Vor 100 Jahren, am 29. Dezember 1921, wurde die Trennung von Niederösterreich und Wien beschlossen

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
1984: Au-Besetzung verhindert Kraftwerk - Teil 1
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Im Winter 1984 verhinderte der Einsatz tausender engagierter Bürgerinnen und Bürger mit der Au-Besetzung das geplante Donaukraftwerk bei Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha). Aktivistinnen und Aktivisten von damals erinnern sich heute an fast „kriegerische Zustände“. Doch der eiserne Wille führte zum Erfolg.
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Aus sechs Richtungen kamen am 8. Dezember 1984 tausende Studierende nach Stopfenreuth (Bezirk Gänserndorf) am nördlichen Donau-Ufer. „Wir wussten, das ist unsere letzte Chance“, erinnert sich der ehemalige Aktivist und heutige Nationalparkranger Manfred Rosenberger. Denn zwei Tage später sollten die Bagger anrollen und den Wald roden.

Mitten in die Au sollte ein Wasserkraftwerk gebaut werden. Um das nötige Gefälle zu erreichen, wollte man eine 16 Meter hohe Staumauer errichten. Der Verlauf der Donau wäre dafür künstlich zweieinhalb Kilometer umgelenkt worden. Nur sechs Jahre nach der negativen Volksabstimmung zum Atomkraftwerk Zwentendorf sollte das nächste politisch nicht unumstrittene Projekt folgen.

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Ein Modell des geplanten Donaukraftwerks bei Hainburg

Vor allem die damaligen Projektbetreiber, die Donaukraftwerke, sowie die Industrie und die Gewerkschaft Bau und Holz drängten auf die Errichtung des Donaukraftwerks bei Hainburg, um den steigenden Strombedarf abzudecken. Umweltaktivistinnen und -aktivisten versuchten das Projekt allerdings mit allen Mitteln zu verhindern.

Das Kraftwerk in Hainburg sollte ein Glied in einer Kette von mehreren Staustufen sein, mit denen – neben der Stromerzeugung – vor allem die Donau, unabhängig vom jeweiligen Wasserstand, für den Europakahn schiffbar gemacht werden sollte. Dazu war die Republik Österreich durch die Donaukonvention verpflichtet, die Arbeiten mussten bis 1990 beendet sein.

Nationalpark „nicht notwendig“
In Hainburg stand die Bevölkerung damals eher auf der Seite der Befürworterinnen und Befürworter. „Das Kraftwerk wurde eigentlich positiv gesehen, die Bevölkerung war eher konservativ eingestellt und ein Nationalpark für sie nicht notwendig“, erinnert sich Gastwirtin Michaela Gansterer-Zaminer. Vor allem der Fischerei- und Jagdverband waren für den Bau.

Im Mittelpunkt standen einerseits neue Arbeitsplätze direkt am Eisernen Vorhang, andererseits erhoffte man sich auch neue Chancen im Tourismus, sagt Ganster-Zaminer: „Auf so einem Stausee kann man ganz toll etwas entwickeln.“ Für das Kraftwerk hätten aber auch einige ältere Gebäude der Stadt entfernt werden müssen, wie zum Beispiel das Gasthaus der Gastronomin: „Für mich war das deshalb keine Option.“

BwagCC BY-SA 4.0
In Hainburg sah die Bevölkerung viel mehr die Vorteile des Kraftwerks und stand daher mehrheitlich hinter dem Projekt

Doch in den Gasthäusern der Stadt wurde endlos diskutiert, mitunter auch sehr emotional, wenn Aktivistinnen und Aktivisten Einheimische zu überzeugen versuchten. Aber der Widerstand sei dann vielmehr von außen gekommen, was bei den damaligen Großparteien ÖVP und SPÖ für Kritik a la „die mischen sich da ein“ sorgte. Gansterer-Zaminer betrachtet das heute als offenbar notwendige „Entwicklungshilfe“.

Pressekonferenz der Tiere
Und dieser Widerstand begann mit der bis dahin wohl ungewöhnlichsten und bis heute berühmten Pressekonferenz der Tiere im Mai 1984. Sie wurde unter anderem von den Proponenten Günther Nenning, Freda Meissner-Blau, Hubert Gorbach, Josef Cap, Othmar Karas, Jörg Mauthe, Peter Turrini oder auch Gerhard Heilingbrunner dazu genützt, das Konrad-Lorenz-Volksbegehren gegen den Bau des Donaukraftwerks Hainburg vorzustellen.

