Studie simuliert die Folgen eines Einsatzes der derzeit weltweit existierenden 15.000 Atomwaffen

josef

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#1
Was bei einem globalen Atomkrieg passieren würde
Das Ende des Mittelstreckenvertrags erinnert daran, dass es weltweit rund 15.000 Atomwaffen gibt. Eine neue Studie plus Video simuliert die Folgen ihres Einsatzes



Es ist schon wieder einige Zeit her, dass man Gedanken an einen Atomkrieg recht gut verdrängen konnte. Doch das Ende des Washingtoner Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme Anfang dieses Monats und die jüngsten Tests sowohl auf russischer wie auch auf US-amerikanischer Seite rufen in Erinnerung, dass auf der Welt rund 15.000 Nuklearsprengköpfe gelagert sind – und jeweils rund 7000 davon vom russischen und vom US-amerikanischen Präsidenten aktiviert werden können.

Zur Beruhigung trägt auch nicht gerade bei, dass Donald Trump den Einsatz von Atomwaffen nicht grundsätzlich ausschließt, und dass mit Indien und Pakistan zwei Atommächte in einer potenziell explosiven Auseinandersetzung um den Kaschmir stehen.

Wir halten bei zwei vor zwölf
Auch aus diesen Gründen steht die Weltuntergangsuhr der Zeitschrift "Bulletin of the Atomic Scientists" aktuell auf zwei vor zwölf. Damit ist der Wert eingestellt, der zwischen 1953 und 1960 herrschte, als die damaligen Supermächte recht intensiv Atom- und Wasserstoffbomben testeten und der Kalte Krieg tatsächlich heiß zu werden drohte.

Was aber passiert, wenn die Atomwaffenarsenale tatsächlich zum Einsatz kommen sollten? Damit haben sich aus wissenschaftlicher Sicht in erster Linie Atmosphärenforscher beschäftigt. Eine der ersten Arbeiten stammt vom späteren Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, dem Mitentdecker des Ozonlochs und dem Erfinder des Begriffs Anthropozän. Er kam 1982 mit einem Kollegen zum Schluss, dass es nach einem atomaren Schlagabtausch zu enormen Bränden und in der Folge einer fatalen Freisetzung von Stickoxiden und Sauerstoffradikalen kommen würde. Das wiederum würde zu einer mehrjährigen Abkühlung der Erde und zu einem Zusammenbruch der Nahrungsmittelproduktion auf der nördlichen Hemisphäre führen.

"Nuklearer Winter"
Ein Jahr später legte der Klimaforscher Richard Turco mit Kollegen im Fachblatt "Science" eine bahnbrechende Modellrechnung vor, die auch begriffsbildend wurde: Turco und seine Kollegen prägten damals die Bezeichnung "nuklearer Winter" für eine radikale Abkühlung der Erde auf Temperaturen von minus 15 bis minus 25 Grad Celsius. Diese sogenannte TTAPS-Studie wurden in den Modellrechnungen seither immer wieder leicht modifiziert, aber weitgehend bestätigt – so etwa auch in einem Bericht des Goddard-Instituts für Weltraumforschung der Nasa im Jahr 2007.
Die neueste Modellrechnung stammt von einer Gruppe um Joshua Coupe (Rutgers University), die sich ebenfalls ganz auf die Klimafolgen aufgrund eines Atomkriegs beschränken. (Würden etwas mehr als die Hälfte der Atombomben in Großstädten detonieren, dürften allein dadurch rund drei Milliarden Menschen sofort getötet werden.)

Laut den Simulationen von Coupe und seinen Kollegen, die im Wesentlichen die älteren Modellrechnungen bestätigen, würden die nuklearen Detonationen etwa 147 Millionen Tonnen Ruß in die Atmosphäre blasen – und zwar so hoch, dass sie sich in der Stratosphäre verteilen und die Sonne verdunkeln würden. Dazu gibt es auch ein anschauliches Video:

Dinge Erklärt – Kurzgesagt

Sieben Jahre Dunkelheit
Wie die Forscher in der jüngsten Ausgabe des Fachblatts "Journal of Geophysical Research: Atmospheres" schreiben, würden die globalen Temperaturen im ersten Jahr nach der Katastrophe um sieben Grad Celsius sinken, um dann in der permanenten Dunkelheit um weitere neun Grad zu fallen. Zusätzlich würde eine Reduktion der Niederschläge die Produktion von Lebensmitteln nachhaltig erschweren. Erst nach rund sieben Jahren würde sich der Ruß und damit auch der nukleare Winter wieder einigermaßen verziehen.

Das Resümee der Autoren möge man bitte auch den beiden eingangs erwähnten Präsidenten zur Kenntnis bringen: Ein nuklearer Angriff und die daraus resultierende Umweltkatastrophe wäre in jedem Fall auch für jenes Land selbstmörderisch, das ihn startet.
(tasch, 23.8.2019)

Originalartikel
Journal of Geophysical Research: Atmospheres: "Nuclear Winter Responses to Nuclear War Between the United States and Russia in the Whole
Atmosphere Community Climate Model Version 4 and the Goddard Institute for Space Studies Model E"

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#3
Selbst ein lokaler Atomkrieg hätte globale Folgen
Forscher modellierten die Folgen eines nuklearen Schlagabtauschs zwischen Indien und Pakistan. Die Folgen wären verheerend

Indien und Pakistan verfügen derzeit über 150 Nuklearwaffen, die Explosion einer einzigen wäre katastrophal.
Foto: APA/AFP

Der Einsatz von Nuklearwaffen ist derzeit keineswegs von der Hand zu weisen. Vor wenigen Tagen hat Pakistans Ministerpräsident Imran Khan vor der UN-Vollversammlung in New York mit einer emotionalen Rede vor einem "Blutbad" im Rahmen des Kaschmir-Konfliktes mit Indien gewarnt. Selbst den Einsatz von Atomwaffen hielt er für möglich. Sollten die Vereinten Nationen nicht eingreifen, sei ein weiterer Krieg zwischen den Atommächten Pakistan und Indien wahrscheinlich. Die Doomsday Clock – die Weltuntergangsuhr oder Atomkriegsuhr -, die von der Zeitschrift "Bulletin of the Atomic Scientists" zuletzt auf zwei vor zwölf gestellt wurde, hat diese Entwicklung berücksichtigt. Die Situation ist momentan also durchaus kritisch.

Was wäre, wenn ...
Klar ist aber auch, dass keine der beiden Seiten es tatsächlich so weit kommen lassen will – und doch arbeiten Forscher bereits an Szenarien, die sich mit den Folgen eines regionalen Atomwaffenkrieges auseinandersetzen: Wissenschafter von der University of Colorado Boulder und der Rutgers University haben die Konsequenzen eines solchen hypothetischen atomaren Konfliktes analysiert. Die Auswirkungen wären demnach keineswegs nur lokal, sondern würden rund um den Globus wahrscheinlich Millionen Menschenleben kosten.

Aktuell haben Indien und Pakistan jeweils rund 150 Nuklearwaffen zur Verfügung, bis zum Jahr 2025 könnten es mindestens 200 werden, so die derzeitige Schätzung. Was die beiden Länder damit anrichten könnten, hat nun ein Team um Brian Toon von der University of Colorado im Fachjournal "Science Advances" vorgerechnet. "Ein atomarer Krieg zwischen diesen beiden Nationen wäre ohne Vergleich in der menschlichen Geschichte", meint Toon.

Über hundert Millionen Tote
Nach den Analysen der Forscher erfolgt die nukleare Katastrophe in mehreren Stufen: Dem Einsatz von rund 250 atomaren Sprengkörpern über Großstädten in Indien und Pakistan dürften insgesamt zunächst mindestens 50 bis 125 Millionen Menschen zum Opfer fallen. Der Großteil dieser Menschen stirbt wahrscheinlich nicht sofort durch die jeweiligen nuklearen Explosionen, sondern durch die Feuer, die in der Folge ausbrechen.

Für den Rest der Welt mag es nach einem solchen lokalen Atomkrieg kaum besser aussehen: Die Forscher um Toon berechneten, dass ein Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan mindestens 36 Milliarden Kilogramm an Ruß in die Erdatmosphäre transportieren wird. Diese schwarzen Wolken würden das Sonnenlicht rund um den Globus blockieren und letztlich die weltweite Durchschnittstemperatur um bis zu fünf Grad Celsius reduzieren.

Weniger Nahrungsmittel
In der Folge würde es global zu einer Verringerung der durchschnittlichen Niederschläge um 15 bis 30 Prozent kommen. Das wiederum hätte als Konsequenz, dass Pflanzen weniger Energie in Form von Biomasse speichern würden, und zwar bis zu 30 Prozent an Land und bis zu 15 Prozent in den Ozeanen.

Für die Landwirtschaft wäre dies letztlich eine Katastrophe, eine weltweite Nahrungsmittelknappheit wäre unausweichlich. Und diese würde wohl auch für mehrere Jahre anhalten. Die Modellberechnungen gehen davon aus, dass die Rußwolken über zehn Jahre in der Atmosphäre für Dunkelheit sorgen.

"Unsere Untersuchungen basieren auf modernsten Modellberechnungen und zeigen, dass selbst ein solcher lokaler Atomkrieg großräumige Rückgänge bei der Produktivität von Pflanzen an Land und Algen im Ozean zur Folge hätte", sagt Co-Autorin Nicole Lovenduski. "Die entsprechenden Konsequenzen für Organismen in den oberen Bereichen der Nahrungskette inklusive des Menschen wären dramatisch."
(Thomas Bergmayr, 3.10.2019)

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#4
Hier wird das Horrorszenario "Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan" weitergesponnen:

Lokaler Atomkrieg würde die ganze Welt in eine Hungersnot stürzen
Eine aktuelle Studie rechnet vor, was passiert, wenn es zwischen Indien und Pakistan zu einem nuklearen Schlagabtausch kommt

Ein Atompilz nach dem französischen Wasserstoffbombentest "Canopus" (2,6 Megatonnen TNT) am 24. August 1968 erhebt sich über dem Fangataufa-Atoll in Französisch-Polynesien.
Foto: APA/AFP

In Zeiten der Corona-Krise treten andere globale Katastrophenszenarien in der öffentlichen Aufmerksamkeit in den Hintergrund. Das bedeutet freilich nicht, dass sich die entsprechenden Gefahren einfach in Luft auflösen. So waren beispielsweise die beiden Atommächte Indien und Pakistan im vergangenen August einem bewaffneten Konflikt um die umstrittene Region Kaschmir so nahe wie davor schon lange nicht mehr. Indien drohte sogar indirekt mit einem nuklearen Erstschlag: Verteidigungsminister Rajnath Singh hatte angedeutet, dass sein Land in Zukunft seine Verpflichtung zu "No First Use", also das Bekenntnis dazu, Atomwaffen nur zu Verteidigungszwecken zu verwenden, überdenken werde.

