nicht per se besser, weil sie vielleicht schon viel früher so gemacht wurden oder natürlich scheinen. Trotzdem werde die Steinzeit gern als Argument einer solchen ideologisch geprägten Rückbesinnung herangezogen, wobei oft einfach Familienstrukturen und die gesellschaftliche Ordnung zurückprojiziert würden, sagt Shah.

Das gelte zudem für moderne Veränderungen: "In der Archäologie gibt es teils einen neuen Trend, Funde, die nicht richtig in das althergebrachte Muster der kämpfenden Männer und kochenden Frauen passen, mit Genderdiversität zu erklären und den Deutungsrahmen dafür zu öffnen." Das sehe man auch an Hypothesen zu frühen Matriarchaten. Dies sei nachvollziehbar, gleichzeitig warnen vorsichtige Stimmen davor, in ein ähnliches Muster zu verfallen und heutige Lebensweisen in unser Bild der Vergangenheit zu kopieren. Die "richtige Deutung" bleibt unklar.


Eine Rekonstruktion des später als Fälschung entlarvten englischen Piltdown Man. Bei Frühmenschen und Neandertalern wurde lange Zeit Wert darauf gelegt, ihre Nähe zum Tierischen und ihre Hässlichkeit zu betonen.I
mago / Gemini Collection

Kolonialistische Anklänge
Zusätzlich versucht die Wissenschaft, durch Beobachtung moderner Jäger-Sammler-Gemeinschaften Erkenntnisse über prähistorische Pendants zu gewinnen. Das stößt aber wieder an Grenzen und führt zu skurrilen Begebenheiten. So gibt es am Bernischen Historischen Museum, wo Shah arbeitet, einen in der Archäologie verorteten Bestand aus einer Expedition ins arktische Nordamerika, um Objekte lebender Inuit zu sammeln.
Dies würde besser in die ethnografische Abteilung passen, auch wenn die reisenden Archäologen vor mehreren Jahrzehnten die Gegenstände für den Vergleich mit der europäischen Steinzeitkultur der Kaltzeiten nutzen wollten. Dabei geht es nicht nur um sinnvolle Schubladen: Sucht man Ähnlichkeiten von zeitgenössischen Inuit und europäischen Steinzeitmenschen, neigt man dazu, "eine lebende Gesellschaft ganz in der Vergangenheit zu verorten", sagt Shah.


Das Bild, das wir uns von der Steinzeit machen, ist stark von unserer eigenen Gesellschaft geprägt.
gorodenkoff / iStock

Fehler wie Artensterben nicht wiederholen
Im Gespräch mit selbstkritischen Archäologinnen und Archäologen hört die Kulturwissenschafterin oft, man müsse akzeptieren, dass die weit zurückliegende Menschheitsvergangenheit sehr fremd ist und man jedes Wissen darüber aus der Gegenwart ableiten muss. Es wäre auch falsch, die Archäologie abzutun, weil alles nur ausgedacht sei: Immerhin gibt es Funde, und um diese interpretieren zu können, nimmt man sich das Privileg heraus, Vergleiche anzustellen.

Man müsse aber genau überlegen, welche Spekulationen man sich über diese uns fremde Welt erlaubt – von der wissenschaftlichen Arbeit bis zur Popkultur. "Es ist anscheinend etwas sehr Menschliches, auch tief in der Vergangenheit einen Sinnzusammenhang zu suchen, aber ist man sich dabei bewusst, dass man damit ein Bedürfnis befriedigt? Oder geht man davon aus, dass das unhinterfragt stimmt?", fragt Shah. Gleichzeitig könne man aus der Vergangenheit lernen: "Wenn es etwa um Waldrodung und die Ausrottung von Arten geht, muss man nicht die gleichen Fehler wiederholen."
(Julia Sica, 13.7.2024)
Warum viele unserer Vorstellungen über die Steinzeit falsch sind
 

