Vatikan: Mythos und Realität

josef

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#1
Vatikanisches Archiv: Mythos und Realität, die Legende vom „Giftschrank“
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Man kennt es aus Dan Browns Büchern: das vatikanische Archiv – eine Fundgrube, von den Prozessakten Galileo Galileis bis zum Brief Marie Antoinettes aus der Todeszelle. Vor einem Jahr wurde zudem eine Abteilung geöffnet, deren Erforschung neues Licht auf die Rolle des Vatikans während des Zweiten Weltkriegs werfen soll. Eine langjährige Mitarbeiterin erklärt den „Giftschrank“-Mythos des Archivs.
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Im Archiv findet sich der verzweifelte Hilferuf eines jüdischen Flüchtlings, der in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft mit seiner Familie von Berlin über Polen nach Frankreich fliehen musste. Die Schweizer Behörden verweigerten der Familie ein Visum. Also schrieb Martin Wachskerz Papst Pius XII.: „Es ist aus höchster Not und Verzweiflung, in der ich mich an seine Exzellenz wende. Retten Sie uns. Haben Sie erbarmen.“

Der Bittbrief um Intervention erreichte den Vatikan, und ein Gesandter suchte das Gespräch mit der Schweiz – jedoch ohne Erfolg. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf fand das Schreiben aus dem Jahr 1942 nun im Vatikanischen Archiv. Von rund 20.000 solcher Bittbriefe geht Wolf aus, wie er kürzlich dem Schweizer Rundfunk (SRF) erzählte.

Der Mythos vom „Giftschrank“
Was mit der Familie und vielen anderen Hilfesuchenden geschah, will der Historiker nun erforschen. Die Briefe sind Teil der Aktenbestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939–1958), die vor einem Jahr geöffnet wurden. Forscherinnen und Forscher erhoffen sich nach langem Warten neue Einblicke in die Rolle des Vatikans und des Papstes im Zweiten Weltkrieg.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt forschen im Vatikanischen Archiv und machen ihre Funde öffentlich. Dennoch eignet sich das Archiv – mit Beständen, die teilweise unter der Erde lagern – hervorragend für Legenden und Mythen. Der Gedanke, die Kirche verberge etwas, gewissermaßen in einem „Giftschrank“, sei aber komplett falsch, erzählt Maria Grafinger, Historikerin und ehemalige Leiterin der Handschriftenabteilung in der Vatikanischen Bibliothek, gegenüber ORF.at.

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Zusammen nehmen die Dokumente im Vatikanischen Archiv eine Länge von 85 Kilometern ein.
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Die Bitte von Heinrich VIII. um Annullierung seiner Ehe an den Papst – vor einigen Jahren bei einer Ausstellung in Rom zu sehen.
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Auch die Prozessakten von Galileo Galilei befinden sich im Vatikanischen Archiv.
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Die Befragungen des Templerordens auf einer 60 Meter langen Rolle.
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Zugang in die Magazine haben nur wenige Menschen.
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Die Akten aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. sind vergangenes Jahr geöffnet worden.

Verhör über „sodomitische Gepflogenheiten“
Der Mythos sei aber auch hausgemacht. Er rühre von einer schlechten Übersetzung des lateinischen Begriffs „secretum“ her. Was eigentlich ein Verweis auf das „private“ Archiv des Papstes gewesen sei, sei zum geheimen Archiv umgedeutet worden, sagt Grafinger. Gerüchte und Verschwörungstheorien über Dokumente, die im Verborgenen bleiben sollen, waren programmiert. Lange verborgen, aber nicht versteckt blieb allerdings das Protokoll eines Verhörs des Großmeisters des Templerordens durch päpstliche Gesandte aus dem Jahr 1312.