Hinzu kommt, dass wichtige internationale Verträge zur Rüstungskontrolle von Atomwaffen zuletzt beendet oder untergraben wurden. Diese Entwicklung könnte in ein neues nukleares Wettrüsten, eine weitere Verbreitung von Atomwaffen und niedrigere Eintrittsschwellen für einen Atomkrieg münden, warnen Experten. Kein Wunder also, dass die vom "Bulletin of the Atomic Scientists" jedes Jahr neu justierte symbolische Weltuntergangsuhr, die Doomsday Clock, vor wenigen Wochen auf einen in seiner 73-jährigen Geschichte noch nie erreichten Wert vorgerückt ist: Sie steht aktuell bei 100 Sekunden vor Mitternacht.

Ein Jahrzehnt der Abkühlung
Zwar würde ein regionaler Atomkonflikt zwischen Indien und Pakistan die Welt nicht direkt untergehen lassen, die Auswirkungen wären aber dennoch von globaler Tragweite. Eine internationale Forschergruppe hat nun in einer detaillierten Studie, die Klima-, Landwirtschafts- und Wirtschaftsmodelle kombiniert, die Folgen eines solchen nuklearen Katastrophenszenarios durchgerechnet. Das erschreckende Fazit: Ein lokaler atomarer Schlagabtausch, bei dem "nur" 100 Atomwaffen (also weniger als ein Prozent aller weltweit verfügbaren Nuklearwaffen) eingesetzt werden, würde der Welt ein Jahrzehnt der Abkühlung bescheren und dadurch zur schlimmsten weltweiten Nahrungsmittelverknappung in der modernen Geschichte führen.

Die Untersuchung, die von einem Team um Jonas Jägermeyr von der University of Chicago und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung geleitet wurde, ist die erste, die vereinfachte Schätzungen des globalen Klimas und der landwirtschaftlichen Folgen eines Atomkonflikts aus der Zeit des Kalten Krieges verfeinert. Die Ergebnisse zeigen, dass ein plötzlicher Klimawandel schwere Ernteverluste verursachen, den weltweiten Handel praktisch zum erliegen und regionale Konflikte verschärfen würde – eine globale Krise wäre damit unausweichlich.
Grafik: Durchschnittliche Einbußen bei den Maiserträgen in den ersten fünf Jahren nach einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan.
Grafik: Pnas/Jägermeyr et al.

Weit schädlicher als die Erderwärmung
"Plötzliche Abkühlung ist für das weltweite Pflanzenwachstum sogar schädlicher als die gleiche anthropogene Erwärmung", sagt Jägermeyr. "Sie betrifft hauptsächlich die nördlichen Getreideanbauregionen und geschieht im Grunde genommen über Nacht, verglichen mit dem allmählichen, langfristigen systemischen Klimawandel, an den sich die Gesellschaft deshalb leichter anpassen kann."

Die in der Fachzeitschrift "Pnas" veröffentlichte Studie zeigt, dass der regionale Einsatz von Atomwaffen und die dabei verursachten Brände zu einer Freisetzung von geschätzten fünf Millionen Tonnen Ruß in die Erdatmosphäre führt, der bis in die Stratosphäre gelangt. Die Modelle sagen voraus, dass die Abschwächung der Sonneneinstrahlung einen weltweiten Temperaturabfall von durchschnittlich 1,8 Grad Celsius und einen Rückgang der Niederschläge um acht Prozent bewirkt. Diese plötzlichen Veränderungen würden 10 bis 15 Jahre andauern, ehe sich das Weltklima wieder erholt. Diese Abkühlungsperiode würde jedoch den anthropogenen Klimawandel nur verzögern, aber nicht rückgängig machen.

Dramatische Ernteeinbußen
Für die Pflanzenwelt wäre dieses Klimaintermezzo katastrophal, so die Autoren. Letztlich würde die abrupte Abkühlung die Landwirtschaft in vielen Regionen der Erde weitgehend beeinträchtigen. Man müsste mit erheblichen Ernteeinbußen bei Mais, Weizen, Sojabohnen und Reis rechnen. Im einzelnen heißt das: Die Maiskalorienproduktion würde in den ersten fünf Jahren um 13 Prozent, Weizen um 11 Prozent, Reis um drei Prozent und Sojabohnen um 17 Prozent sinken.

Video: 25,4 Kilotonnen-Atomwaffentest der USA im Bikini-Atoll am 21. Mai 1958.
Lawrence Livermore National Laboratory

Die landwirtschaftlichen Folgen seien dabei in Regionen in hohen Breitengraden wie den Vereinigten Staaten, Europa, China und Russland am schwerwiegendsten. Dort würden niedrigere Temperaturen bedeuten, dass die Pflanzen nicht mehr ausreifen, bevor der erste Herbstfrost einsetzt. "Die Auswirkungen auf den Anbau der Grundnahrungsmittel wären die schlimmsten in der modernen Geschichte", so Jägermeyer. "Dramatischer noch als das Dust Bowl-Ereignis in den 1930er Jahren in den USA und Kanada und die Auswirkungen der größten Vulkanausbrüche."

Fünf Milliarden Menschen betroffen
Um zu simulieren, wie sich die landwirtschaftlichen Verluste auf die globale Ernährungssicherheit auswirken würden, ergänzten die Wissenschafter Wirtschafts- und Handelsmodelle: Zunächst würden Lebensmittelreserven demnach zwar einen Teil der Ernteausfälle kompensieren können. Längerfristig anhaltende Ernteverluste würden letztendlich aber die Lager leeren und den Export von Lebensmitteln in südliche Länder, die für die Ernährung der Bevölkerung auf den Handel angewiesen sind, verringern. Bis zum vierten Jahr nach dem Atomkonflikt würden 132 von 153 Ländern – eine Gesamtbevölkerung von fünf Milliarden Menschen – unter Nahrungsmittelknappheit von über 10 Prozent leiden, so die Studie.

Es könnte sogar noch schlimmer kommen: Das Szenario mit fünf Millionen Tonnen Ruß war auf Basis von mehr als zehn Jahre alten Daten entwickelt worden. Die Forscher glauben, dass heute bei einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan mindestens 16 Millionen Tonnen Ruß freigesetzt werden würden, da die beiden Länder über Waffen mit größerer Zerstörungskraft verfügen und auch ihre potenziellen Ziele größer geworden sind. In Summe könnte das heißen, dass die Folgen eines solchen atomaren Konfliktes in Wahrheit bis zu dreimal heftiger ausfallen könnten.

"So schrecklich die unmittelbaren Auswirkungen des Einsatzes von Atomwaffen auch sein mögen, deutlich mehr Menschen würden außerhalb der Zielgebiete aufgrund von Hungersnöten sterben", sagt Koautor Alan Robock von der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey. "Die Verbreitung von Atomwaffen geht heute ungebremst weiter – es gibt de facto ein nukleares Wettrüsten in Südasien", so der Forscher. "Unsere Untersuchung ist daher – leider – keine historische Betrachtung zum Kalten Krieg."
(tberg, 16.3.2020)

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#7
NUKLEARER WINTER
Könnten die Meere die Menschheit nach einem Atomkrieg ernähren?
In einem nuklearen Winter würde die globale Nahrungsmittelproduktion einbrechen. Forscher untersuchten, wie stark die Fischerei betroffen wäre
Neun Staaten der Welt sind aktuell im Besitz von Atomwaffen. Zusammen verfügen sie nach Schätzungen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen über etwa 13.400 Sprengköpfe – der absolute Großteil davon gehört den USA und Russland. Etwa 4.000 Sprengköpfe sind jederzeit einsatzbereit, 1.800 davon können ihre Ziele binnen Minuten treffen. Auch wenn die Zahl der Atomwaffen auf unserem Planeten seit dem Kalten Krieg erheblich zurückgegangen ist, bleibt die Möglichkeit eines Atomkriegs jederzeit gegeben. Eine kürzlich veröffentlichte Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie die Menschheit die Hungersnöte überstehen könnte, die einer solchen Katastrophe unweigerlich folgen würden.


Schon ein lokaler Atomkrieg hätte globale Folgen: In die Atmosphäre geschleuderte Staub- und Rußpartikel würden die Erde merklich verdunkeln und abkühlen.
Foto: APA/AFP

Welche verheerenden Folgen ein Atomkrieg hätte, wurde schon vielfach untersucht. Klar ist: Sie würden weit über Tod, Zerstörung und Verstrahlung in den direkt betroffenen Gebieten hinausgehen. Schon in den 1980er-Jahren legten Atmosphären- und Klimaforscher Modelle vor die zeigten, dass selbst ein lokaler Atomkrieg zu einer mehrjährigen globalen Klimaabkühlung führen würde – mit dramatischen Auswirkungen auf die Landwirtschaft und damit die Nahrungsmittelproduktion. Der umfangreiche Einsatz von Atomwaffen würde große Mengen an Ruß in die Erdatmosphäre befördern, die sich dort verteilen und das Sonnenlicht rund um den Globus blockieren würden. Über Jahre würde die Temperatur sinken, Niederschläge würden abnehmen, die Erträge Landwirtschaft drastisch einbrechen.