Das Besondere: Die Beteiligten waren dabei als Tiere verkleidet und traten als Au-Hirsch, Eisvogel, Rotbauchunke oder Schwarzstorch auf, um nur einige der Tierarten zu symbolisieren, deren Lebensraum durch den Bau des Kraftwerkes gefährdet gewesen wäre. Gallionsfiguren des Widerstandes gegen das Kraftwerk waren Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz und der Autor und Journalist Günther Nenning.
Daraufhin wurde der Widerstand gegen das Kraftwerk stärker, es kam immer wieder zu Demonstrationen – vor allem von Studierenden. Zudem gründeten sich auch zahlreiche Bürgerinitiativen. Die spätere Grünen-Politikerin Freda Meissner-Blau war anfangs trotzdem skeptisch, „weil die geballte Macht des Staates für das Kraftwerk war und wir eine Handvoll engagierter Leute waren, die gesagt haben, zerstört nicht das letzte Stück Au“.

Tausende Aktivisten besetzten Donau-Auen
Die Politik zeigte sich davon aber unbeeindruckt und trieb die Kraftwerkspläne weiter voran. Ende November entschied Niederösterreich im Naturschutzverfahren schließlich zugunsten des Baus. Tags darauf wurde das Landhaus in der Wiener Herrengasse für einen Tag friedlich besetzt. Eine Aktion, die als Beginn des passiven Widerstandes, der lange anhalten sollte, galt.

Kurz vor Beginn der geplanten Rodungsarbeiten folgte am 8. Dezember der Sternmarsch der Umweltaktivistinnen und -aktivisten mit etwa 8.000 Menschen – die Besetzung der Au begann. „Wir haben unsere Rucksäcke gepackt und sind mit Bussen in die Au gefahren, denn wir wollten das Kraftwerk um jeden Preis verhindern", erinnert sich der damals 17-jährige Gymnasiast Achim Doppler.

Die dramatischen Tage im Unterholz
Trotz eisiger Kälte, Schneefall und Androhung von Haft und Geldstrafen hielten sich in den Donau-Auen bei Hainburg zeitweise mehr als 2.000 Umweltaktivistinnen und -aktivisten auf. Sie errichteten Camps und schliefen in Zelten. Auf den drei Zufahrten wurden zudem Holzbarrikaden errichtet. So konnten sie vorerst die Einstellung der Rodungsarbeiten für den Kraftwerksbau erzwingen.

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Der Widerstand formiert sich, Friedensreich Hundertwasser (L.) bei der Aubesetzung im Dezember 1984.
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Viele der Aubeschützer sind gekommen, um zu bleiben

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Trotz eisiger Kälte werden in der Au Zelte aufgebaut

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Zunächst hält sich die Polizei noch zurück

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Die Aktivisten versuchen immer wieder Bagger an den geplanten Rodungen zu hindern

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Der Umweltaktivisten Guenter Schobesberger mit dem Plan " Vorbereitung Umweltverträglichkeitserklärung"

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Die Umweltaktivisten Guenter Schobesberger ,Freda Meissner-Blau, und der Praesident des Umweltdachverbandes Gerhard Heilingbrunner (v.l.n.r.) im Dezember 2004

Die Regierung unter Bundeskanzler Fred Sinowatz (SPÖ) schien das nicht weiter zu beeindrucken. Die Rodungen begannen – unter massivem Polizeischutz. Die Aktivistinnen und Aktivisten leisteten passiven Widerstand. „Jedesmal, wenn ein Trupp mit ihren Sägen gekommen ist und schneiden wollte, haben wir den Baum umarmt“, sagt Meisner-Blau. Denn ein Gesetz besagte, „solange ein Mensch unter einem Baum steht, darf man ihn nicht schlägern“.

Am 15. Dezember sorgten Umweltaktivisten bei der TV-Show „Wetten, dass..?“ für Aufsehen vor einem Millionenpublikum. Bundeskanzler Sinowatz war damals Wettpate in der Sendung, die Aktivisten liefen mit einem Transparent „Nicht wetten – Donauauen retten“ vor die Kameras. Als sie von Ordnern weggezerrt wurden, sagte Moderator Frank Elstner: „In meinem Studio wird keiner rausgeschmissen“, und gab den Aktivisten Gelegenheit für eine kurze Stellungnahme.

Vom Sternmarsch bis zur Eskalation
In der Hainburger Au spitzte sich indessen die Lage zu. Am 17. Dezember hielt die Gewerkschaft zunächst eine Versammlung in Hainburg ab. „Dort wurde ultimativ gedroht, dass wenn die Regierung nicht imstande ist, mit der Polizei die Besetzer aus der Au hinauszutreiben, die Gewerkschafter das selber machen werden“, sagt Gerhard Heilingbrunner, damals Au-Besetzer.