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#26
VORTEIL FÜR SPEERSCHLEUDER
Speerspitzen in Europa und Israel belegen steinzeitlichen Technologietransfer
Ungewöhnliche Feuersteinsplitter aus Israel konnten nun als Speerspitzen identifiziert werden. Das deutet auf Migration aus Europa hin

Die Speerspitzen sind nicht viel größer als eine Ein-Cent-Münze. Sie saßen zum Teil als Lamellen seitlich am Speer. Diese stammen aus Österreich.
ÖAW-ÖAI/Hannah Rohringer

Die Geschichte der Menschheit wurde schon von jeher durch Technologie bestimmt. Das geflügelte Beispiel ist die Erfindung des Rades, doch bereits davor gab es entscheidende Innovationen, die unserer Spezies entscheidende Überlebensvorteile verschafften. So setzte sich vor mehr als 42.000 Jahren eine besonders leichte und kleine Form von Speerspitzen in Europa durch.

Auch aus Israel sind Funde von ähnlichem Aussehen bekannt, die rund zwei- bis sechstausend Jahre später verwendet wurden. Ob es sich wirklich um Speerspitzen handelte, war aber fraglich. Das konnte nun geklärt werden, wie ein Forscherinnenteam der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Hebräischen Universität Jerusalem im Fachjournal Plos One berichtet. Die Studie wirft Fragen zum Technologietransfer in der Steinzeit sowie möglicher Migration in die Levante auf.

Spitze Feuersteinklingen
"Bei der sogenannten Dufour-Lamelle handelt es sich um eine kleine Klinge aus Feuerstein, die nicht viel größer ist als ein Ein-Cent-Stück", erklärt die Archäologin Hannah Rohringer (bekannt auch unter ihrem früheren Namen Parow-Souchon) vom Österreichischen Archäologischen Institut der ÖAW. Bei ihrer Herstellung sei ein Stück Feuerstein aufgesammelt oder aus Felswänden gelöst und danach als Kern in einem spezifischen, spitz zulaufenden Winkel präpariert worden. Von dem Kern konnten danach wiederum kleine Teile abgeschlagen und zu den spitzen Projektilen umgeformt werden. Dabei ergaben sich auch charakteristische Bearbeitungsspuren. Mehrere so gewonnene Spitzen, die laut der Forscherin wesentlich leichter, kleiner und besser reproduzierbar waren als ihre Vorgänger, wurden dann an einem Speerschaft angebracht.


Dieser Schauspieler nutzt eine Speerschleuder. So dürften die Speere geworfen worden sein.
ÖAW-ÖAI/Hannah Rohringer

Im sogenannten Aurignacien, einer Kultur mobiler Jäger und Sammler, die etwa von 40.000 bis 30.000 vor unserer Zeit in Europa präsent war und durch Kunstwerke wie etwa der Venus vom Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb in Deutschland besonders bekannt ist, wurden die Waffenspitzen verwendet. Neben künstlerischen Artefakten werden die Dufour-Lamellen sogar als ein Erkennungsmerkmal der Kultur verstanden. "Ob aber ähnliche in Israel gefundene Artefakte demselben Zweck dienten, galt lange als umstritten", so Rohringer. "Wir konnten nun anhand der Spuren von Produktions- bzw. Umformungsabfällen in der Hayonim Cave in Israel nachweisen, dass es sich um die gleiche Herstellungsmethode und das gleiche Zielprodukt gehandelt hat." Somit könne auch ein enger kultureller Zusammenhang zwischen dem europäischen und dem levantinischen Aurignacien belegt werden. Dabei ergebe sich die Frage, ob dem Auftauchen der Technologie in Israel eine Migrationsbewegung oder der Austausch von Ideen zugrunde liegt.