Es wurde erst 2001 von einer italienischen Forscherin entdeckt – ein spektakulärer Überraschungsfund aus der jüngeren Zeit, sagt Grafinger. Im Protokoll des Verhörs sei „wortwörtlich“ nachzulesen, wie sich der Großmeister etwa gegen den abstrusen Vorwurf wehrte, die Templer hätten „sodomitische Gepflogenheiten“ bei der Aufnahme von Neukandidaten – zum Beispiel, dass der neue Kandidat das „Hinterteil des Obersten“ küssen sollte, so Grafinger. In diesem Zusammenhang bedeutete sodomitisch nicht Verkehr mit Tieren, sondern anale Sexpraktiken. Die Vorwürfe seien erhoben worden, weil sich der französische König Philipp der Schöne „das Geld der Templer aneignen wollte“ und sie daher in den berüchtigten Templerprozessen verfolgte.

ORF
Maria Grafinger war 33 Jahre lang in der Vatikanischen Bibliothek tätig und kennt auch das Vatikanische Archiv gut

Templer doch keine Ketzer
Hunderte Jahre war man davon ausgegangen, die Tempelritter seien in den Augen der Kirche Ketzer gewesen, weil Papst Clemens V. den vom König verfolgten Orden aufgelöst hatte. Doch das Dokument zeigt: Der Papst erteilte den Templern die Absolution. Sie hatten den Vorwurf der Ketzerei also widerlegen können. Die umfangreichen Prozessakten gegen die Templer finden sich auch im Vatikanischen Archiv auf einer aufsehenerregenden Pergamentrolle: Sie ist 60 Meter lang.

Auf die Spur der verbotenen Bücher können sich Forschende im Archiv der Glaubenskongregation machen, das erst 1998 unter ihrem damaligen Präfekten Josef Ratzinger geöffnet wurde. Die Dokumente dort zeichnen die konkreten Prozesse nach, die zur Indizierung eines Buches führten – etwa Gutachten, in denen genau herausgearbeitet wurde, „was an dem Buch eine Irrlehre ist, welche These, welcher Satz“, erklärt Grafinger. Nach der Öffnung habe es „einen großen Run“ auf die Akten gegeben.

Auf der Liste der verbotenen Bücher fand sich auch der italienische Gelehrte Galileo Galilei wegen seines Buches „Dialog“ über das ptolemäische und das kopernikanische Weltsystem.
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Frankreichs Königin Marie Antoinette schrieb dem Papst aus der Todeszelle

Galileo und die Inquisition
Die römische Inquisition warf Galilei 1632/33 vor, er lehre das kopernikanischen Weltsystem, also dass sich die Erde um die Sonne dreht. Galilei musste erklären, er „schwöre ab“, „verfluche und verwünsche mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben besagte Irrtümer und Ketzereien“.
Im Vatikanischen Archiv „kann man diese ganzen Befragungen, die Korrespondenz, die Galilei mit der Kongregation geführt hat, nachlesen“, so Grafinger. Galilei wurde zu Kerkerhaft verurteilt, die aber in Hausarrest umgewandelt wurde. Erst 1992 wurde der Gelehrte offiziell von der katholischen Kirche rehabilitiert.

Briefe wortwörtlich abgeschrieben
Das 1612 von Papst Paul V. gegründete Vatikanische Archiv ist eines der größten Archive der Welt. Briefe, Handschriften, kirchliche Gerichtsurteile, Bannbullen und Konzilsschriften – zusammen bringen sie es auf rund 85 Kilometer Länge und dokumentieren Hunderte Jahre Religions-, Kultur- und Politikgeschichte. Die ältesten Dokumente stammen aus dem 8. Jahrhundert.

Im Archiv befinden sich „sämtliche Schreiben, die die Kurie verlassen haben, bzw. Schreiben, die an die Kurie gerichtet worden sind“, sagt Grafinger. Die Kirche erwies sich als vorausschauend, so habe man im Mittelalter „jedes Dokument, dass die Kanzlei verlassen hat, wortwörtlich abgeschrieben.“

Briefe von Dschingis Khan und Heinrich VIII.
Daher könne man heute noch „die Geschichte rekonstruieren“, obwohl der Großteil der Dokumente beim Empfänger „durch Brände oder Kriege“ verloren ging. Ohne die Aufzeichnung des Vatikans wüsste man zum Beispiel gar nicht, dass Papst Leo X. von Martin Luther gefordert hatte, 41 seiner 95 Thesen zu widerrufen. Luther habe diese Schreiben ja „angeblich verbrannt“, so Grafinger.