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Am 19. Dezember eskaliert die Situation in der Stopfenreuther Au

Zwei Tage später eskalierte die Situation in der Au. Die Polizei hatte am 19. Dezember einen Räumungsbefehl erhalten und griff durch, manche Beamten mit Gummiknüppel. „Es ist durch Knochen und Mark gefahren“, erinnert sich Heilingbrunner. „Ich möchte nicht sagen, dass es kriegerische Zustände gewesen sind, aber es war kurz davor, dass es kippen hätte können.“

Blut läuft übers Gesicht
Bei den Zusammenstößen zwischen 800 Gendarmerie- und Polizeibeamten und etwa 3.000 Au-Besetzerinnen und -Besetzern wurden 19 Personen verletzt, der Großteil waren Umweltschützerinnen und -schützer. Manuela Trousil wurde etwa am Kopf verletzt, „plötzlich habe ich gespürt, wie es im Gesicht warm wird. Ich habe dann hingegriffen und gemerkt, dass Blut runterläuft.“

Noch am Abend desselben Tages demonstrierten in Wien 40.000 Menschen gegen das Vorgehen der Regierung und den Kraftwerksbau. Die Medien sprachen von einem Tag der Schande. Auf Druck der Öffentlichkeit wurde die Rodung gestoppt, Kardinal Franz König appellierte an beide Seiten, der Weihnachtsfriede wird ausgerufen.

Dennoch verbrachten Tausende Kraftwerksgegnerinnen und -gegner die folgenden Feiertage in der Au. Als das Höchstgericht Anfang Jänner 1985 weitere Rodungen bis zum Abschluss des laufenden Beschwerdeverfahrens verbot, wurde die Besetzung beendet. Zwei Monate später wurde ein Volksbegehren durchgeführt, bei dem sich rund 350.000 gegen den Bau aussprachen. Das Projekt war somit Geschichte.
Fortsetzung siehe Teil 2
 

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1984: Au-Besetzung verhindert Kraftwerk - Teil 2
„Haben nichts verloren“
In der Bevölkerung von Hainburg sei diese Entscheidung „hingenommen“ worden, meint die Wirtin Michaela Gansterer-Zaminer: „Es gab keinen Frust oder Ärger gegenüber den Demonstranten, wir haben ja nichts verloren, wofür wir vorher gekämpft hätten.“ Das Kraftwerk hätte zwar Vorteile gebracht, sei ursprünglich aber kein Wunsch der Einheimischen gewesen.

Kovacs
Die Donau fließt weiterhin direkt an der Stadt Hainburg vorbei

Stattdessen wurde schon bald danach der Vorschlag eines Nationalparks ins Spiel gebracht, um die Aulandschaft für die kommenden Generationen zu erhalten. Freda Meissner-Blau – 1986 die erste Vorsitzende der Grünen, für dessen Partei die Besetzung als Geburtsstunde gilt – kündigte damals an, „dass wir nicht ruhen und rasten werden, bis die Au ein Nationalpark ist“.

„Richtige Streitereien“ wegen Nationalparkplänen
Das führte „zu richtigen Streitereien“ in der Stadt, erinnert sich Gansterer-Zaminer, denn im Gegensatz zum geplanten Kraftwerk mussten dafür „Jäger, Fischer oder Bootsbesitzer Abstriche machen“. Nach einem sehr langwierigen Prozess und vielen Diskussionen konnten die Sorgen und Anliegen aber auf einen Nenner gebracht werden, ohne „dass es zu einer Verhärtung in der Bevölkerung geführt hat“.

Ende Oktober 1996 wurde die Zukunft der Region in einem Zelt auf der Burgruine Hainburg am Hainburger Schlossberg offiziell besiegelt. Die damaligen Landeshauptleute Erwin Pröll (ÖVP) und Michael Häupl (SPÖ) unterzeichneten mit Umweltminister Martin Bartenstein (ÖVP) die Urkunde zur Gründung des Nationalparks Donau-Auen. Lange und zähe Verhandlungen waren diesem historischen Tag vorausgegangen.

