Verlernen wir durch blindes Vertrauen an Navigations-Apps und diversen sonstigen Touring-Tools den Orientierungssinn?

josef

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#1
NAVIGATION IM GELÄNDE
Schadet die Technik unserem Orientierungssinn?
Handys erleichtern vieles – auch die Navigation im Gebirge. Apps bieten heute Millionen Tourenvorschläge, Planungstools und Warnsignale, sobald man vom Weg abkommt
Ausgerüstet mit topografischer Karte, Kompass und mechanischem Höhenmesser – so hat Alexander Giacomelli früher Bergspitzen erklommen und Täler durchquert. Am Vorabend saßen die Bergfexe zusammen, um sich Marschzahlen und Entfernungen zu notieren, erzählt er. Giacomelli ist seit 1985 Bergführer. Alt ist er nicht, im September wird er 59. Und doch hat Giacomelli einen Umbruch in seinem Beruf miterlebt. "Heute schaltet man das Ding ein und läuft blind nach", sagt er über das Handy. Die Digitalisierung sei zwar "per se nichts Schlechtes", man dürfe aber dennoch nicht verabsäumen, sich mit den Grundlagen der Navigation auseinanderzusetzen. Diese seien heutzutage oftmals nicht mehr vorhanden.

Knapp die Hälfte aller unverletzt geborgenen Bergsteiger und Wanderinnen haben sich verirrt oder verstiegen, zeigen Erhebungen des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit (ÖKAS) im langjährigen Mittel. Vor allem die Gruppe der 21- bis 30-Jährigen ist hier auffällig stark vertreten. "Die Eigenverantwortung ist zentral", pocht das ÖKAS gegenüber dem STANDARD auf "Wissen und Können". Manchmal seien es "die Umkehr und der Verzicht, die einen wieder sicher ins Tal bringen".


Unser Orientierungssinn wird schlechter, sagen Bergführer. Digitale Helferchen verleiten dazu, stur einer Linie zu folgen.
Foto: imago

Weitblick statt Strich-Punkt-Ziel
Man müsse aktiv daran arbeiten, das räumliche Denken zu bewahren, mahnt Giacomelli. Damit meint er: das Gefühl für Entfernungen, Höhen und Dimensionen. "Eingeengt" werde der Blick durch das Smartphone, durch das Herumscrollen verliere man den Bezug zum großen Ganzen. Faltbare Karten böten hingegen einen "größeren Ausschnitt aus der Wirklichkeit". Die Basis der modernen Vermessung legte übrigens ein Tiroler Bauernsohn namens Peter Anich, ein Pionier auf dem Gebiet der Kartografie. Sein Geburtstag jährt sich heuer zum 300. Mal. Anichs Meisterwerk – der Atlas Tyrolensis – wies erstmals das Gelände zwischen den Talzügen nicht mehr als kartografisches Niemandsland aus. Es zeigte Gletscher, Almen und Straßen in frappierender Genauigkeit.

Auch in dieser Hinsicht hat sich viel geändert: Heute liefern Apps, Satellitenbilder, Drohnen und 3D-Laserscan-Methoden räumliche Daten für die Kartenerstellung. Auf dem Smartphone kann man exakt sehen, auf welchen Breiten- und Längengrad man sich befindet. Der Mensch müsse aufpassen, dass er nicht in "ein Strich-Punkt-Ziel-Denken" verfalle, findet Giacomelli. Digitale Helferchen verleiteten dazu, "stur einer Linie zu folgen, ohne dabei links oder rechts zu schauen". Das Gesamterlebnis werde geschmälert.

Digital als Back-up statt Polster
Die Digitalisierung hat auch zu erhöhtem Wettbewerb geführt. Lauf- und Wanderapps sind heute weit mehr als Landkarten mit Pfeilen zur Navigation. Sie machen Leistungen in Echtzeit vergleichbar. Strava etwa, eine Kombination aus Sport und Social Media für Ehrgeizige, wo vor allem Biker und Trailrunnerinnen ihre Zeiten und Strecken teilen. Die App macht Sportelnde auf ausgewiesene Segmente aufmerksam. Auf denen gilt es nicht nur seine persönliche Bestzeit zu knacken, sondern auch dem oder der Schnellsten in der Community das Krönchen wegzuschnappen.

Noch problematischer als den digital befeuerten Leistungsdruck schätzt Giacomelli jedoch die Tatsache ein, dass oftmals Verantwortung an die Technik delegiert wird. "Verlockend" sei es und "dem Zeitgeist entsprechend", die aufwendige Planung und mühsame Wegfindung digital abzukürzen.