Simulierte Schreckensszenarien
Aber wie betroffen wären die Meere vom nuklearen Winter? Könnte die Menschheit den Nahrungsmittelschwund durch Fischerei kompensieren und so die schwierigen Jahre überdauern? Dieser Frage gingen Forscher um Kim Scherrer von der Autonomen Universität Barcelona nach. Für ihre Studie im Fachblatt PNAS simulierten sie sechs unterschiedliche Atomkriegsszenarien zwischen den USA und Russland bzw. Indien und Pakistan und die Folgen der globalen Abkühlung für die Biomasse der Meere. In ihren Modellen berücksichtigten sie auch, wie sich die plötzlich steigende Nachfrage auf die Fischbestände auswirken würde und welche Effekte unterschiedliche Strategien zum Fischereimanagement vor dem Krieg hätten.


Auch die marinen Ökosysteme hätten unter einem nuklearen Winter zu leiden. Dennoch könnte die Fischerei einen zentralen Beitrag zur Welternährung leisten – wenn sie in guten Zeiten nachhaltig betrieben wird.
Foto: Imago

Das Ergebnis: Die Fischbestände würden in den Jahren nach einem atomaren Krieg wie zu erwarten einbrechen, und zwar im schlimmsten Szenario, einem totalen Atomkrieg zwischen den USA und Russland mit tausenden Atombombenexplosionen, um bis zu 30 Prozent. Bei einem lokalen Krieg zwischen Indien und Pakistan, bei dem "nur" einige Hundert Atomwaffen eingesetzt würden, wären es zumindest vier Prozent. Wenn es die Infrastruktur zuließe, könnten die weltweiten Fischereierträge kurzfristig gesteigert werden, um fehlende Nahrungsmittel aus der Landwirtschaft zu ersetzen. Spätestens ein bis zwei Jahre nach der Katastrophe wären die Einbußen der Fischerei aber unabwendbar. Die entgangenen Landwirtschaftserträge wären damit nur noch zu einem sehr geringen Teil ausgleichbar.

Plädoyer für nachhaltige Fischerei
Die Verluste der marinen Biomasse ließen sich aber deutlich abmildern, schreiben die Autoren: Meeresschutz und nachhaltige Maßnahmen gegen Überfischung in den Jahren vor einem atomaren Krieg würden ein ganz anderes Resultat ergeben. Auf diese Weise könnten über mehrere Jahre hinweg an die 40 Prozent des heute durch die Fleischproduktion gedeckten Proteinbedarfs durch Fisch ersetzt werden. "Ich war überrascht, wie groß der Effekt wäre", sagte Scherrer. Und das wäre nicht nur im Falle verheerender Kriege relevant: "Es ist eine große Herausforderung, die Fischerei nachhaltig zu gestalten, aber unsere Studie zeigt, dass dies neben allen anderen Vorteilen auch dazu beitragen würde, globale Nahrungsmittelkrisen abzumildern."
(dare, 9.1.2021)

Studie
PNAS: "Marine wild-capture fisheries after nuclear war"

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#8
NUKLEARE EISZEIT
Welche Folgen ein Atomkrieg auf Atmosphäre und Ozeane hätte
Simulationen zeigen, dass die Welt Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende bräuchte, um sich von einem nuklearen Konflikt zu erholen

Ein nuklearer Schlagabtausch würde die Erde in Dunkelheit hüllen und die Temperaturen dramatisch sinken lassen.
Foto: imago images/blickwinkel/McPHOTO/M. Gann

Seit 2019 zeigt das Ziffernblatt der Weltuntergangsuhr 100 Sekunden vor zwölf, so nahe am nuklearen Abgrund waren wir nie zuvor in der 73-jährigen Geschichte der Doomsday Clock – das war freilich, bevor Russland die Ukraine angegriffen hat. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Zeiger beim nächsten Mal ein paar Striche weiter springen. Namhafte Forschungsinstitute wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) warnen eindringlich vor dem raschen Anwachsen der Atomwaffenarsenale und seinen Konsequenzen.

Neun Atommächte
Fünf Staaten sind heute offiziell und vom Atomwaffensperrvertrag (NPT) anerkannt im Besitz von Atomwaffen: USA, Russland, Frankreich, China, Großbritannien. Außerdem verfügen auch Israel, Pakistan, Indien und Nordkorea über solche Waffen, doch sie sind keine Mitgliedsstaaten des NPT. Zusammen kommen diese neun Länder nach Schätzungen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen auf über etwa 13.400 Sprengköpfe. Rund 4.000 davon sollen einsatzbereit sein, und 1.800 befinden sich in ständiger Alarmbereitschaft und könnten Ziele binnen Minuten erreichen.

Was der Einsatz von Atomwaffen anrichtet, wurde in Hiroshima und Nagasaki drastisch vor Augen geführt. Ein nuklearer Krieg, und sei er auf ein noch so kleines Gebiet beschränkt, würde die menschliche Zivilisation heute zwangsläufig für sehr lange Zeit weit zurückwerfen. Welche Folgen ein atomarer Schlagabtausch für das Weltklima und die Ozeane hätte, hat ein Team von der Louisiana State University nun näher untersucht. Die Kurzfassung: Es wäre der Anbruch einer buchstäblich dunklen, kalten Ära.

Ruß und Rauch in der oberen Atmosphäre
Hauptautorin Cheryl Harrison und ihre Gruppe spielten für ihre im Fachjournal "AGU Advances" veröffentlichte Studie unterschiedliche Atomkriegsszenarien durch – und alle endeten mit einer schwarzen Decke aus Ruß und Rauch in der oberen Atmosphäre, die die Sonne verhüllt. Im ersten Monat nach dem nuklearen Feuersturm würden die globalen Durchschnittstemperaturen um etwa 13 Grad Celsius sinken – eine dramatischere Temperaturveränderung als zu Beginn der letzten Eiszeit. "Es spielt dabei keine Rolle, wer wen bombardiert. Das können Indien und Pakistan oder die Nato und Russland sein. Sobald der Rauch in der oberen Atmosphäre gelangt, breitet er sich über den ganzen Globus aus und betrifft damit alle", sagte Harrison.

Konkret simulierten die Forschenden, was mit den Erdsystemen passieren würde, wenn die USA und Russland 4.400 100-Kilotonnen-Atomwaffen auf Städte und Industriegebiete werfen würden. In einem solchen Szenario verfrachten die Detonationen, besonders aber die nachfolgenden Brände 150 Millionen Tonnen Rauch und Ruß in die obere Atmosphäre.

In einer weiteren Modellvariante ging das Team von einem nuklearen Konflikt zwischen Indien und Pakistan aus, bei dem 500 100-Kilotonnen-Atomsprengköpfe gezündet werden. Auch hier landen immer noch mindestens 50 Millionen Tonnen Qualm und Ruß in der Atmosphäre. Zum Vergleich: Die Atombombe "Little Boy", die Hiroschima zerstörte, hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT, Die Sprengkraft von "Fat Man", der Bombe, die die USA über Nagasaki abgeworfen haben, betrug 21 Kilotonnen.

Vereiste Häfen
Wenn die Lufttemperaturen sinken, werden auch die Ozeane kälter. Selbst Jahre nachdem sich der Rauch wieder verzogen hat, bleiben die Meere deutlich kühler als heute. Der globale Temperatursturz lässt das Meereis um mehr als 15 Millionen Quadratkilometer anwachsen, was einige wichtige Häfen vollkommen blockieren würde, darunter den Hafen von Tianjin in Peking, Kopenhagen und St. Petersburg. Ganz generell dürfte die Schifffahrt in der nördlichen Hemisphäre in weiten Teilen zum Stillstand kommen, was es wiederum sehr schwer macht, Lebensmittel und Versorgungsgüter an ihre Ziele zu transportieren.

Auch auf die Meeresbiologie würde sich der nukleare Winter unweigerlich auswirken. Dem Lichtmangel und dem Temperaturrückgang würden zuallererst die Meeresalgen zum Opfer fallen, sie sind das Fundament der marinen Nahrungsnetze – eine ozeanische Hungersnot und damit der Zusammenbruch der globalen Fischereiindustrien wären unausweichlich.

Folgen für Jahrtausende
Ehe sich die Erde vom Schlimmsten einigermaßen erholt hätte, dürften Jahrzehnte vergehen. Vor allem die Ozeane würden lange an den Veränderungen laborieren. Im angenommenen US-russischen Kriegsszenario dürften wohl Jahrhunderte ins Land ziehen, bevor tiefere Schichten der Ozeane in einen Zustand wie vor dem Atomkrieg zurückkehren. Bis die nuklearen Eiszeit zu Ende geht würde und das arktische Meereis sich wieder zurückgezogen hätte, dauerte es wahrscheinlich sogar Tausende von Jahren.

Die Ergebnisse ihrer Studie würden einmal mehr hervorstreichen, wie eng die globalen Erdsysteme heute miteinander vernetzt sind und wie empfindlich sie auf Störungen durch große Katastrophen wie Vulkanausbrüche, großflächige Waldbrände oder Kriege reagieren, so die Forschenden. "Der aktuelle Krieg in der Ukraine mit Russland und seine Auswirkungen etwa auf die Gaspreise zeigen uns eindringlich, wie anfällig unsere Weltwirtschaft und unsere Lieferketten gegenüber scheinbar regionalen Konflikten sind", sagt Harrison.

"Ein Atomkrieg hat schlimme Folgen für alle. Die Staats- und Regierungschefs der Welt haben bereits in den 1980er-Jahren auf unsere Studien verwiesen, um das nukleare Wettrüsten zu beenden," sagt Co-Autor Alan Robock von der Rutgers University. "Wir hoffen, dass diese neue Studie mehr Nationen dazu ermutigen wird, den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu ratifizieren."
(tberg, 9.7.2022)

Studie

AGU Advances: "The new ocean state after nuclear war."

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#9
Selbst ein Mini-Atomkrieg könnte Hungersnöte verursachen
Der Einsatz von Nuklearwaffen hätte weitreichende Folgen auf die Ernährungssicherheit, zeigen Forschende in einer aktuelle Studie

Die Folgen eines nuklearen Winters für die Lebensmittelversorgung wären fatal – für Milliarden von Menschen, wie eine Studie zeigt.
Foto: Imago/United Archives Int WHA

13.400 Sprengköpfe horten die neun Atommächte mutmaßlich weltweit in ihren Arsenalen. Etwa 4.000 davon sind einsatzbereit und 1.800 in ständiger Alarmbereitschaft, um ihr Ziel innerhalb von Minuten zu erreichen. Erst kürzlich hat eine wissenschaftliche Studie im Detail verdeutlicht, welche Auswirkungen ein Atomkrieg auf die Atmosphäre und die Ozeane hätte. Nun zeigt ein weiteres Forschungsteam auf, welche Folgen eine nukleare Eskalation auf die weltweite Ernährungssicherheit hätte. Dabei wird deutlich, dass selbst ein kleiner Atomkrieg zu Hungersnöten führen könnte.

