Das Lager war mit einem eigenen Gleis direkt an die Franz-Josefs-Bahn angeschlossen.
Die Gefangenen wurden zu unterschiedlichen Arbeiten herangezogen. Das
Sigmundsherberger Lager war für die Strohmattenerzeugung bekannt.
Links: Die Luftaufnahme verdeutlicht die enorme Größe des einstigen Kriegsgefangenenlagers.
Rechts: Der heutige Blick auf die Fläche des ehemaligen Lagers
Die Lagerbaracken wurden auch auf zeitgenössischen Ansichtskarten abgedruckt
In ihrer Freizeit war es den Gefangenen erlaubt zu musizieren. So entstand eine eigene Musikkapelle
Manche Lagerhäftlinge betätigten sich auch künstlerisch in ihrer Freizeit, wie hier eine Gruppe von Bildhauern.
Alle Fotos: Rudolf Koch
Während Erstem Weltkrieg lebten bis zu 123.000 Menschen im Sigmundsherberger Kriegsgefangenenlager – fast so viele, wie heute in Tirols Hauptstadt Innsbruck.
Man sprach Italienisch und es lebten dort fast so viele Menschen wie heute in Innsbruck: Im Kriegsgefangenenlager Sigmundsherberg. Dennoch ist das Lager heutzutage nur wenigen ein Begriff. Die NÖN hat sich schlaugemacht und mit Historiker Rudolf Koch über die Lagergeschichte gesprochen.
Zwischen Sigmundsherberg, Kainreith und Brugg sind heute Äcker, seitlich verläuft die Bahnstrecke. Im Ersten Weltkrieg lag hier eines der größten Kriegsgefangenenlager der Habsburger-Monarchie. Koch ist es zu verdanken, dass die Geschichte des Lagers aufgearbeitet und das Schicksal tausender Gefangener vor dem Vergessen gerettet wurde.
„Das Lager war mir seit der Volksschulzeit ein Begriff. Jedes Jahr zu Allerseelen haben wir Blumen am Lagerfriedhof niedergelegt. Aber wirklich etwas über das Lager erzählen konnte niemand“, beschreibt der gebürtige Sigmundsherberger sein frühes Interesse am Thema. Koch studierte dann Geschichte und Englisch, wurde Lehrer, später Direktor am Gymnasium in Klosterneuburg. Losgelassen hat ihn das Thema nie. Schließlich widmete er sich in seiner Dissertation der Aufarbeitung der Lagergeschichte. Daraus sind zwei lesenswerte Bücher hervorgegangen.
Baracken neben Kino, Kapelle und Bibliothek
Doch zunächst zum Lager selbst: Die Einrichtung war von 1915 bis 1918 in Betrieb. Hauptsächlich waren italienische Kriegsgefangene hier inhaftiert. Im Endausbau erreichte das Lager die beachtliche Größe von 2,88 Quadratkilometern. Neben einer Vielzahl von Baracken, in denen die Gefangenen untergebracht waren, und Zweckbauten wie einer Küche oder Sanitäranlagen, verfügte es auch über ein Kino, eine Bibliothek, eine Kapelle und einen Feuerwehrturm. Die meisten Häftlinge wurden als Arbeiter eingesetzt. So machte sich das Lager beispielsweise rasch einen Namen als wichtiger Zulieferer für Strohmatten, die an die Armee geliefert wurden.
Gefangenenlager gab es auf dem gesamten Gebiet der Monarchie. Das Sigmundsherberger spielte damals aber eine besondere Rolle. Durch die Anbindung an die Franz-Josefs-Bahn fungierte es nämlich als Knotenpunkt: Die „Paket-Sammel- und Sortierstelle“ verwaltete den Versand von hunderttausenden Versorgungspaketen an Kriegsgefangene in alle Teile der Monarchie, erzählt Koch.