APA / SCHNARR Ulrich / US
Der damalige Umweltminister Martin Bartenstein, der Wiener Landeshauptmann Michael Häupl und Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll unterzeichneten 1996 in Hainburg den Vertrag zwischen Bund und den Ländern Wien sowie Niederösterreich, der den Startschuss zur Realisierung des Nationalparks Donau-Auen bildete

„Man muss wissen, dass wir beide sehr gerungen haben, bis es zu dieser Unterschrift gekommen ist“, erinnerte sich Altlandeshauptmann Erwin Pröll bei einem Besuch 25 Jahre später. Und er sprach davon, dass die ersten Unterschriften, die die Gründung besiegelten – „im Rahmen einer Landeshauptleutekonferenz weit nach Mitternacht“ erfolgt sind. Häupl sprach von einer „gewaltigen Geschichte", einem "echten Meilenstein im ökologischen Verständnis und im Naturschutz“.

Denn bis heute siedelten sich mehr als 5.500 Arten an Tieren und Pflanzen im Nationalpark an. Etwa die Hälfte der heutigen Fischvorkommen wurde gerettet, viele geschützte Arten konnten sich wieder entfalten. Diese Vielfalt ist allerdings kein Zufall. Denn das Schutzgebiet liegt direkt an der Grenze zwischen pannonischem und atlantischem Klima. Es ist damit sowohl westlichste als auch östlichste Scheide der Tier- und Pflanzenwelt und für viele Arten das größte Rückzugsgebiet.

Einzigartige Plätze
An den Ufern der Donau findet man zudem, als einzige Region neben der Wachau, noch weitläufige Schotterbänke. „Solche Plätze sind sonst kaum mehr vorhanden“, erzählt Nationalparkranger Rosenberger. Zwischen den Steinen finden zahlreiche geschützte Insekten Unterschlupf. Für den Flussregenpfeifer wurde etwa das größte Brutgebiet erhalten.

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Die Nase – ein ursprünglich typischer Donaufisch – ist mittlerweile sehr selten geworden
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Die Bestände der harmlosen Würfelnatter sind in Mitteleuropa stark bedroht

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Der Eisvogel ist die einzige in Mitteleuropa vorkommende Art aus der Familie der Eisvögel

Heute ist die Hainburger Au sowohl für Niederösterreicher als auch für die Wiener ein beliebtes und gut frequentiertes Naherholungsgebiet. „Wir befinden uns nicht in einem entlegenen Gebiet, sondern direkt vor der Haustüre Wiens“, sagt der langjährige Nationalparkdirektor Carl Manzano, der auch von Anbeginn gegen das Kraftwerk kämpfte. Auch wenn es grundsätzlich keine Sperrzonen gibt, versucht man dennoch die Besucherströme zu lenken. Denn einige Gebiete sollen völlig naturbelassen bleiben.

Ökologisches System aus dem Gleichgewicht
Die großflächige Rodung der Bäume wurde vor fast 40 Jahren zwar verhindert, die Erhaltung des Nationalparks sorgt dennoch für genügend Arbeit. Aufgrund von eingeschleppten Pflanzen sowie einer Vielzahl an Wildtieren ist das ökologische System aus dem Gleichgewicht geraten. „Unser Auftrag ist es, dass sich der Park selbst erhält“, sagt Rosenberger. Doch das werde noch rund 200 Jahre dauern.


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Eine weitere Herausforderung ist der absinkende Grundwasserspiegel sowie die Regulierung des Flussbettes. Die Kraftwerke entlang der Donau halten mitgezogenen Kies und Schotter zurück. Der Boden gräbt sich daher pro Jahr um einen Zentimeter weiter nach unten. Seit der Besetzung wurde der Donau-Untergrund bis zu 60 Zentimeter abgetragen. Als Folge bleiben die regelmäßigen Überschwemmungen in den Auen aus. Als Gegenmaßnahme wurde im Vorjahr etwa der Spittelauer Arm wieder an die Donau angebunden.

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„Ein provokanter neuer Bau“
Sehr emotional wurde es in Hainburg noch einmal im Jahr 2000, als in der Stadt ein Nationalparkzentrum entstehen sollte. „Das war eine heikle Sache“, sagt Gansterer-Zaminer. Die Diskussion drehte sich damals nicht so sehr um das Zentrum an sich, sondern um die Bauweise, „ein provokanter neuer Bau“ des aus Hainburg stammenden Architekten Wolf D. Prix.

Doch Gegner des Zentrums sahen durch den Bau die historische Substanz des Wasserturms in Gefahr. In einer Volksbefragung entschied sich die Bevölkerung deshalb gegen den Bau, mit der Folge, dass das Nationalparkzentrum schließlich in Orth an der Donau (Bezirk Gänserndorf) seine Heimat fand.