Hinweise auf Speerschleuder
Außerdem könnten die winzigen Projektile eine weitere Innovation bedingt haben, so die These der Forscherinnen: Die sehr leichten Lamellen sind möglicherweise für den Gebrauch der Speerschleuder, die durch einen einfachen Hebel die Reichweite der Speere von Steinzeitjägern auf bis zu 250 Meter erhöht hat, äußerst wertvoll gewesen, weil sie deren Balance nicht verändert haben. Dementsprechend wäre die Flugbahn der Speere von den leichten Spitzen kaum beeinträchtigt gewesen.


n der Hayonim Cave in Israel fanden sich aufschlussreiche Produktionsabfälle der Speerspitzen.
ÖAW-ÖAI/Hannah Rohringer

Da hölzerne Speerschäfte und -schleudern allerdings nur im absoluten Ausnahmefall lange Zeiträume überdauern und Forschenden zur Verfügung stehen, sei ein letztgültiger Beweis dafür äußerst schwer zu erbringen, räumte die Forscherin ein. "Ich persönlich glaube aber nicht, dass sich die steinzeitlichen Menschen nur von einer spezifischen Methode der Steinbearbeitung begeistern ließen – deswegen die Vermutung, dass die Ausbreitung der Technologie mit einer neuen, effektiven Waffe wie der Speerschleuder zusammenhing", erklärte Rohringer.

Nun soll geklärt werden, ob es direkte Migrationswege zwischen Europa und Levante gegeben hat oder ob sich die Technologie Schritt für Schritt bis in den östlichen Mittelmeerraum ausbreitete. Dabei sollen auch Forschungen an Fundorten entlang des Donaukorridors helfen, unter anderem in Österreich.
(red, APA, 26.7.2024)
Speerspitzen in Europa und Israel belegen steinzeitlichen Technologietransfer
 

josef

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#27
Riesige Landschaftsarchitekten
Waldelefanten am Speisezettel der europäischen Neandertaler
Ein Forschungsteam rekonstruierte das Ökosystem der damaligen Riesen und zeigte, welche Rolle die Megafauna auch für den heutigen Naturschutz spielt
Auf dem Speisezettel der europäischen Neandertaler stand vor über 100.000 Jahren vor allem Wild. Dazu zählten neben herkömmlichem Rotwild, Bison, Pferd oder Wildschwein auch einige Großwildarten – und mit Großwild ist tatsächlich riesig gemeint: Zahlreiche archäologische Funde beweisen, dass Neandertaler in gut organisierten Gruppen auch Jagd auf gewaltige Elefanten machten.

Diese Dickhäuter des europäischen Pleistozän zu erlegen, war keine Kleinigkeit: Der vor spätestens 33.000 Jahren ausgestorbene Waldelefant (Palaeoloxodon antiquus) war selbst im Vergleich zum modernen Afrikanischen Elefanten ein Gigant. Mit einer Schulterhöhe von bis zu vier Metern und einem Gewicht von über zehn Tonnen überragte ein Waldelefantenbulle sogar das Wollhaarmammut, was ihn zu einem der größten Rüsseltiere machte, die je auf der Erde gewandelt sind. Das imposante Tier hat über einen Zeitraum von rund 700.000 Jahren die Wildnisse Europas mitgestaltet. Die letzten Vertreter der Gattung dürften als Zwergformen auf einigen Mittelmeerinseln sogar bis in die Jungsteinzeit überlebt haben.


Palaeoloxodon mag in unseren Breiten ein wenig fehl am Platz wirken. Tatsächlich aber war der riesige Elefant in Europa rund 700.000 Jahre lang an der Landschaftsgestaltung beteiligt.I
llustr.: Chen Yu

Waldelefanten in Europa
Man möchte vermuten, dass die modernen klimatischen Bedingungen in Europa den damaligen Waldelefanten insbesondere während der kalten Jahreszeit jedoch zu ungemütlich wären – doch das wäre eine ziemliche Fehleinschätzung, wenn es nach den Ergebnissen einer aktuellen Studie geht: Ein Forschungsteam der Universität Bayreuth hat entsprechende Fossilfunde mit Rekonstruktionen des vergangenen Klimas kombiniert und ist dabei zu dem Schluss gekommen: Auch heute noch könnten Waldelefanten in unseren Breiten ohne Probleme existieren.