Die radioaktive Verstrahlung wäre klarerweise in der näheren Umgebung das größte Problem. Großflächig oder gar global hätte hingegen der Rußeintrag von Bränden, die durch Kernwaffen-Detonationen ausgelöst würden, mitunter fatale Auswirkungen auf die weltweite Nahrungsmittelproduktion.

Ähnliche Folgen wie jene eines Asteroideneinschlags
Das internationale Team um Lili Xia, vom Department für Umweltwissenschaften der Rutgers-Universität in New Brunswick, analysierte in sechs unterschiedlichen Szenarien, welche Auswirkungen die Detonation von Kernwaffen auf die Nahrungsmittelproduktion hätte und wie viele Todesfälle durch dadurch ausgelöste Hungersnöte zu erwarten wären. Ihre Arbeit ist in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts "Nature Food" erschienen.
Die Problemstellung ähnelt jener des Asteroideneinschlags vor rund 66 Millionen Jahren auf die Erde. Dieser hatte den Eintrag von Sulfaten und Ruß in die Atmosphäre zur Folge. Durch das abgeschirmte Sonnenlicht kühlte die Erde ab, das Wetter veränderte sich und das Nahrungsangebot verknappte sich drastisch. Die bekanntesten Opfer dieser Katastrophe waren die Dinosaurier, darüber hinaus waren aber noch viele weitere Spezies betroffen. "Diejenigen, die nicht unmittelbar vom Einschlag betroffen waren, starben schließlich an Hunger", schreibt Deepak K. Ray von der Universität Minnesota in Saint Paul in einem Kommentar zu der aktuellen Arbeit. Ein ähnliches Szenario könnte sich auch durch Kernwaffendetonationen ergeben.

Ernteausfälle durch von Kernwaffenexplosionen entzündete Brände
Auch durch den Rußeintrag durch von Kernwaffenexplosionen verursachten Bränden würde Sonnenlicht davon abgehalten werden, die Erdoberfläche zu erreichen. Wie groß die resultierenden Ernteausfälle durch einen nuklearen Winter wären, hänge einerseits vom Ausmaß der Abkühlung, aber auch von den Veränderungen bei den Niederschlägen und der Sonneneinstrahlung auf die Erdoberfläche ab, die sich aus dem aufgewirbelten Ruß ergeben würden.

Konkret modellierte das Team um Lili Xia, wie sich ein einwöchiger Atomkrieg auf die Versorgung mit wichtigen Feldfrüchten und Meeresfischen sowie auf die Nutztierbestände auswirken würde. Ausgehend davon errechneten die Forschenden die Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung. Dabei wurde auch berücksichtigt, dass zunächst eingelagerte Lebensmittel zu Verfügung stünden und Lebensmittelabfälle in einer Notsituation reduziert würden. Weiters wurde angenommen, dass bei einer drohenden Hungerkrise die Felder hauptsächlich für die unmittelbare Lebensmittelproduktion für Menschen genutzt würden und weniger für Tierfutter oder Biokraftstoffen.

Mehrere Milliarden Hungertote in zwei Jahren
Trotz dieser Maßnahmen würde eine Kernwaffendetonation, die mehr als fünf Millionen Tonnen Ruß erzeugt, voraussichtlich in fast allen Ländern zu einer massiven Nahrungsmittelknappheit führen, wie die Berechnungen ergaben. Für einen Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan würden die Forschenden innerhalb der ersten zwei Jahre nach Kriegsbeginn 2,5 Milliarden Hungertote erwarten. Bei einem Atomkonflikt zwischen der USA und Russland wären sogar fünf Milliarden Hungertote zu befürchten. Diese Ergebnisse "unterstreichen die Wichtigkeit von globaler Zusammenarbeit, um Atomkriege zu vermeiden", lautet das Fazit des Forschungsteams.
(16.8.2022, Tanja Traxler)

Studie
Nature Food: "Global food insecurity and famine from reduced crop, marine fishery and livestock production due to climate disruption from nuclear war soot injection"

Begleitkommentar zur Studie
Nature Food: "Even a small nuclear war threatens food security"

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Selbst ein Mini-Atomkrieg könnte Hungersnöte verursachen
 

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#10
SIPRI SCHLÄGT ALARM
Zahl einsatzfähiger Atomwaffen steigt
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Geht es nach dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) steht die Welt vor „dem Ende eines langen Zeitraums der weltweit zurückgehenden Zahl von Nuklearwaffen oder habe es sogar schon erreicht“. Wie aus dem jährlichen SIPRI-Bericht zum weltweiten Atomwaffenarsenal hervorgeht, sei auch 2022 die Gesamtzahl der Atomwaffensprengköpfe weiter zurückgegangen – dennoch gebe es nun mehr nutzbare Atomsprengköpfe als im Jahr zuvor.
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„Wir driften in eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte“, sagte SIPRI-Direktor Dan Smith anlässlich der Veröffentlichung des Jahrbuches 2022. Es müssten „unbedingt“ Wege der Zusammenarbeit gefunden werden, um geopolitische Spannungen abzubauen und den Rüstungswettlauf zu verlangsamen.

SIPRI unterscheidet bei seinen Recherchen zwischen einsatzbereitem Lagerbestand und Gesamtbestand. Zu Letzterem gehören auch ältere Atomwaffen und solche, die für den Rückbau bestimmt sind. Die neun Atomstaaten würden dem SIPRI-Bericht zufolge ihre Atomwaffenarsenale weiter modernisieren – einige hätten im Vorjahr auch neue nuklear bewaffnete oder nuklearfähige Waffensysteme installiert.

Löwenanteil weiter bei Russland und USA
Die Gesamtzahl der nuklearen Sprengköpfe im Besitz von Großbritannien, China, Frankreich, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan, USA und Russland ging 2022 im Vergleich zum Jahr davor von 12.710 auf 12.512 zurück. Von diesen waren laut SIPRI 9.576 und damit 86 mehr als 2021 in „militärischem Lagerbestand für potenziellen Gebrauch“.
Grafik: APA/ORF; Quelle: SIPRI
Davon seien etwa 3.844 nukleare Sprengköpfe einsatzbereit und rund 2.000 in höchster Alarmbereitschaft – beinahe alle davon im Bestand der USA oder von Russland.

Die beiden Großmächte verfügen zusammen über fast 90 Prozent aller Atomwaffen. Aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 habe die Diplomatie im Bereich der Rüstungskontrolle sowie Abrüstung aber einen schweren Rückschlag erlitten. Auch die Transparenz in Bezug auf Atomwaffen nahm ab.

Erhöhtes Risiko von „Fehleinschätzungen“
„Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Nukleardiplomatie wiederherzustellen und die internationalen Kontrollen von Atomwaffen zu verstärken“, betonte Smith und sprach das erhöhte Risiko von „Fehleinschätzungen, Missverständnissen oder Unfällen“ zwischen den Atommächten an. Sowohl die USA als auch das Vereinigte Königreich stellten der Öffentlichkeit im Jahr 2022 keine Informationen über ihre Nuklearstreitkräfte zur Verfügung – anders als in den Jahren zuvor.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte im Februar den New-START-Vertrag mit den USA zur Verringerung des Atomwaffenarsenals ausgesetzt. Russland hatte allerdings erklärt, sich weiter an die Obergrenzen des Vertrags halten zu wollen. Es ist der letzte noch bestehende Abrüstungsvertrag zwischen den beiden Atommächten. Zuletzt zeigte sich der Kreml wieder offen für einen neuen Dialog über die gegenseitige atomare Rüstungskontrolle.

China stockte Arsenal deutlich auf
Der Großteil der aktuellen Steigerung ist auf China zurückzuführen, das den SIPRI-Zahlen zufolge seinen Lagerbestand von 350 auf 410 Atomwaffensprengköpfe erhöhte. Indien, Pakistan, Nordkorea und in einem geringeren Maße auch Russland erhöhten ebenfalls ihre Lagerbestände, die übrigen Atommächte behielten ihre Zahlen bei.

SIPRI verweist zudem darauf, dass auch Großbritannien in der Vergangenheit bereits angekündigt habe, die bisherige Obergrenze für Atomsprengköpfe von 225 auf 260 erhöhen zu wollen. Zudem entwickle Frankreich weiterhin die dritte Generation der Atom-U-Boot-Trägerrakete (SSBN) und auch Indien, Pakistan und Israel, das offiziell Aussagen zu seinen Atomwaffenbeständen verweigert, arbeiteten an der Expansion und Erneuerung ihrer Atomwaffenarsenale, heißt es im SIPRI-Bericht.

A-Bombe für Nordkorea „zentrales Element“
Nordkorea priorisiere sein Atomwaffenprogramm weiter als „zentrales Element“ der nationalen Sicherheitsstrategie. Die Experten schätzen, dass das Land derzeit über 30 nukleare Sprengköpfe verfügt und genug Material für 50 bis 70 weitere besitze – ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr.

SIPRI-Chef Smith verwies darauf, dass die steigenden Lagerbestände nicht mit dem Krieg in der Ukraine erklärt werden könnten, weil es länger dauere, neue Sprengköpfe zu entwickeln. Zudem seien die Länder mit den größten Erhöhungen nicht direkt vom Krieg betroffen. Und was Pekings Investitionen in Sachen Aufrüstung betrifft, sehe man nach den Worten von Smith „Chinas Aufstieg zur Weltmacht“ – und „das ist die Realität unserer Zeit“.
12.06.2023, red, ORF.at/Agenturen

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SIPRI schlägt Alarm: Zahl einsatzfähiger Atomwaffen steigt
 

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#11
Dreikörperproblem
Atomwaffen und das mathematische Dilemma
Das Dreikörperproblem: Beziehungen werden kompliziert, wenn drei statt zwei im Spiel sind. Das gilt auch für die Atompolitik.
Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es ein Wettrüsten und danach diverse Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau. Doch China rüstet auf und könnte bald auf atomarer Augenhöhe sein. Das ist ein mathematisch-physikalisches Dilemma. Denn die Komplexität steigt in einer Gruppe beim Anwachsen von zwei auf drei nicht um 50 Prozent – sondern um ein Vielfaches. Politik und Naturwissenschaft suchen momentan fieberhaft Lösungen für dieses Dreikörperproblem.