Das Lager war eine gigantische Anlage. Es war stets von mehreren zehntausend Gefangenen bewohnt – bis zu 123.000 Personen. Das sind fast so viele Menschen, wie derzeit in Innsbruck leben. Koch weiß auch, wie man mit dieser großen Zahl an Menschen umging: „Wenn neue Gefangene kamen, dann wurden die Stockbetten einfach aufgestockt. In einer Baracke, in der vorher 200 Menschen geschlafen haben, schliefen dann eben 300.“
4,2 Kilometer langer Gedenkweg um Lager
Ein 2015 eingerichteter Gedenkweg macht die Größe des Lagers auch heute noch erlebbar. Auf 4,2 Kilometern Länge kann man das ehemalige Lagerareal begehen und sich auf zehn Texttafeln über die Geschichte informieren.
Um die Lagergeschichte aufzuarbeiten, musste Koch in so manchem Archiv stöbern. Seine Recherchen brachten ihn weit herum. So fand er nicht nur vor Ort in Sigmundsherberg, sondern auch im Kriegsarchiv in Wien und in Archiven in Rom wichtige Dokumente. Der Geschichtsforscher erinnert sich, dass die Recherchen oft mühsam waren. Koch: „Das Unangenehmste war, dass viele Unterlagen fehlen.“ Beim Abzug 1918 hätten die Italiener nämlich viele Akten zerstört, das habe die Aufarbeitung der Geschichte erschwert, erzählt der Historiker.
Koch: Auch persönliche Verbindung zu Lager
Mit viel Engagement konnte Koch in Italien noch einen Kriegsgefangenen als Zeitzeugen ermitteln. Dabei stellte sich sogar eine persönliche Verstrickung heraus: Der Mann wurde damals Kochs Onkel, der in Kainreith wohnte, als Arbeiter zugeteilt. Und es gibt noch eine persönliche Verbindung. Sein Großvater sei beim Bau des Lagers zu Transportdiensten eingeteilt worden, erzählt Koch.
Das Lager war nicht nur eines der größten in der Monarchie, es dürfte auch eines der am besten organisierten gewesen sein. „Im Lager hat es nie eine Epidemie gegeben. Das ist bemerkenswert, denn in anderen vergleichbaren Lagern ist es regelmäßig zu Seuchenausbrüchen gekommen, denen die Häftlinge zum Opfer fielen.“ Dennoch war die Ernährungssituation „bedrückend“, wie Koch verdeutlicht. Viel mehr als Rüben stand meist nicht am Speiseplan. Gerade gegen Ende des Krieges, als die Ernährungssituation kritisch wurde, meldete man deshalb mehrere hundert Tote pro Monat.
Nach Kriegsende wurde das Lager schnell abgebaut. „Nur ein paar Baracken sind übrig geblieben und noch einige Zeit anders genutzt worden“, erzählt Koch. So basieren Teile des heutigen Lagerhauses auf den alten Lagerbaracken. Nach dem Krieg übernahmen die Italiener die Lagerverwaltung. Dabei agierten die ehemaligen Gefangenen durchaus solidarisch: Im Lager waren 1,5 Millionen Essenspakete, die auch in anderen Lagern verteilt werden sollten, übrig geblieben. Die Italiener verteilten sie an die notleidende Bevölkerung im Waldviertel und in Wien.
Interesse an Lager ist in Italien groß
Seit etwa zehn Jahren stößt die Lagergeschichte zunehmend auch in Italien auf Interesse, erzählt Koch. Beigetragen hat dazu die Übersetzung von Kochs Buch ins Italienische. „Viele Leute fragen sich: Wo ist mein Urgroßvater begraben?“. Die italienische Botschaft verweise dann oft auf Sigmundsherberg und den dortigen Gefangenenfriedhof. Hier wurden knapp 2.400 Italiener beerdigt. Und so kommen regelmäßig Touristen, die den Friedhof besuchen oder sich im Eisenbahnmuseum über das Lager informieren: Hier widmet sich ein Teil der Ausstellung dem Kriegsgefangenenlager. Es gibt darin alte Originalstücke der Baracken, ein Modell des Lagers und viele Fotoaufnahmen zu entdecken – damit die Erinnerung nicht verloren geht.