Elefanten gelten als sogenannte Ökosystemingenieure. Allein schon ihre Präsenz verändert die Umwelt, in der sie leben, in einem entscheidenden Ausmaß. Sie fressen ganze Sträucher, reißen kleine Bäume nieder, graben Wasserlöcher und schaffen so auch Lebensräume für andere Arten. Dass ein solcher Einfluss nicht nur im tropischen Afrika, sondern auch im einstigen Europa eine Rolle gespielt hat, ist eine der zentralen Ergebnisse der Forschungsgruppe um Manuel Steinbauer.

Keineswegs im Wald daheim
Der europäische Waldelefant, der mehrere Eiszeiten überdauerte und erst in der letzten Kaltzeit unter anderem durch menschliche Bejagung verschwand, hat laut den Forschenden aktiv zur Schaffung offener oder halboffener Landschaften beigetragen. Solche Strukturen wiederum boten ideale Bedingungen für zahlreiche Pflanzenarten, die auch heute noch in Europa vorkommen.

"Der deutsche Name 'Waldelefant' entstammt der Annahme, dass diese Art bevorzugt in bewaldeten Regionen Europas lebte. Fossilfunde zeigen jedoch, dass P. antiquus oft in offenen oder halboffenen Habitaten mit mosaikartiger Vegetation lebte, ähnlich wie moderne Elefanten", sagte Steinbauer.

Um das tatsächliche Habitat dieser ausgestorbenen Art zu rekonstruieren, durchforstete das Team um Steinbauer und die Erstautorin der Studie, Franka Gaiser, paläontologische Datenbanken und wissenschaftliche Literatur. Die Funde wurden sogenannten Marine Isotope Stages (MIS) zugeordnet – Abschnitte in der Erdgeschichte, die anhand von Sauerstoffisotopen Klimaveränderungen dokumentieren und somit Warm- oder Kaltzeiten abbilden.


Zumindest klimatisch würde es schon passen: Die Karte zeigt in Grün jene Regionen Europas an, wo sich der Waldelefant noch heute wohlfühlen würde. Mit schwarzen Punkten sind Fossilfunde markiert.
Grafik: Universität Bayreuth

Kein Freund der Berge
Durch die Verknüpfung dieser Daten mit damaligen Klimamodellen ließ sich die sogenannte realisierte Nische des Waldelefanten ableiten – also jene Umweltbedingungen, in denen die Tiere tatsächlich lebten. Überraschenderweise gleichen die so festgestellten Klimaumstände jenem Klima, das auch heute noch in weiten Teilen Europas herrscht, insbesondere in West- und Mitteleuropa. Lediglich Hochgebirgslagen wie die Alpen oder der Kaukasus wären für die Waldelefanten wenig attraktiv gewesen.

Die im Fachjournal Frontiers of Biogeography vorgestellten Ergebnisse verdeutlichen nach Ansicht der Forschenden insbesondere, wie sehr heutige Ökosysteme durch das Fehlen großer Pflanzenfresser aus dem Gleichgewicht geraten sind. Viele Tier- und Pflanzenarten, die heute auf offene Flächen angewiesen sind – etwa bestimmte Wiesenpflanzen oder Insekten –, haben sich einst unter dem Einfluss der Megafauna entwickelt. Ihr Verschwinden hat Folgen, die bis heute nachwirken.

"In der Vergangenheit waren Megafauna wie der Waldelefant und ihre Kontrollmechanismen, wie z. B. Fraß, allgegenwärtig", sagte Gaiser. "Viele europäische Arten – beispielsweise Pflanzen, die Offenland bevorzugen – haben sich sehr wahrscheinlich in ihrer Vielfalt in Europa etablieren können, weil sie von diesen Kontrollmechanismen profitiert haben."