Das Thema ist reich an tatsächlicher Dramatik. „Wir müssen Hoffnung finden“ und „das ganze System der atomaren Abrüstung muss neu gedacht werden“, appellieren US-Sicherheitsberater. Es geht um vielfältige, komplexe, internationale Allianzen in Sachen atomarer Massenvernichtung. Um die Dramatik zu verstehen, bedarf es jedoch eines kleinen, simplen Ausflugs in die Mathematik.

Der Anstieg von zwei auf drei ist ein linearer – rein von der Menge her. Die Komplexität eines Systems mit drei Playern statt zwei steigt aber nicht analog dazu linear, sondern exponentiell, also sprunghaft. Am klarsten zeigt sich das Dilemma an folgendem fiktiven und stark vereinfachten Szenario: Wenn Moskau und Washington sagen, sie stoppen die Rüstung, sobald jeder 1.500 Atombomben hat (zur Vereinfachung fiktive Zahlen, weiter unten die konkreten), dann ist nach 1.500 Atomwaffen das angepeilte Patt erreicht. Niemand drückt dann den Knopf, weil keiner der beiden etwas zu gewinnen hätte.

Wenn es neben den USA und Russland aber auch noch China gibt, und alle drei machen sich aus, dass nach 1.500 Atombomben Schluss ist – was passiert dann, wenn sich China und Russland zusammentun? Dann steht es 3.000 zu 1.500. Also müssten die USA, um sicherzugehen, 3.000 Atomwaffen anschaffen. Aber danach sieht man in Russland das Horrorszenario, dass sich China und die USA mit dann 4.500 Atomwaffen zusammentun könnten. Also rüstet Russland auf 4.500 Atomwaffen auf. Aber China kann auch nicht mit Sicherheit sagen, dass sich Russland und die USA nicht zusammentun – und so weiter.

Dramatischer Appell im Weißen Haus
Das Problem klingt sehr theoretisch, ist aber in der Praxis bereits in höchsten Kreisen angekommen. Medial geht die Debatte neben der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg und die Klimakatastrophe unter. Dabei wäre sie für die Zukunft des Planeten genauso wichtig – und eine Lösung drängt. Das weiß auch Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater der USA. Er äußerte im Juni in einer Ansprache seine Bedenken. Das amerikanische Militär brauche kein Waffenarsenal, das größer sei als das aller konkurrierenden Nationen weltweit zusammengenommen.
Vot 60 Jahren sprach Präsident Kennedy zu unserer Nation in einem ‚Klima der Hoffnung‘. So hat er das genannt – ein Klima der Hoffnung. Die Hoffnung, dass wir das strategische Wettrüsten irgendwie managen können. Die Hoffnung, dass wir eines Tages in einer Welt ohne Atomwaffen Heute sind wir neuen Bedrohungen ausgesetzt im Angesicht der Risse in unserer nuklearen Ordnung einer Welt nach dem Kalten Krieg. Ich glaube nicht nur, dass wir diese Hoffnung wieder finden werden. Ich glaube, wir müssen.
Jake Sullivan, Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, am 2. Juni 2023 bei einer Rede im Weißen Haus
Die Aufholjagd
Die USA, so Sullivan weiter, seien bereit, ihre Aufrüstung zu bremsen, wenn auch Russland dazu bereit sei, und strebten nach einem Abkommen im Rahmen der G-5, der neben Russland und den USA noch Großbritannien, Frankreich und vor allem China angehören. Im jährlichen Bericht des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) über die weltweite Rüstungslage, der heuer im Juni präsentiert wurde, kann man nachlesen, warum das so wichtig wäre: Es gebe international eine wachsende Anzahl einsatzfähiger Atomwaffen, die Systeme würden in den USA und in Russland modernisiert, und China baue sein nukleares Arsenal deutlich aus.

Insgesamt gibt es aktuell 9.576 einsatzfähige Atomwaffen weltweit, das sind um 86 mehr als im Vorjahr. Die USA verfügen über 3.708, Russland hat 4.489 und China, abgeschlagen auf dem dritten Platz, 410. Aber ein Großteil des Wachstums – 60 von 86 Atomwaffen – geht auf die Kappe Chinas, das im Eiltempo aufholt. Frankreich verfügt über 290, Großbritannien über 245, Pakistan immerhin über 170, Indien über 164 Atomwaffen (hier konkurrieren Indien und Pakistan), Israel über 90, Nordkorea – geschätzt – über 30.

Für die USA stehen neben der Modernisierung des Waffenarsenals (damit von der gesamten Anzahl an Atomwaffen mehr einsatzfähig sind) vor allem die Koordination mit den NATO-Verbündeten und den mit der NATO assoziierten Ländern im Vordergrund, wie Sullivan sagte, aber auch Verhandlungen mit Russland und China, wie sie demnächst stattfinden sollen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und Chinas Expansionsdrang machen den USA Angst – nicht zuletzt in Kombination.

Chinas „strategische Abschreckung“
Das Pentagon rechnet in seinem jüngsten jährlichen Bericht über Chinas Militär damit, dass China, wenn es weiter so aufrüstet wie momentan, bis 2035 1.500 Atomsprengköpfe haben wird. Dann wäre die Situation ähnlich wie ganz oben vereinfacht beschrieben: China kann, je nachdem, mit wem es kooperiert, den Ausschlag geben für die Bildung einer deutlich überlegenen Atommacht. Letzten Oktober kündigte der chinesische Präsident Xi Jinping an, dass sein Land die „strategische Abschreckung“ ausbauen wolle – eine Umschreibung, die im offiziellen chinesischen Sprachgebrauch meist mit Atomwaffen gleichzusetzen ist.

Raketenschau bei einer Militärparade auf dem Pekinger Tiananmen-Platz
Greg Baker/AFP/picturedesk.com

Dass die USA gemeinsam mit ihren Alliierten Frankreich, Großbritannien und Israel über ähnlich viele Atomwaffen verfügen wie Russland, noch dazu nicht weit von der russischen Grenze entfernt, war einer der Gründe, ob vorgeschoben oder nicht, für die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, in der Ukraine einzumarschieren – aus Angst, auch in der Ukraine könnten als potenziellem NATO-Land Atomwaffen stationiert und gegen Russland gerichtet werden.

„Dinge werden chaotisch“
Das Dilemma des Dreikörperproblems war der „New York Times“ unlängst einen umfangreichen Bericht wert – und auch Wikipedia widmet dem Phänomen einen ausführlichen Eintrag. Dabei wird die Frage der drei Körper an der Wurzel gepackt. Das Problem sei zuerst Isaac Newton klar geworden. Er wollte, nachdem er den Einfluss der Anziehungskraft des Mondes und der Erde auf deren Umlaufbahnen errechnet hatte, auch die Sonne einbeziehen. Was er auch versuchte – es gelang ihm bis zu seinem Lebensende nicht. Das Problem war zu komplex.

Auch Atome veranschaulichen den Komplexitätssprung. Wasserstoff besteht aus zwei Hauptbestandteilen, einem Kern und einem Elektron. Man kann die zukünftigen Zustände der subatomaren Teilchen mit großer Genauigkeit vorhersagen. Helium aber hat zwei Elektronen, besteht also mitsamt dem Kern aus drei Hauptbestandteilen. Das versetzt die Gemengelage in einen komplizierten Zustand, der sich dem Verständnis der Wissenschaft entzieht. „Es gibt keine exakte Lösung“, sagte Michael S. Lubell, Professor für Physik am City College New York, gegenüber der „New York Times“. „Man kann nicht herausfinden, was mit ihrem Verhalten, ihrer Position oder sonst etwas passiert. Es lässt sich nicht skalieren. Die Dinge werden chaotisch.“

Die Dreierfamilie als Beispiel
Während das Umlegen naturwissenschaftlicher Prinzipien auf sozialwissenschaftliche Themen in der Soziologie und Politikwissenschaft sonst höchst umstritten ist, besteht hier allerdings in menschlichen Gruppen tatsächlich eine Analogie, aufgrund der Mathematik, die anhand von Beispielen erklärt werden kann:

Zwei Frauen leben zusammen. Es gibt eine einzige Beziehungskonstellation: die zwischen der einen und der anderen Frau. Eine der beiden bekommt ein Kind. Jetzt leben sie zu dritt zusammen. Plötzlich gibt es sieben Beziehungskonstellationen: drei zwischen zwei von ihnen, drei zwischen jeweils zwei von ihnen auf der einen Seite und der dritten Person auf der anderen Seite und eine als Dreiergruppe. Also: 1:1, 1:1, 1:1, 2:1, 2:1, 2:1, 3. Das System der Kommunikation ist nun ungleich komplizierter. Die eine Frau fühlt sich ausgeschlossen aus der engen Mutter-Kind-Beziehung. Das Kind fühlt sich ignoriert, wenn die beiden Frauen lange Gespräche führen. Und so weiter. Auch aus Freundschaftskonstellationen kennt man Ähnliches.