Seit 1881 ist das Archiv für Forscherinnen und Forscher geöffnet. Sie haben damit Zugang zu Briefen von Persönlichkeiten wie Dschingis Khan, Voltaire und Abraham Lincoln. Auch der Brief mit der Bitte um die Annullierung der Ehe von Heinrich VIII. und Katharina von Aragon, damit der König Anne Boleyn heiraten konnte, unterschrieben von allen 83 Parlamentsabgeordneten Englands, befindet sich im Vatikanischen Archiv.
Da der Papst sich weigerte, der Bitte nachzukommen, spaltete Heinrich VIII. sich von der Kirche ab und gründete die anglikanische Kirche. Lange wehrte die Liebe zu Boleyn aber nicht. Nur wenige Jahre später ließ er seine neue Frau hinrichten.

Schreiben von Todgeweihten
In der Geschichte wandten sich immer wieder Menschen im Angesicht des Todes an den Papst. Im Jahr 1586, wenige Monate bevor die katholische Maria Stuart von ihrer Rivalin, der anglikanischen Elizabeth I. hingerichtet wurde, schrieb sie Papst Sixtus V. einen herzzerreißenden Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass sie bald sterben werde. Ein Brief aus der Todeszelle erreichte den Vatikan auch von Frankreichs Königin Marie Antoinette. Sie richtete, ihre baldige öffentliche Hinrichtung erwartend, ein Bittschreiben um Sündenerlass an den Papst.
19.03.2021, Clara Akinyosoye, ORF.at (Video, Text)

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Vatikanisches Archiv: Die Legende vom „Giftschrank“
 

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#2
SESSELKRIMI
Stuhlgang gegen Größenwahn – worauf die mittelalterlichen Päpste thronten
Als Teil der Inthronisierung nahmen neue Päpste auf mehreren Sesseln Platz. Dazu gehört auch der sogenannte Kotstuhl, um den sich zahlreiche Mythen ranken

Der meist fälschlicherweise als "Porphyrsessel" bezeichnete römische Stuhl aus Rosso-antico-Marmor war einer der Sessel, der bei der päpstlichen Inthronisierung Anwendung fand. Dabei standen stets zwei "Porphyrsessel" nebeneinander, um einen Doppelthron zu bilden – wohl in Anlehnung an den byzantinischen Doppelthron der Kaiser. Die Inschrift "Munificentia Pii Sexti P. M." legt nahe, dass der antike Sessel erst durch die "Großzügigkeit" von Pius VI. in die Sammlung des Vatikanischen Museums aufgenommen wurde.
Foto: Carole Raddato

Das mittelalterliche Zeremoniell sah vor, dass der neu gewählte Papst als Nächstes auf einem weiteren Sessel Platz zu nehmen hatte. Nur war der aus Marmor gefertigte Sessel kein gewöhnlicher. In der Mitte der Sitzfläche war eine Öffnung – eine schlüssellochförmige Ausformung, die verdächtig an römische Latrinen erinnert. Nach erfolgreicher händischer Inspektion von unten, die sicherstellen sollte, dass es sich beim neuen Papst auch wirklich um einen Mann handelte, hieß es dann: "Duos habet!" Zwei Stück seien vorhanden. "Et bene pendentes!" Wohlhängend noch dazu.

In TV-Serien wie "The Borgias", die von 2011 bis 2013 ausgestrahlt wurde, ist der Stuhl im Zusammenhang mit der Papstwahl ebenfalls Thema.WhiskyyCoca
Eine fantastische Geschichte, die wohl alle Dan-Brown-Fans begeistern würde. Der einzige Punkt: Das hat sich so nie zugetragen.

