Sankt Marxer Friedhof

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STADTGESCHICHTE
Warum sich ein Besuch am Sankt Marxer Friedhof lohnt
Verwilderte Natur, Freiherren und Opernsängerinnen, Flieder und Walderdbeeren – und das alles nur eine Straßenbahnfahrt vom Wiener Zentrum entfernt

Die Südosttangente führt direkt am Sankt Marxer Friedhof vorbei.
Foto: Robert Newald

In 20 Minuten kommt man vom Schwarzenbergplatz mit dem 71er zum Friedhof Sankt Marx. Das herauszufinden ist etwas peinlich, warum ist man nicht viel öfter hier? Das soll abgelegen sein? Nein, historisch gesehen aber schon. Ursprünglich waren auch in Wien die Friedhöfe rund um die Pfarrkirchen herum angelegt, sogar beim Stephansdom, erklärt mir Susanne Hayder von der Kulturabteilung der Stadt Wien, die auch für die Betreuung der Grabstätten zuständig ist. "Durch die Friedhofsreform von Joseph II. gab es erstmals kommunale Stadtfriedhöfe außerhalb des Linienwalls, vor der Stadt – das lag an den Hygienebestimmungen der Zeit. Der Sankt Marxer war einer davon."

Glückliche Abgelegenheit
Bis ins Jahr 1924 wurden vier dieser fünf Friedhöfe in Parks umgewandelt – vom Waldmüllerpark bis zum Währingerpark –, mehr oder weniger frei von Grabsteinen, zumeist aber nicht frei von Gebeinen. Einzig der Sankt Marxer Friedhof besticht immer noch durch seine historisch-schwülstigen Grabsteine und die – kontrolliert – verwilderte Natur. Insofern hat ihn wohl doch seine Abgelegenheit gerettet – und das Engagement des "Heimatforschers" Hans Pemmer (1938 "aus politischen Gründen frühpensioniert"). Dank ihm wurde er bereits vor dem Zweiten Weltkrieg unter Denkmalschutz gestellt und als Biedermeierfriedhof zu einer Art Marke, der Père Lachaise von Wien, wenn man leicht größenwahnsinnig klingen will.

Zwischen 1784 und 1874 fanden hier rund 15.000 Beerdigungen statt, erweitert wurde der Friedhof 1837 und 1858. Geschlossen wurde er, als der Zentralfriedhof eröffnete, und bereits 1903 musste man die Natur radikal zurückschneiden, um überhaupt zur Friedhofsmauer sehen zu können. Von den ursprünglichen 60.000 Quadratmetern wurde nur für Wohnbau und Autobahn etwas abgezwackt.

Durch die 90 Jahre "Belegungszeitraum" zeigt sich hier knapp ein Jahrhundert Wien, "wie eingefroren", sagt Susanne Hayder. Die Inschriften unter den sinnend-bröckelnden Engeln erzählen von vergangenen Macht- und Besitzverhältnissen und vergessenen Lebensläufen, von der Witwe eines Regen- und Sonnenschirmmachers bis zum Feldzeugmeister, vom Freiherren bis zur Hofopernsängerin.


Die Südosttangente führt direkt am Sankt Marxer Friedhof vorbei. Für die Autobahn wurde das ursprünglich 60.000 Quadratmeter große Areal verkleinert.
Foto: Robert Newald

Der Grabstein des berühmten Praterunternehmers Basilio Calafati steht noch hier, so wie der von Josef Madersperger, dem Erfinder der Nähmaschine. Überhaupt sind viele der hier ruhenden Legenden inzwischen googlebar: von der Weltreisenden Ida Pfeiffer über die Hofopernsängerin Katharina Waldmüller und den Kunstfeuerwerker Johann Georg Stuwer (siehe auch: Stuwerviertel) bis zur Klavierbauerin Nannette Streicher und dem griechischen Freiheitskämpfer Alexander Ypsilantis (dessen Gebeine über den Umweg Rappoltenkirchen doch noch in Thessaloniki landeten). Die verblichenen Überreste von Bugholzerfinder Michael Thonet sind irgendwann auf den Zentralfriedhof übersiedelt.