„Die USA können China durch nichts abhalten“
Im Familienbeispiel wäre China das Kind, das dazukommt. Der US-amerikanische Militärexperte Andrew Krepinevich – er diente 20 Jahre bei der Army und berät seither die US-Regierung in militärischen Belangen – schrieb vor einem Jahr in einer lesenswerten, ausführlichen Analyse für „Foreign Affairs“, dass China alleine zum damaligen Zeitpunkt 220 Interkontinentalraketen, die für den Transport von Atomwaffen gedacht sind, produziert hat, wie Satellitenbilder zeigten. Auch er meint:
Mit drei konkurrierenden großen Nuklearmächten wird vieles von dem, was in einem bipolaren System für Stabilität gesorgt hat, entweder ganz infrage gestellt oder ist weit weniger verlässlich. Die USA können China durch nichts davon abhalten, zu ihnen selbst und Russland aufzuschließen als eine der dann drei größten Atommächte, aber US-Strategen und Militärplaner können einiges tun, um die Konsequenzen einzudämmen. Zunächst einmal müsste das System der nuklearen Abschreckung der USA modernisiert werden. Aber es müsste auch das ganze System der nuklearen Machtbalance aus Sicht der USA neu gedacht werden – in einem weit komplexeren strategischen Umfeld, damit weiterhin Abschreckung gewährleistet ist und nuklearer Friede herrscht.
US-Militärexperte Andrew Krepinevich
Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau – mit Interkontinentalraketen
Alexander Nemenov/AFP/picturedesk.com

Nordkoreanische Militärparade für Russland und China
Die internationale Reisediplomatie steht ganz im Zeichen des atomaren Revivals. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu besuchte unlängst – gemeinsam mit einer chinesischen Delegation – Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un in Pjöngjang. Dabei verständigten sich Nordkorea und Russland, in Fragen der Sicherheit und Verteidigung enger zusammenarbeiten zu wollen. Sowohl die chinesische Delegation, angeführt von Li Hongzhong, Mitglied des chinesischen Politbüros, als auch Schoigu wohnten einer protzigen Militärparade in Pjöngjang bei. Das offizielle China und das offizielle Russland lassen gemeinsam nordkoreanische Mittelstreckenraketen vor sich paradieren – ein Bild mit Symbolwert für das Dreikörperproblem. Nordkorea soll ja über 30 Atomwaffen verfügen. Der fehlende Dritte sind die USA.

In Russland wiederum empfing Präsident Wladimir Putin Ende Juli bei einer Konferenz in St. Petersburg persönlich Vertreter fast sämtlicher afrikanischer Staaten, darunter 17 Staats- und Regierungschefs. Namibia lag laut Zahlen der World Nuclear Association 2022 auf Platz drei der weltweiten Uranförderung (hinter Kasachstan und Kanada), Niger auf Platz sieben. Rund 25 Prozent der Uranlieferungen nach Europa kamen im Jahr 2022 laut Zahlen von Euratom aus Arlit in Niger.

Ob Russland am Putsch in Niger beteiligt war, lässt sich nicht sagen. Laut offiziellen US-Informationen sei das nicht so gewesen. Moskau verurteilt offiziell den Putsch. Die russische Wagner-Truppe, die mit rund 1.000 Soldaten (wie auch die USA und Frankreich) schon vor dem Umsturz der Militärjunta im Land war, hieß selbigen jedoch gut. Die USA wiederum betreiben eine Drohnenbasis im nigrischen Agadez.

Gemeinsam gegen die Aufklärung
Beim Gezerre um Einfluss in rohstoffreichen afrikanischen Staaten haben Russland und China gegenüber den USA und Europa einen Vorteil, der immer wieder auch am Rande internationaler Konferenzen Thema ist: die gemeinsame Ablehnung einer Globalisierung des westlichen Wertekanons, von LGBTQ-Rechten bis hin zur Art der Ausgestaltung von Demokratien.

Hier schließt sich der internationale Kreis auch mit den europäischen und US-amerikanischen Rechten, Stichworte Ethnopluralismus und Globalismus. Da heißt es sinngemäß: Fremde Völker sind super, sollen aber dort bleiben, wo sie herkommen. Und niemand soll ihnen dreinreden, wie sie zu leben oder zu regieren haben – von Ungarn und Russland über afrikanische Staaten bis Nordkorea und China. Abgelehnt wird der universale Anspruch der Menschenrechte, die aus dem Gedanken der Aufklärung geboren wurden. Propagandisten dieser Lehre machen sich so (zumindest indirekt) zu Handlangern Russlands und Chinas.

Das Ende der MAD-Doktrin
In der bipolaren Welt des Kalten Krieges gab es nur Team A, Team B und die Blockfreien Staaten, die sich (sehr grob verkürzt) nicht einmischten. Es gab die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten auf der einen Seite und die USA und ihre Satellitenstaaten und Verbündeten auf der anderen Seite. Stellvertreterkriege wurden in diversen Ländern geführt, etwa in Afghanistan (1979–1989) und Angola (1975–2002). Die USA unterstützten die eine Seite, die Sowjetunion die andere Seite in den jeweiligen Bürgerkriegen. So wurde indirekt gekämpft, auf dem Rücken der Zivilbevölkerung fremder Länder, aber zum großen direkten Krieg mit Atomwaffen kam es nie.

Man nannte das ein „Gleichgewicht des Schreckens“, die MAD-Doktrin (mutually assured destruction – gegenseitig zugesicherte Zerstörung). Wenn ein Staat komplett atomar zerstört wird, kann er trotzdem noch rechtzeitig auch die komplette atomare Zerstörung des anderen Staates in die Wege leiten. Beide wären komplett vernichtet. Deshalb greift keiner an.

Aber: Wenn beim Abschießenspielen drei Kinder einen Ball in der Hand haben, funktioniert das Prinzip nicht mehr. Dann können zwei auf einen schießen. Das ist das Dreikörperproblem – und unendlich viele Faktoren spielen mit. Newton hatte seine Lösung des Problems nicht gefunden. Zurück zu Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater der USA: In diesem Fall „müssen wir“.
23.08.2023, Simon Hadler (Text), Verena Repar (Animationsvideo), beide ORF Topos

Links:
Jake Sullivans Rede im Weißen Haus im Wortlaut (White House)
SIPRI-Rüstungsbericht
Zusammenfassung des Pentagon-Berichts über das chinesische Militär (Reuters)
The new nuclear age („Foreign Affairs“, zahlungspflichtig)
Statistik weltweiter Uranförderung (World Nuclear Association)
Artikel über Schoigus Besuch in Nordkorea („Spiegel“)
Artikel über Schoigus Besuch in Nordkorea („taz“)
Artikel über Kampf um Einfluss in Afrika („Spiegel“)
Artikel über Kampf um Einfluss in Niger („Der Standard“)
ORF Topos
 

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#12
APOKALYPTISCH
Was bei einem Angriff auf 450 US-Atomwaffenlager passieren würde
Die USA wollen ihr Nuklearwaffenarsenal erneuern. Ein Bericht macht deutlich, wie viele Menschen bei Angriffen auf alle US-Standorte sterben könnten

Bild eines Atombombentests 1946. Eine neue Analyse schätzt die Todeszahlen bei einem Angriff auf alle Atomwaffenabschussanlagen in den USA ein.
imago / United Archives International

Nicht nur bei Atommüll stellt sich die Frage, welches Risiko ein Lager radioaktiver Stoffe im Fall eines Kriegs mit sich bringt, wie der Ukrainekrieg zeigt. Größer ist diese Gefahr üblicherweise, wenn es um Atomwaffendepots geht, die selbst darauf angelegt sind, große Schäden zu verursachen. Würde etwa das Atomwaffenarsenal in den USA angegriffen werden, rechnen Fachleute mit zwei Millionen Todesfällen allein durch akute Strahlenbelastung. Weitere 300 Millionen Personen könnten durch den Fallout sterben, also den radioaktiven Niederschlag mit dem Staub aus den Explosionen. Dies ginge über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus, die selbst eine Bevölkerung von 340 Millionen Menschen haben.

Auf diese Zahlen kommt eine Simulation, die der Kernwaffenexperte Sébastien Philippe von der Universität Princeton für das Magazin "Scientific American" mit Kolleginnen und Kollegen durchgeführt hat. Dabei handelt es sich nicht um eine fachbegutachtete Studie, wie man sie in Fachjournalen veröffentlicht. Die Zeitschrift veröffentlichte bereits 1976 und 1988, während des Kalten Kriegs, vergleichbare Analysen.




Risikogebiete: Die Karte Nordamerikas zeigt in Gelb die Orte, an denen sich Nuklearwaffensilos befinden. Wenn diese angegriffen würden, könnte die hohe Strahlenbelastung in den dunkelviolett bis pink markierten Gebieten für zahlreiche Todesfälle sorgen. Orange markiert sind jene Bereiche, in denen Menschen erhöhter Strahlenbelastung ausgesetzt wären.
Sébastien Philippe, Svitlana Lavrenchuk, Ivan Stepanov

Der jetzige Sonderbericht erhält seine Aktualität nicht nur durch den in diesem Sommer erschienenen Blockbuster "Oppenheimer". Er kam zustande, da die US-Regierung plant, die Atomwaffen für 1,5 Billionen Dollar zu modernisieren: Die teils 50 Jahre alten Raketen will man durch neue Modelle ersetzen, die Infrastruktur erneuern.

Über Grenzen der USA hinaus
Die USA verfügen innerhalb der Bundesstaaten über mehrere Hundert Abschussanlagen für landgestützte ballistische Interkontinentalraketen. Diese 450 Abschussanlagen werden kontinuierlich in Abschussbereitschaft gehalten, um einen nuklearen Angriff aus dem Ausland zu verhindern. Sie befinden sich in fünf Bundesstaaten im zentralen bis nördlichen Bereich der USA: Montana und North Dakota liegen an der Grenze zu Kanada, südlich davon gehören außerdem Wyoming, Nebraska und Colorado zu den Staaten mit solchen Anlagen.

Diese Verteilung auf mehrere Standorte soll es für potenzielle Gegner schwierig machen, einem Vergeltungsschlag zu entgehen. Immerhin müsste man dafür alle 450 Anlagen gleichzeitig treffen. Dies soll auch das Risiko für einen Angriff minimieren.


Diese Karte veranschaulicht das Worst-Case-Szenario, wenn sich der radioaktive Fallout durch die Wetterlage beinahe über ganz Nordamerika verteilt.
Sébastien Philippe, Svitlana Lavrenchuk, Ivan Stepanov

Bemerkenswert ist, dass der neuen Auswertung zufolge weite Teile Nordamerikas von einem solchen Katastrophenfall betroffen wären. Je nach Wind und Wetterlage gelte dies für fast die gesamte Bevölkerung der zusammenhängenden US-Bundesstaaten (Hawaii und Alaska grenzen an keine anderen US-Staaten) sowie die nördlichen Regionen Mexikos und die am dichtesten besiedelten Gebiete Kanadas. Viele Gemeinden wüssten gar nicht, dass sie sich in einer Fallout-Risikozone befinden, heißt es in einer Aussendung.