Ökosysteme aus dem Gleichgewicht
Die klassische Strategie des europäischen Naturschutzes besteht darin, bestimmte Gebiete vor menschlichem Einfluss zu schützen. Doch diese Vorgehensweise hat ihre Grenzen, insbesondere wenn es darum geht, Prozesse zu ersetzen, die einst durch Tiere wie den Waldelefanten gewährleistet wurden. Ohne deren "Kontrollmechanismen" – also den Einfluss großer Pflanzenfresser auf die Vegetation – geraten viele Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, auch wenn sie auf den ersten Blick als "unberührt" gelten mögen.

Tatsächlich werden in einigen modernen Naturschutzprojekten gezielt große Pflanzenfresser wie Wisente oder Przewalski-Pferde wiederangesiedelt, ein Ansatz, der unter dem Schlagwort "Rewilding" diskutiert wird. Ziel ist es, natürliche Prozesse wiederherzustellen, ohne dabei vollständig auf menschliche Pflege angewiesen zu sein.

Einfach ist das Ersetzen der einstigen Megafauna freilich nicht. "Die ökologischen Prozesse, die moderne Ökosysteme geprägt haben, sind noch nicht vollständig verstanden", betonte Gaiser. Zudem hätten sich nicht nur die Tiere selbst verändert, sondern auch die Landschaften und das Zusammenspiel der Arten. Ein Wisent von heute ist kein Waldelefant von gestern, seine Bemühungen als Landschaftsgestalter könnten die Lücke aber immerhin teilweise schließen.
(tberg, 3.5.2025)
Europäische Waldelefanten würden es bei uns auch heute noch gemütlich finden
 

josef

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#28
Meisterhafte Jagdwaffe
Ältester Knochenspeer Europas offenbart technisches Können der Neandertaler
Die aufwendig hergestellte Speerspitze aus Bisonknochen stammt aus einer Höhle im Nordkaukasus und wurde nun auf ein Alter von bis zu 80.000 Jahre datiert
Vom Neandertaler geht von jeher eine große Faszination aus, das mag auch daran liegen, dass kein anderer unserer Vorfahren näher mit uns verwandt ist. Früher häufig als grobschlächtiger und tumber Höhlenmensch dargestellt, weiß man mittlerweile, dass unser Cousin dem Menschen in vieler Hinsicht verblüffend ähnlich war. Als unser gemeinsamer Vorfahre gilt der Homo erectus.

Während aus diesem in Afrika der anatomisch moderne Mensch hervorging, entwickelten sich parallel dazu Auswanderer dieser Vormenschenspezies in Europa zum Neandertaler weiter. Die Menschenart breitete sich schließlich erfolgreich bis Westasien aus, fabrizierte Klebstoff, benutzte komplexe Werkzeuge und Hilfsmittel, beherrschte das Feuer und betätigte sich vermutlich auch kreativ.


Die in der Mezmaiskaya-Höhle entdeckte knöcherne Speerspitze, hier aus unterschiedlichen Richtungen aufgenommen, wurde auf 70.000 bis 80.000 Jahre datiert. Die rötliche Verfärbung im Rahmen 1 geht auf eine Härtung durch Feuer zurück. Der Rahmen 2 zeigt schwarze Rückstände jenes Klebstoffes, mit dem die Spitze am Schaft befestigt worden war.
Foto: Liubov V. Golovanova et al.

Unbeachteter Höhlenfund
Dass der Neandertaler auch in der Waffenkunde bereits lange vor dem Homo sapiens ein Experte war, belegt ein erstaunliches Objekt aus der Mezmaiskaya-Höhle im Nordkaukasus. Die dort im Jahr 2003 freigelegten Artefakte, darunter Tierknochen, Steinwerkzeugen und die Überreste einer Feuerstelle, waren zunächst weitgehend unbeachtet in einem Archiv gelandet. Als Forschende die Funde neuerlich in Augenschein nahmen, fiel ihnen ein neun Zentimeter langer knöcherner Speeraufsatz auf. Die anschließende Datierung ergab ein Alter von 70.000 bis 80.000 Jahren. Damit entpuppte sich das gute Stück als älteste europäische Speerspitze aus Knochen.