"So eine Hodenprüfung hat es nie gegeben", sagt der Historiker Volker Reinhardt von der Universität Fribourg im STANDARD-Gespräch über den berüchtigten Stuhl. Reine volkstümliche Erfindung seien die Legenden, die sich um den Marmorstuhl ranken. Sie sind eng mit dem Mythos einer Päpstin verbunden, die es im Gegensatz zum Sessel nie gegeben hat.

Für die Verbreitung der Legende von der Päpstin Johanna zeichnete vor allem der Dominikanerorden verantwortlich. Ursprünglich als Verherrlichung des Papsttums gedacht, da die Päpstin durch die Geburt des nächsten Papstes einen Erklärungsansatz für dessen Unsterblichkeit lieferte, ging der Schuss im Endeffekt nach hinten los. Der Mythos um die Päpstin trieb wundersame Blüten, und die Dominikaner mussten erkennen, dass sie eine für das Ansehen des Papstes gefährliche Legende in die Welt gesetzt hatten.

Zwischen Maiestas und Humilitas
Aber auch der ungewöhnliche Sessel diente nicht der Würde, sondern der Erniedrigung der Nachfolger Petri. Ab dem zwölften Jahrhundert wurde ein neuer Papst mit diversen Riten und Zeremonien in sein Amt eingeführt, die äußerst gegensätzlich aufgebaut waren. Einerseits dienten die Riten der Glorifizierung des unvergänglichen, königlichen Papstamtes. Andererseits sollte der Inhaber des Heiligen Stuhls als sterblicher Mensch zur Demut ermahnt werden.

Die Inthronisierung des neuen Papstes war ein Schauspiel in mehreren Akten. Allein der Festzug vom Vatikan zur Lateranbasilika wurde an heißen Tagen für betagte Neugewählte zur Tortur. Manche Päpste wie Leo XI. (1605) und Innozenz IX. (1591) starben sogar an den Folgen.

Kot und Satan
Als Teil der Krönungsordo kamen zudem mehrere Stühle zum Einsatz, über die in der Forschung bis heute gestritten wird. Einer dieser Stühle war der sogenannte Kotstuhl ("sedes stercorata" bzw. "stercoraria"). Von den Kardinälen feierlich auf diesen "Drecksessel" gesetzt, sollte der Demutsritus den Papst daran erinnern, dass auch er sterben muss und zu "stinkender Verwesungssubstanz – letztlich eben zu Kot und Staub wird", erklärt Reinhardt die Bedeutung der Zeremonie.

Seit der als "heiliger Satan" bezeichnete Papst Gregor VII. einen Kaiser abgesetzt und die Macht des Papstamtes in schwindelerregende Höhen gesteigert hatte, ging unter den Kardinälen die Angst um. Der päpstlichen Variante des Cäsarenwahnsinns musste durch Demutsriten Einhalt geboten werden. Die Selbstüberschätzung und der Größenwahn des Papstes, die gleichzeitig die Macht der Kardinäle schmälerten, waren ihnen unheimlich geworden.


Der in der Basilica di San Giovanni in Laterano befindliche "sedes stercorata". Die mit bunter Kosmatenarbeit verzierten Säulen mitsamt dem Sockel gehören vermutlich nicht zum Stuhl.
Foto: Laurens Dragstra/corvinus.nl

Sesselrücken – Latrine oder Badestuhl
Den ursprünglichen Kotsessel gibt es laut Reinhardt höchstwahrscheinlich nicht mehr, oder falls ja, werde er nicht mehr gezeigt. Der historischen Beschreibung nach müsste er einen Sockel mit Reliefs haben, der Schlangen, Löwen und Ungeheuer wie Drachen zeigt. Der Stuhl, der im Lateran als "sedes stercorata" ausgestellt wird, sei jedenfalls "definitiv nicht der ursprüngliche Kotstuhl", ist sich Reinhardt sicher.