Unterschätzte Gefahr
Dies hängt auch damit zusammen, dass frühere Szenarien entsprechende Gefahren eher unterschätzten. Das neue Modell nutzt höher aufgelöste Wetterdaten von 2021 und soll so genaue Prognosen liefern wie noch nie. Dadurch ermittelte Philippe für Nordamerika, dass bei einem Angriff auf alle Abschussanlagen ein bis zwei Millionen Menschen durch die akute Strahlenbelastung sterben würden. Durch den Fallout, also radioaktiven Staub und sauren Regen, wären weitere 300 Millionen Menschen aufgrund von Strahlendosen gefährdet, die mindestens 1.000-mal höher wären als der derzeitige Jahresgrenzwert.


Eine inaktive US-Interkontinentalrakete mit der Bezeichnung Minuteman III mit nuklearen Sprengköpfen, hergestellt von Boeing. Die USA planen die Modernisierung ihres Atomwaffenarsenals.
AP / Charlie Riedel

Karten zeigen in dem Bericht, an welchen Orten das Risiko hoch ist und auf welch immense Fläche es sich beim Worst-Case-Szenario ausbreitet. Das Thema wird aus mehreren wissenschaftlichen und sozialen Blickwinkeln betrachtet und in Podcasts und einem Video aufgearbeitet. Die Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Folgen für Nordamerika und geht kaum auf jene für andere Weltregionen ein.

Zum Kernwaffenarsenal gehören etwa 3.700 Waffen, von denen 1.700 für die militärische Nutzung bereitstehen. Der Rest ist unter der Aufsicht des Energieministeriums eingelagert. Russland dürfte über ähnlich große Waffenmengen verfügen, daneben haben auch Frankreich und Großbritannien einsatzbereite Atomwaffen. Zu den weiteren Staaten mit Atomwaffen gehören China, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea.

Plädoyer gegen Aufrüstung
Die Risiken eines tatsächlichen Angriffs auf die Anlagen in den USA sind immens und wurden in den Umweltverträglichkeitsberichten, die das geplante Waffenupdate begleiteten, nicht bewertet, wird im zugehörigen Leitartikel von "Scientific American" kritisiert. Im Kommentar werden die für Land, Luft und Seeweg angepassten Kernwaffen als "ungewollt, unnötig und unsicher" bezeichnet und als selbst angebrachtes Damoklesschwert, das "das Leben auf der Erde für das kommende Jahrhundert bedroht".


Ein Atomsprengkopf wird aus dem Silo Bravo-9 in Montana abtransportiert. 450 Anlagen (Silos) befinden sich auf privaten landwirtschaftlich genutzten Gebieten.
AP/John Turner/U.S. Air Force

"Diese Karten vermitteln eine klare Botschaft, der die vielen Fachleute für nukleare Sicherheit und Umwelt, mit denen wir gesprochen haben, zustimmen: Diese Risiken sollten wir nicht eingehen", so Chefredakteurin Laura Helmuth. "Wir müssen aus der Vergangenheit lernen und von einem Kurs abrücken, der die Zukunft der Menschheit gefährden könnte."

Der Kommentar plädiert dafür, dass Nuklearwaffen nur in einer Anzahl existieren sollten, die den Gebrauch von Nuklearwaffen durch andere verhindert. Der ehemalige US-Verteidigungsminister William J. Perry betonte vor sieben Jahren, als die Pläne zur Modernisierung erstmals aufkamen, dass die USA und Russland bereits ein atomares Wettrüsten hinter sich hätten: "Es gibt nur einen Weg, einen Rüstungswettlauf zu gewinnen: Indem man sich weigert zu rennen."

Fallout: Coming 11.14.2023
Inside a quiet race to build a new nuclear age in America. Dropping on Tuesday, November 14: https://www.scientificamerican.com/Scientific American

Link
Scientific American: "The new nuclear age"

Weiterlesen
(sic, 14.11.2023)
Was bei einem Angriff auf 450 US-Atomwaffenlager passieren würde
 

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#13
US-Sorge über russische Atomwaffen im All
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Die USA sehen sich hochrangigen Regierungsvertretern zufolge mit einer neuen „ernsthaften Sicherheitsbedrohung“ konfrontiert, bei der es sich Medienberichten zufolge um russische Pläne für im Weltall stationierte Atomwaffen handelt. Der Kongress und europäische Alliierte seien informiert worden, hieß es. Unklar ist, wie konkret die Bedrohung ist – im Weißen Haus ärgerte man sich, dass das Thema nun öffentlich diskutiert wird.
Online seit heute, 6.33 Uhr (Update: 8.48 Uhr)
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Russland sei dabei, im Weltraum stationierte Atomwaffen gegen Satelliten zu entwickeln, berichteten der Sender ABC News und die „New York Times“ („NYT“) am Mittwoch unter Berufung auf nicht namentlich genannte US-Regierungsvertreter. Noch sei eine derartige Stationierung aber nicht erfolgt.

In der Öffentlichkeit beschränkten sich US-Regierungsvertreter auf kryptische Andeutungen bezüglich einer ernsten Angelegenheit. Sie versicherten, es bestehe kein Grund zur Panik, nannten aber keine Details. Die Angelegenheit soll am Donnerstag Thema einer Zusammenkunft der Kongressspitzen im Weißen Haus sein.

„Ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit“
Zuerst hatte der republikanische Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, Michael Turner, eine Erklärung veröffentlicht, in der von einer „ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit“ die Rede war.

AP/CQ Roll Call/Bill ClarkDer Abgeordnete Turner forderte die Veröffentlichung aller Details

Er rief Präsident Joe Biden auf, alle diesbezüglichen, als geheim eingestuften Unterlagen freizugeben, „damit der Kongress, die Regierung und unsere Verbündeten offen über die notwendigen Maßnahmen als Reaktion auf diese Bedrohung diskutieren können“.

Einsicht für alle Kongresspolitiker gefordert
In einem Brief mit seinem demokratischen Kollegen Jim Himes an die Abgeordneten schrieb Turner, der Ausschuss habe „eine dringende Angelegenheit hinsichtlich einer destabilisierenden ausländischen militärischen Fähigkeit identifiziert, die allen Kongresspolitikern bekannt sein sollte“. Der Geheimdienstausschuss hatte am Dienstag dafür gestimmt, Geheimunterlagen zu der Angelegenheit den Abgeordneten am Donnerstag in einem sicheren Raum zur Einsicht bereitzustellen.

Unklar ist, ob die plötzliche öffentliche Diskussion mit einem kürzlich erfolgten Raketenstart Russlands zu tun haben könnte. Am 9. Februar startete eine Sojus-Rakete, die laut „Guardian“ eine unter Verschluss gehaltene Nutzlast des russischen Verteidigungsministeriums ins All beförderte.
Der Kreml selbst wies am Donnerstag die Gerüchte über Moskaus nukleare Ambitionen im All zurück. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte, es handle sich um einen weiteren „Trick“ des Weißen Hauses, wie die staatliche Nachrichtenagentur TASS berichtete.

Weißes Haus kritisiert Gang an Öffentlichkeit
Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan kritisierte indes, dass Turner vor dem für Donnerstag geplanten Treffen im Weißen Haus an die Öffentlichkeit gegangen war. Er verwies darauf, dass ohnehin ein Treffen mit der „Gang of Eight“ geplant gewesen sei: „Wir haben für morgen ein Briefing für die Mitglieder der ‚Gang of Eight‘ des Repräsentantenhauses anberaumt“, sagte Sullivan.

Dieser Achtergruppe gehören hochrangige Kongressabgeordnete beider Parteien an, die vom Präsidenten über Aktivitäten des Geheimdienstes und verdeckte Operationen unterrichtet werden können. „Das ist schon fix ausgemacht. Ich bin daher etwas überrascht, dass der Kongressabgeordnete Turner sich heute vor dem geplanten Treffen öffentlich geäußert hat“, so Sullivan weiter.

Konkrete Bedrohung unklar
Unklar ist, wie konkret die Bedrohung ist – ganz relativieren wollte auch Sicherheitsberater Sullivan sie nicht. Auf die Frage, ob er den Amerikanerinnen und Amerikanern sagen könne, dass es keinen Grund zur Sorge gebe, antwortete er, dass es „unmöglich sei, mit einem klaren Ja zu antworten“, zitierte ihn die „NYT“.

AP/Sputnik Kremlin Photo/Kristina Kormilitsyna
Russlands Präsident Wladimir Putin stieg in letzter Zeit aus einigen Rüstungsabkommen aus

Der Demokrat Himes sagte, die Angelegenheit sei „ernst“, und gab seinem republikanischen Kollegen Turner recht, das Thema in den Mittelpunkt zu stellen, schrieb die „NYT“. Aber er relativierte die tatsächliche Bedrohung: „Sie wird Ihren Donnerstag nicht ruinieren“, so der Abgeordnete.
Der demokratische Senator Mark Warner und der republikanische Senator Marco Rubio äußerten sich in einer gemeinsamen Aussendung und sagten, dass der Geheimdienstausschuss die Angelegenheit „von Anfang an verfolgt“ habe, so die „NYT“. Man fürchte allerdings, dass die geforderte Freigabe von Informationen aufdecken könnte, wie man überhaupt an diese Hinweise gelangt sei.

Ukraine-Hilfe als möglicher Hintergrund
Die Kritik des Weißen Hauses am Vorgehen der Republikaner zeigt einmal mehr, wie zerstritten die US-Innenpolitik über den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine ist. Ein Teil der Republikaner hält ein 60 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket für die Ukraine auf. Dabei gilt der Republikaner Turner eigentlich als Unterstützer der Ukraine-Hilfen.

Laut „NYT“ wird in Washington darüber spekuliert, dass Turner die Spekulationen nun groß trommelt, um Druck auf seine eigene Partei auszuüben, damit diese die Finanzierung für die Ukraine im Repräsentantenhaus passieren lässt.

Schon Thema in „Raumschiff Enterprise“
Die Stationierung von Atomwaffen im Weltall ist ein Thema, das sich schon rund sechs Jahrzehnte zieht – selbst in der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ wurde über – von den USA stationierte – Atomwaffen im All geredet. Laut „NYT“ experimentierten die USA mit derartiger Technologie, aber setzten sie nie ein. Russland entwickle seit Jahrzehnten die Möglichkeiten im All weiter, so das Blatt weiter.