Aber wie bewahrt man sich dieses räumliche Denken? Giacomelli ortet Versäumnisse schon in der Primärbildung. So beobachte er, dass die Grundlagen in der Orientierung oft schon fehlten, die Menschen kein Gespür mehr für die Himmelsrichtungen hätten. "Dabei hängt alles zusammen – Topografie, Gelände, Tourenplanung. An sehr warmen Tagen meide ich im Sommer schon am Vormittag Osthänge. Im Winter wirkt sich die Hangausrichtung auf die Lawinengefahr aus." Trainieren lässt sich der Orientierungssinn, indem man das Digitale zwischendurch als Back-up verwendet, um zu kontrollieren, ob man tatsächlich dort ist, wo man glaubt zu sein. Der natürliche Orientierungssinn schärft sich mit der Zeit – und er ist hart erarbeitet. "

Man muss sich schlicht und einfach ganz viel mit dem Berg beschäftigen – egal ob man dafür analoge oder digitale Tools nützt", rät indes Klaus Kranebitter. Kranebitter ist um die 50, Bergführer und Fotograf. Wir treffen ihn in einem Café im Zentrum von Innsbruck. Digitale Werkzeuge vermitteln Vertrauen und bieten schnelle Lösungen, die Menschen dankbar annehmen, warnt auch er.

Erfahrung und Wissen
Der gebürtige Innsbrucker hat die Initiative xHow gegründet – unter deren Dach er Ausbildungen und Kurse anbietet, unter anderem auch Lawinen- und Geländeschulungen. Für die Tourenplanung empfiehlt er, -Informationen aus dem Internet zu hinterfragen. Einem "Blogeintrag von irgendeinem Hanswurst von vor fünf Jahren" sollte man besser nicht vertrauen. Erst Anfang Juni mussten 99 Schülerinnen und Schüler aus Deutschland im Kleinwalsertal mittels Taubergung aus der Bergnot gerettet werden. Die Lehrpersonen hatten eine Wanderung über einen Grat nach einer Userbewertung im Internet ausgewählt und unterschätzt.

Die Frage, ob die Digitalisierung mehr Hilfe oder Gefahr in Bezug auf die Orientierung am Berg mit sich bringt, lasse sich nicht einfach beantworten, sagt Kranebitter. Fest stehe indes: "Erfahrung und Wissen sind zwei Paar Schuhe." Viele Bergsportelnde beschäftigten sich – sei es analog oder digital – nur theoretisch mit dem Berg. Oft fehlten die Kilometer, um das Wissen immer wieder zu kontextualisieren und anzuwenden. Er selbst führe schon seit 15 Jahren keine analoge Karte mehr mit sich. Viele der ursprünglichen Probleme rund ums Handy hätten sich mittlerweile "erledigt": "Die Akkus halten ewig, Powerbanks liefern irre Saft, der Speicherplatz ist riesig", listet Kranebitter auf. Er klopft mit seinem Zeigefinger auf sein Smartphone. Das einzige Manko sei heute noch der mancherorts fehlende Empfang.

Navigieren ist wie Mathe lernen
Es hat sich also vieles verändert – manches ist aber doch gleich geblieben. Er habe auch heute noch immer eine analoge Karte dabei, lässt Giacomelli wissen. Anstatt des mechanischen Höhenmessers trägt er nun ein kleines GPS-Gerät mit sich, auf dem Handy habe er eine Offlinekarte gespeichert – "wie die Jungen auch". Dennoch achtet er immer darauf, Redundanz zu schaffen. Ein digitales Gerät könne ja immer an einer Schlüsselstelle ausfallen, das sei auch ihm schon einmal passiert.

Kranebitter beantwortet die Frage, ob er sich schon einmal verstiegen hat, so: "Das ist, als würde man einen Bäcker fragen, ob ihm schon einmal ein Semmerl verbrannt ist." Ein Grinsen huscht über sein wettergegerbtes Gesicht. "Ich liebe es, mir unterwegs das Gelände anzuschauen", sagt er etwas gedankenverloren. In der Natur finde er Ruhe, wolle deshalb auch durch Smartwatches und das Handy nicht ständig abgelenkt werden. Er könne sich die Umgebung gut einprägen und wieder in Erinnerung rufen. "Sich im Gelände zu orientieren ist ein bisschen wie Mathe lernen", sagt Kranebitter. "Je mehr ähnliche Probleme man löst, desto leichter tut man sich."
(Maria Retter, 18.3.2023)

Für Planung, Aufzeichnung und Navigation gibt es zahlreiche Apps:
  • Komoot schlägt fertig ¬geplante Touren vor.
  • Ähnlich funktionieren Outdooractive, Bergfex und Alltrails.
  • Wer seine Leistung an anderen messen möchte, ist mit Strava gut beraten.
Grundsätzlich gilt: Die beste Outdoor-App hilft nur so lange weiter, wie auch der Akku hält. Daher: Karten herunterladen!

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