Weitere Analysen mit modernsten Methoden wie Computertomografie, hochauflösender Mikroskopie und Spektroskopie enthüllten einige interessante Informationen: Der Speeraufsatz bestand demnach aus dem kräftigen Beinknochen eines Bisons. Mit Steinwerkzeugen geformt, durch Feuer gehärtet und mithilfe von einem durch kontrolliertes Erhitzen von Pflanzenmaterial gewonnenen Klebstoff an einem Holzschaft befestigt, zeugt diese Jagdwaffe von außerordentlichem technischem Geschick.

Alle Merkmale einer hervorragenden Waffe
"Ein einzigartiges, spitz zulaufendes Knochenartefakt", nennt die leitende Forscherin Liubov V. Golovanova das Fundstück. In ihrer im Journal of Archaeological Science veröffentlichten Studie beschreibt sie gemeinsam mit ihrem Team, dass die Speerspitze "keine nadelartige Spitze wie eine Ahle" aufweisen müsse, "aber eine kräftige, konische Spitze, symmetrische Umrisse und ein gerades Profil" besitzen solle. Genau diese Merkmale erfüllt das Exemplar aus der Mezmaiskaya-Höhle.

Unter dem Mikroskop zeigten sich feine Risse und Brüche, die auf den Gebrauch bei der Jagd hindeuten. Der Aufsatz war offenbar funktionstüchtig, zerbrach aber vermutlich bereits beim ersten Einsatz. Hinweise auf einen Reparaturversuch durch Abschleifen der beschädigten Stelle deuten darauf hin, dass Neandertaler nicht nur fähige Handwerker, sondern auch umsichtige Nutzer ihrer Werkzeuge waren.


Mikroskopische Aufnahmen der Spitze enthüllen Bearbeitungsspuren.
Foto: Liubov V. Golovanova et al.

Der Fundort selbst gewährte weitere Einblicke in das Alltagsleben der Neandertaler. Die Speerspitze lag in der Nähe einer Feuerstelle, die in einer natürlichen Vertiefung auf einer Kalksteinplatte angelegt war. Die Höhle diente über Generationen hinweg als Werkstatt und Lebensraum. Hier wurden Tiere zerlegt – von Vögeln über Rehe und Ziegen bis hin zu Bisons – und Werkzeuge hergestellt.

Rätsel um rare Knochenprojektile
Auch die aerodynamische Form der Spitze verriet einiges über die ausgefeilte Arbeitsweise unseres nahen Verwandten. Die gezielt angebrachten Rillen und die polierten Flächen belegen eine bewusste Gestaltung für den Flug durch die Luft. Solche Merkmale finden sich später auch bei Projektilen des modernen Menschen, nur stammen sie hier von einem wesentlich älteren Vorfahren. Aus all diesen Details schließen die Forschenden, dass der Neandertaler sowohl in Bezug auf Jagdtechniken als auch auf die physikalischen Eigenschaften seiner Werkzeuge bereits strategisch dachte.

Rätselhaft ist allerdings, warum bislang so wenige derartige Knochenwaffen erhalten geblieben sind. Das Forschungsteam vermutet, dass das an dem Material selbst liegen könnte. Knochen sind deutlich weniger haltbar als Stein und verrotten außerhalb geschützter Umgebungen rasch. Dass sich ein so fragiles Stück in einer Höhle über zehntausende Jahre erhalten konnte, ist daher ein seltener Glücksfall.
(tberg, 7.5.2025)
Ältester Knochenspeer Europas offenbart technisches Können der Neandertaler
 
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