Maybe Mozart
Ja, Mozart liegt hier auch herum, irgendwo, in einem unmarkierten Schachtgrab, der damals schlichtesten Form der Beerdigung. Es gibt ein Denkmal, damit die Fans einen Ort haben, dort, wo er mit größter Wahrscheinlichkeit zu finden ist. Die Frage, wo genau sein Grab ist, beschäftigte Witwe Constanze schon 17 Jahre nach seinem Tod und offizielle Stellen ab 1855. Wo die Schachtgräber liegen, sinken noch heute Gärtner mit schwerem Gerät für die Baumpflege gelegentlich ein – durch die entstehenden Hohlräume. "Dass Säge und Gartenschere am Sankt Marxer Friedhof ebenfalls zum Handwerkszeug eines Steinrestaurators gehören, ist selbstverständlich", erläutert Hayder.

Die Arbeit des Denkmalschutzes ist an diesem überwucherten Ort sowieso, sagen wir, "speziell": In den 2000er-Jahren erfasste man alle existierenden Grabsteine. "Nachdem man sich von dem Schrecken erholt hat, dass man 5600 Grabdenkmäler zu erhalten hat, sind 2004 und 2005 Proberestaurierungen angefangen worden", sagt Hayder. Steinmetzfirmen legen die Grabsteine, die gefährlich werden könnten, fachgerecht um, dann wird, was restauriert werden kann, auch restauriert. Was die Besucher und Besucherinnen als Romantik erleben, ist also tatsächlich ein großer organisatorischer Aufwand, statische Sicherheitsbegehungen inklusive.

An der Kippe zum Verwildern
Der Feldhase im hinteren Bereich des Friedhofs blickt sanft vorwurfsvoll, man hat ihn in seiner Ruhe gestört. Unter den Sohlen krachen Schneckenhäuser, wenn man nicht Obacht gibt. Igel wohnen hier und Schlangen, Äskulapnattern, Blindschleichen sowie viele Insekten, auch Schmetterlinge und Fledermäuse in hohlen Bäumen. Die ganze Vogelwelt der Stadt von Kohlmeise bis Amsel und auch das eine oder andere Käuzchen, wie es sich für einen anständigen Friedhof gehört, das hier den Seelen "Kiwitt!", "Komm mit!" zuruft, erklärt mir Gerhard Pledel von den Wiener Stadtgärten.

Die Natur steht ständig "an der Kippe zum Verwildern", "aber das dynamische Gleichgewicht zu halten zwischen noch gepflegt, aber noch nicht ganz verwildert, ist die Herausforderung jedes Naturgartens". Pledel singt ein Loblied auf Schnurbaum und nordamerikanischen Zürgelbaum, und ja, tatsächlich auch auf den Efeu. "Er gehört zu einem Friedhof dazu. Er hat eine Jugend- und Altersform, erst die Altersform blüht und fruchtet auch. Er ist ein Araliengewächs, eigentlich Vertreter einer tropischen Pflanzenfamilie. Für die Tierwelt ist er von Bedeutung, weil er erst im Oktober, November zu blühen beginnt und dann im Februar und März die ersten Beeren für Amseln und Drosseln liefert."

Auch über die hiesigen Thujen lässt Pledel nichts kommen, ihr schlechter Ruf stamme davon, dass sie "falsch und überall" gepflanzt würden. "Sie ist unser Pendant zur Zypresse, die auf Friedhöfen des südlicheren Raums überall anzutreffen ist. Die Zypresse kommt ursprünglich aus dem heutigen Iran, sie ist das Symbol für die Flamme, die die Seelen der Toten gen Himmel tragen soll und damit die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellt."

Walderdbeeren und Geister
Da sich in Wien noch nicht wirklich herumgesprochen hat, wie viele Walderdbeeren es hier im Sommer gibt, wird der Sankt Marxer Friedhof nur zweimal im Jahr gestürmt: zur Fliederblüte, die ebenfalls schon zum inoffiziellen Markenzeichen geworden ist, und zu Allerheiligen von wegen Friedhofsromantik und Herbstgefühl.

Und ja, geistern tut es hier auch: Die Bänke entlang der Hauptallee haben die Eigenschaft, sich in die Landschaft zu verabschieden, je nach Sonnen- oder Schattenstand. Das allerdings liegt an den höchst lebendigen Gästen.
(Julia Pühringer, 27.7.2021)
Warum sich ein Besuch am Sankt Marxer Friedhof lohnt
 
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