Ein realistischerer Kandidat für den päpstlichen Exkremententhron befindet sich im Pariser Louvre. Napoleon Bonaparte ließ ihn auf seinem Italienfeldzug als Beute mitgehen, da er ihn für einen wertvollen Kaiserthron hielt. Ein identisches Gegenstück befindet sich in den Vatikanischen Museen. Die aus wertvollem rotem Marmor, "rosso antico" genannt, gemeißelten Stühle verfügen beide über die verdächtige Latrinenöffnung, deren historische Beispiele sich zumindest bis ins Alte Ägypten zurückverfolgen lassen. Manche Forscher gehen immer noch davon aus, dass es sich dabei nicht um Latrinen, sondern um antike Badestühle aus römischen Thermenanlagen handelt. Aus der schlüsselförmigen Öffnung in der Sitzplatte soll angeblich Dampf aufgestiegen sein. Andere Forscher hingegen halten die Sessel für römische Edelaborte und nehmen dabei Bezug auf einen Stuhl, der im British Museum zu sehen ist.

Bis heute streiten sich die Experten über die tatsächliche Funktion der Stühle. Egal ob die mittelalterlichen Päpste auf ehemaligen römischen Latrinen oder Thermenstühlen Platz genommen haben, sie beflügeln seit jeher die Vorstellungskraft der Menschen.
(Kiyoko Metzler, 12.6.2022)
Stuhlgang gegen Größenwahn – worauf die mittelalterlichen Päpste thronten
 

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#3
AUSGEGRABEN
Die verborgene Totenstadt unter dem Vatikan
Der ehemalige Papst Benedikt XVI. wird unter dem Petersdom bestattet. Dort befindet sich eine mythische römische Nekropole, die das Grab von Petrus enthalten soll

Eines der römischen Mausoleen unter der großen Peterskirche.
Foto: AP Photo/Fabbrica di San Pietro in Vaticano, HO

Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. In den letzten Jahren beherbergte der Vatikan zwei Päpste, und keiner davon wohnte in den ihm zugedachten prunkvollen Gemächern des apostolischen Palastes. Der amtierende Franziskus weigert sich nach wie vor, aus dem Gästehaus auszuziehen, das eigentlich für die Kardinäle während der Papstwahl gedacht ist, während Benedikt XVI. seinen Lebensabend ein paar hundert Meter weiter im Inneren der vatikanischen Gärten verbrachte, im Kloster Mater Ecclesiae gleich neben Radio Vatican, das er ohne Erlaubnis seines Nachfolgers nicht verlassen durfte.

Nach dem Tod des umstrittenen Papstes übersiedelten seine sterblichen Überreste nun an einen Ort, der mit Leichtigkeit als außergewöhnlichster des an außergewöhnlichen Orten nicht armen Vatikanstaats gelten kann. Unter dem Petersdom, unmittelbar unter den Steinplatten des Bodens, liegt eine verborgene Welt, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen. Wir haben es dennoch versucht.

Schnell wird klar, dass hier eigene Gesetze gelten: Für die Verwaltung der Stätte sind nicht die benachbarten Museen, sondern das vatikanische Ausgrabungsamt zuständig, die archäologische Behörde des Kirchenstaats. Ein Anruf bei einer Nummer mit vatikanischer Vorwahl ergibt, dass ein Antrag für eine Besichtigung per Fax eingereicht werden soll. Mangels Zugangs zu einem Faxgerät einigen wir uns auf eine E-Mail. Die Zuweisung des Besichtigungstermins erfolgt vonseiten der Behörde, der Rest der Reise hat sich daran zu orientieren.