Letztes Jahr wurden in einem Bericht Russlands Waffen, um Satelliten auszuschalten, hervorgehoben – gleichzeitig wurde darin aber auch festgehalten, dass Russland nicht auf alle diese entwickelten Fähigkeiten zurückgreift. Der Einsatz einer Atomwaffe im Weltraum würde laut „NYT“ aber eine „potenziell dramatische Eskalation“ bedeuten. Der Weltraumvertrag aus dem Jahr 1967 verbietet den Einsatz von Atomwaffen im Weltraum. Russland stieg jedoch zuletzt aus vielen Rüstungsverträgen, die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammen, aus.
15.02.2024, red, ORF.at/Agenturen

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Berichte: US-Sorge über russische Atomwaffen im All
 

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WARNUNG VOR WELTRAUMWAFFE
Welche Folgen hätte eine Atomexplosion im Erdorbit?
Seit Februar warnen die USA vor neuen russischen Antisatellitenwaffen. Was bei einer Explosion im Orbit passieren kann, weiß man aus dem Kalten Krieg
Die Nachricht ging Mitte Februar schneller um die Welt als die Internationale Raumstation: Mike Turner, der republikanische Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, warnte eindringlich wie kryptisch vor einer "ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit" und forderte US-Präsident Joe Biden auf, "alle Informationen zu dieser Bedrohung" zu veröffentlichen. Bald wurde durch Medienberichte klar, worauf sich Turner bezog: Den US-Geheimdiensten liegen demnach Informationen vor, dass Russland an einer neuen Weltraumwaffe arbeite, möglicherweise mit nuklearen Kapazitäten. Russland dementiert das.

Die USA haben demnach ihre Verbündeten darüber informiert, dass Russland noch in diesem Jahr eine neue Antisatellitenwaffe ins All bringen könnte, die nuklear bestückt sein könnte. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg am Freitag berichtete, wollen die USA demnächst eine Resolution im UN-Sicherheitsrat einbringen, die das seit 1967 geltende Verbot von Atomwaffen im Weltraum unterstreicht. Dass Moskau im Entwurf der Resolution konkret genannt wird, darf bezweifelt werden, Russland ist wie die USA ebenfalls ständiges Mitglied im Sicherheitsrat und kann ein Veto gegen Resolutionen einlegen.


Mike Turner, der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, ließ im Februar mit Andeutungen über eine "ernsthafte Bedrohung" aufhorchen.
EPA/JIM LO SCALZO

Totalausfall im Orbit
Nähere Details zu der angeblichen russischen Waffe liegen nicht vor. Moskau weist Berichte über ein derartiges Projekt zurück, unter Fachleuten herrscht Uneinigkeit, was die Plausibilität einer angeblichen russischen Weltraumnuklearwaffe betrifft. Fest steht, dass einige Länder schon lange über Antisatellitenwaffen verfügen: Die USA und die Sowjetunion arbeiteten schon in den 1950-Jahren an Möglichkeiten, einzelne Satelliten im Erdorbit auszuschalten. Neben Washington und Moskau verfügen auch China und Indien über derartige Kapazitäten.

Der Bau atomar bestückter Antisatellitenwaffen wäre aber eine dramatische Eskalation. Auch wenn sie für das irdische Leben nicht unmittelbar bedrohlich wären, hätte ihr Einsatz dramatische Auswirkungen, sowohl im All als auch auf der Erde. "Die Hauptbedrohung wäre ein elektromagnetischer Impuls", sagt Hermann Ludwig Moeller, Direktor des European Space Policy Institute (ESPI) in Wien. "Das ist physikalisch nichts anderes als das, was bei einer großen Sonneneruption entstehen kann, und es führt dazu, dass die Elektronik durchbrennt." Die Folge wäre der Verlust oder Totalausfall vieler Satelliten, völlig ungeachtet davon, wer sie betreibt und welchen Zweck sie erfüllen.


Start eines Starlink-Satelliten von Space X. Das US-Unternehmen hat schon mehr als 5.000 Satelliten im Erdorbit, mehr als jeder andere Betreiber.
AP/Malcolm Denemark

Künstliches Polarlicht
Die enormen Auswirkungen von Atomexplosionen im erdnahen Weltraum beobachtete man schon vor mehr als einem halben Jahrhundert. Sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten führten Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre Atomtests in großer Höhe durch. 1962 ließen die USA beim größten derartigen Versuch, dem sogenannten Starfish-Prime-Test, einen 1,4-Megatonnen-Sprengkopf rund 400 Kilometer über dem Pazifik detonieren. Das ist in etwa die Höhe, in der sich heute die Internationale Raumstation befindet.

Ein künstliches Polarlicht, das mehrere Tausend Kilometer weit zu sehen war, blieb das harmloseste Ergebnis dieses Versuchs. Der durch die Detonation verursachte elektromagnetische Puls, der sich in der Erdatmosphäre ausbreitete, sorgte für den Ausfall von Elektronik und Telefonverbindungen in 1.500 Kilometern Entfernung zum Detonationspunkt und zog ein Drittel aller Satelliten im Orbit in Mitleidenschaft: Sieben davon, darunter auch zivile Forschungs- und Telekommunikationssatelliten, wurden funktionsuntüchtig. Untersuchungen zeigten, dass die freigesetzte Röntgenstrahlung noch jahrelang zu Schäden an Satelliten führte. Im Vergleich zu heute war der Orbit 1962 aber noch fast leer.


Aufnahme des Starfish-Prime-Tests 1962 eine Minute nach der Detonation in rund 400 Kilometer Höhe.
Los Alamos National Laboratory

Unkalkulierbares Risiko
Heute hätte eine solche Detonation weitaus größere Folgen, sagt Moeller. "Zum einen verliert man Infrastruktur im Orbit. Aber das Problem ist nicht nur, dass man Satelliten verliert, sondern auch die Dienstleistungen, die an diesen Satelliten hängen." Betroffen wären etwa Wettervorhersagen und Klimaforschung, Transport, Landwirtschaft oder das Bankwesen und die Stromwirtschaft. Eine atomare Antisatellitenwaffe würde also alle Dienste im erdnahen Weltraum bedrohen, zivile wie militärische, und zwar egal, wer sie betreibt und nutzt. Da sich auch die ISS im Erdorbit befindet, "wären auch einige Menschenleben direkt gefährdet", sagt Moeller.

Ein weiteres unkalkulierbares Risiko wäre der zusätzliche Weltraumschrott, der durch eine Atomexplosion anfallen würde. Beim Starfish-Prime-Test 1962 kreisten gerade einmal zwei Dutzend Satelliten um die Erde, heute sind es fast 10.000 – dazu kommen Millionen von Trümmern unterschiedlicher Größe, die schon jetzt aktive Satelliten und die Raumstation gefährden. Die ISS musste in den vergangen zwei Jahrzehnten mehr als 30-mal ihren Kurs ändern, um Kollisionen zu vermeiden. Eine Detonation hätte auch in dieser Hinsicht unkontrollierbare Auswirkungen für alle im Orbit aktiven Player, auch für den Aggressor und seine Verbündeten.


Weltraumschrott ist schon heute ein massives Problem für die Raumfahrt im erdnahen Orbit.
Esa

Verbotene Weltraumwaffen
Dass es durch Atomwaffenschläge im Weltraum keine Gewinner geben kann, war nach den Tests in den 1960er-Jahren offenkundig. Im 1967 geschlossenen Weltraumvertrag (Outer Space Treaty), der ein grundlegendes Regelwerk für Tätigkeiten im Weltraum darstellt, wurde daher ein Verbot festgeschrieben: Der Vertrag, den alle wichtigen Weltraumnationen unterzeichnet haben, erlaubt keine Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen im Orbit oder auf Himmelskörpern.

Ob Russland tatsächlich einen Vertragsbruch riskieren würde, lässt sich anhand der vorliegenden öffentlichen Informationen nicht beantworten. Für Moeller ist allein die Diskussion über eine solche Drohgebärde aber ein weiterer Indikator für einen Umbruch im All, den wir gerade erleben. "Der Beginn des Ukrainekriegs war der Moment, in dem die Raumfahrt in ein neues Zeitalter eingetreten ist. Da ist wirklich klar geworden, was für ein strategisches Element die Raumfahrt auch im Kriegsfall ist", sagt der Experte.

Zeitenwende im Weltraum
Satellitenbilder aus dem All waren es, die schon Wochen vor dem russischen Überfall im Februar 2022 von großen Panzer- und Truppenbewegungen zeugten und Geheimdienste und Militärs in der Ukraine und im Westen in Alarmbereitschaft versetzten. Eine Stunde vor dem Überfall erfolgte dann ein russischer Cyberangriff auf den Satellitennetzprovider Viasat, der zu massiven Kommunikationsausfällen bei den ukrainischen Streitkräften führte. Satellitendienste spielen seitdem eine herausragende Rolle im Ukrainekrieg, neben der Kommunikation auch in Bereichen wie Aufklärung oder Steuerung von Waffensystemen.


Ein ukrainischer Soldat nutzt das Starlink-System der Weltraumfirma Space X an der Front nahe Awdijiwka.
REUTERS/STRINGER

Für Moeller zeigt diese Entwicklung klar, dass die Raumfahrt "Teil einer gesamtheitlichen Politik" werden müsse. "Die Raumfahrt ist nicht mehr ein Bereich, der für sich allein steht, sie ist zunehmend mit Sicherheit und Verteidigung verknüpft." Europa sei dringlich gefordert, mehr Resilienz in diesem Bereich zu entwickeln, "damit man in der Lage ist, weiter zu funktionieren und operativ zu bleiben, auch wenn jemand wirklich zerstörerische Kräfte einsetzt".

Die Bedeutung des Weltraums dürfe nicht länger unterschätzt werden, sagt Moeller, weder als Krisenschauplatz noch als Innovationstreiber und Wirtschaftsfaktor. "Der Raum ist nicht so anders als die Erde, die Menschen verhalten sich dort nicht anders."
(David Rennert, 9.3.2024)
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