Einreise in den Vatikanstaat
Frühmorgens muss zur Linken des Petersdoms eine Sicherheitsschleuse der Gendarmeria Vaticana durchlaufen werden, bevor wir uns zum Grenzposten begeben, wo ein junger Schweizer Gardist in bunter Uniform uns Zugang in den Vatikan gewährt. Wir lassen das Deutsche Kolleg mit seinem malerischen Garten hinter uns und finden uns vor einer kleinen Tür zwischen Petersdom und dessen Sakristei wieder. Das winzige Büro gehört zum Ausgrabungsamt, wo die Anmeldung erfolgt. Eine Rückfrage bestätigt, was wir schon vermutet hatten: Fotos? Sind leider nicht erlaubt.

Eine Archäologin des Vatikans empfängt die kleine Gruppe, die zwischen monumentalen Gebäuden auf die Besichtigung wartet. Der Weg führt durch die mehrere Meter dicke Seitenmauer ins Innere des Doms. Es ist eine Reise in die Vergangenheit: Vor dem heute bekannten Dom Michelangelos und Berninis stand an dieser Stelle eine ältere Basilika, deren Grundmauern hier noch erkennbar sind. Von dem niedrigen Raum, der ein Modell der früheren Peterskirche enthält, geht es eine schmale Treppe hinab zu einer Glastür, die sich elektrisch öffnet. Sofort schlägt einem warme, feuchte Luft entgegen. Dahinter liegt ein Ort, den es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Gärten der Kaiserin
Der Vatikan lag in antiker Zeit außerhalb der Stadtmauern. Auf dem Hügel befanden sich die Gärten der Gattin des Kaisers. Unzählige Marmorstatuen in den vatikanischen Museen und in den Gärten selbst zeugen heute noch davon. Am Fuß des Hügels befand sich die private Pferderennbahn des Kaisers Caligula, genau an der Stelle, wo nun das Ausgrabungsamt seine Pforte hat. Hier befand sich ursprünglich auch der nun auf dem Petersplatz stehende Obelisk. Nicht weit davon wurde später ein Friedhof angelegt. Die Totenstadt bestand aus niedrigen Mausoleen mit römischen Kapitellen, in denen betuchte römische Familien ihre Toten beerdigten.


Grund- und Aufriss der römischen Nekropole unter dem Petersdom.
Bild: AP Photo/Fabbrica di San Pietro in Vaticano, HO

Dieser Friedhof ist der eigentliche Grund, warum der Dom hier steht. Laut Überlieferung wurde nämlich der Apostel Petrus im nahen Circus des Nero hingerichtet und unweit davon in einem simplen Erdengrab bestattet. Schon bald begann sich um das Grab ein Kult zu entwickeln. Auf der vermeintlichen Position wurde eine Gedenkstätte errichtet, die später in die erste Peterskirche Kaiser Konstantins integriert wurde. Die an dieser Stelle befindliche Totenstadt wurde allerdings nicht eingeebnet, stattdessen füllte man das Gelände mit Erde auf. Nur die Dächer der Mausoleen wurden abgetragen.

Über Jahrhunderte gab es keine ernsthaften Zweifel an der Erzählung, dass die Kirche, die das Zentrum des katholischen Glaubens bildet, auf dem Grab von Petrus stand. Doch in neuerer Zeit wurde diese Doktrin infrage gestellt. Für Papst Pius XII. war das Grund genug, aktiv zu werden. In den 40ern begannen Grabungen unter dem Petersdom.

Ausgegrabene Totenstadt
Wer durch die Glastür tritt, kann das Ergebnis dieser Bemühungen bestaunen. Es handelt sich um eine perfekt erhaltene römische Totenstadt. Was heute die Anmutung von Katakomben hat, war früher eine schmale Gasse unter freiem Himmel. Die Decke besteht aus Metall, wir sind hier unter dem Kirchenschiff. Nun ist auch klar, warum der Zugang reguliert wird. Auf engem Raum bewegt sich die Gruppe vorwärts. Es gibt Gräber von Erwachsenen und Kindern, Bereiche, die noch nicht ausgegraben sind, und einige prunkvolle Sarkophage. Einer davon ist von besonderem Interesse: Die Inschrift legt nahe, dass es sich bei dem hier Bestatteten um einen Christen handelte. Das ist von großer Bedeutung, denn eigentlich ist nicht klar, warum der Apostel Petrus auf einem traditionellen römischen Friedhof bestattet wurde. Einige der hier Beerdigten waren offenbar zum noch jungen Christentum konvertiert, so die Interpretation. Kreuze und andere christliche Symbole fehlen allerdings.

Der Grund, warum man beim Vatikan Zugang zu dieser sensiblen Stätte gewährt, ist aber ein anderer. Die Grabungen, die nur von eigenen Archäologen des Vatikans durchgeführt wurden – ein Gegenstand von Kritik –, verfolgten keine rein wissenschaftlichen Ziele. Es ging um nichts Geringeres als das Überprüfen der Legende um das Petrusgrab.


Ein Relief aus dem Valeri-Mausoleum in der Nekropole, das in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts unter Kaiser Marc Aurel erbaut wurde.
Foto: AP Photo/Fabbrica di San Pietro in Vaticano, HO

Als wir weitergehen, sehen wir Säulen, die zu der ursprünglichen Gedenkstätte gehören, die sich direkt unter dem Altar des Petersdoms befindet. Auf diesen Bereich konzentrierten sich die Grabungen ursprünglich. Um die Statik des Doms nicht zu gefährden, wurde zuerst ein Tunnel in die Tiefe getrieben, um sich dann von unten zum Altar hin vorzuarbeiten. Und dabei fand das Grabungsteam tatsächlich ein einfaches Erdengrab, wie es die Legende beschreibt. Einziges Problem: Das Grab war leer. Waren die Gebeine fortgebracht worden?

Skelett ohne Füße
Die Geschichte, die man beim Vatikan erzählt, ist einigermaßen komplex. Bei den folgenden Untersuchungen wurden etwas über dem Grab, in einer Mauernische der ersten Gedenkstätte, Gebeine entdeckt, die in ein prunkvolles Gewand gewickelt waren. Bei dem Skelett fehlten interessanterweise die Füße. Das ergibt Sinn, denn Petrus wurde mit dem Kopf nach unten gekreuzigt und um den Leichnam abzunehmen, könnte man die Füße entfernt haben. Auch die Inschrift "PETR" auf der Mauernische deutet darauf hin, dass es sich um Petrus handeln könnte.

Als wissenschaftlicher Beweis kann diese Argumentationskette kaum gelten. Auch die vatikanische Archäologin wählt ihre Worte mit Bedacht, als sie von der Geschichte der Knochen erzählt. Sie beschreibt die Schlussfolgerung als offiziellen Standpunkt des Vatikans, nicht mehr. Übrig bleibt das, was in der christlichen Glaubenswelt so oft als Endpunkt schwieriger Fragen dient: ein Mysterium. Die Gebeine selbst wurden jedenfalls wieder an ihren Fundort zurückgebracht, sie sind durch eine Lücke zwischen antiken Mauerresten zu erahnen, ein Laserpunkt signalisiert ihre Stelle.

Wir verlassen die Totenstadt in Richtung offener, hellerer Räume, den vatikanischen Grotten, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind. Hier befinden sich die Gräber der späteren Päpste, Sarkophag an Sarkophag aneinandergereiht, jeder von ihnen mit einem kleinen Hinweisschild versehen, das seltsam verknappt zwei, drei Leistungen eines Papstlebens aufzählt. So liegen sie hier in unmittelbarer Nähe zu ihrem Vorgänger.

In dieser Gruft ist ein Grab freigeworden, nachdem Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde und in ein Ehrengrab oben in der Kirche übersiedelt ist. In diesem freien Grab wollte Benedikt XVI., der sich selbst einen "einfachen Arbeiter auf dem Weinberg des Herrn" nannte, bestattet werden. Und so ist es schließlich geschehen.
(Reinhard Kleindl, 5.1.2023)
Die verborgene Totenstadt unter dem Vatikan
 
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