Im Rückblick ist Gansterer-Zaminer jedenfalls froh, dass sich Österreich für den Nationalpark und gegen das Kraftwerk entschieden hat. Fraglich wäre gewesen, ob der Stadtname „Hainburg an der Donau“ damit noch zutreffend gewesen wäre, weil der Fluss „ja nicht mehr so wie davor an der Stadt vorbeigeflossen wäre“.
12.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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„Gefälschter“ Wein erschüttert Republik
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Ein Weinskandal hat 1985 die Winzer und auch die Republik erschüttert. Millionen Flaschen im In- und Ausland mussten vom Markt genommen werden, Betriebe gingen unverschuldet bankrott. Ins Rollen brachte den Fall ein bis heute anonymer Tippgeber.
„Man hat zwar geahnt, dass irgendwas nicht passt – es ist immer darüber gemunkelt worden – aber was genau haben wir nicht gewusst“, erinnert sich Winzer Eduard Magerl aus Fels am Wagram (Bezirk Tulln) an das Frühjahr 1985. Von einem Skandal, wie er nur Wochen später folgen sollte, sei damals noch „überhaupt keine Spur“ gewesen.

Allerdings sei es für „normale“ Winzer von Jahr zu Jahr schwieriger geworden, Wein etwa an die Gastronomie zu verkaufen. „Das haben alles die Weinhändler übernommen, wo es zum Einstand gleich zehn Kisten Wein gratis gab.“ Für kleine Winzer sei das nicht möglich gewesen. Zudem sei der Preis pro Liter damals stark gefallen.

„Blödsinnige“ Studie
Die eigentlichen Wurzeln des Weinskandals ortet Josef Pleil, früherer Präsident des Österreichischen Weinbauverbandes, jedoch schon zu Beginn der 1970er Jahre. Damals sei auf Druck der Weinhändler und einer laut Pleil „blödsinnigen“ Studie, wonach der Weinkonsum innerhalb von zehn Jahren von 35 auf 75 Liter pro Kopf steigen würde, jedem Winzer im Grenzland die zusätzliche Neuauspflanzung von 0,5 Hektar pro Betrieb genehmigt worden.
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Anfang der 1970er wurden die Weingärtenflächen im Land um ein Drittel erweitert – mit gravierenden Folgen

Die Auspflanzungen hatten nach fünf Jahren eine Flächenausweitung von etwa 15.000 Hektar mit entsprechender Überproduktion zur Folge. „Es zeigte sich, dass dieses Zugeständnis der Regierung eine verfehlte Politik war und ins Chaos führte, weil Anfang der 1980er Jahre der Weinkonsum in ganz Europa zurückging und dadurch ein riesiger Weinüberschuss mit extremem Preisverfall vorhanden war“, erzählt Pleil.

Der Betrug beginnt
In Deutschland bestand zu jener Zeit jedoch eine gute Nachfrage nach Süßweinen. Diesen Bedarf an Süßweinen versuchten nun einige „findige Spezialisten“ zu bedienen, indem sie aus einfachen billigen Tafelweinen durch Zusatz von Diethylenglykol hochwertige Prädikatsweine vortäuschten und diese zu Billigstpreisen anboten. „Das funktionierte anfangs sogar ganz gut“, sagt Pleil.

Und zwar so gut, dass die Weinhändler große, sogar sehr große Mengen an Wein von den vielen Nebenerwerbswinzern zusammenkauften. Warum plötzlich eine derart große Nachfrage bestand, wurde nicht hinterfragt. „Uns war es eigentlich recht. Wir hatten weniger Arbeit, aber verdient haben wir mehr“, erzählt heute ein Winzer hinter vorgehaltener Hand.

Anonymer Whistleblower
Erste Hinweise auf den Betrug lieferte ein bis heute unbekannter Mann mit deutschem Akzent. Er tauchte am 21. Dezember 1984 in der landwirtschaftlich-chemischen Bundesanstalt in Wien auf, stellte eine Flasche mit einer Flüssigkeit auf den Tisch und sagte: „Mit diesem Produkt wird Wein gefälscht“, schildert Pleil.

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Bei den chemischen Analysen konnten man die Fälschungen lange Zeit nicht erkennen

Ein Chemiker untersuchte die wasserhelle, sirupartige Flüssigkei. Nach einer Woche stand die chemische Zusammensetzung des Mittels fest: Es war Diethylenglykol. Es sollte aber noch ein paar Monate dauern, bis die Ermittler genügend Beweise hatten und an die Öffentlichkeit gingen. In dieser Zeit machte sich die Bundeskellereiinspektion ans Werk und überprüfte nun gezielt jene Kellereien, gegen die man schon länger den Verdacht der Weinverfälschung hegte.

Ministerium schlägt Alarm
Am 23. April 1985 schlug das Landwirtschaftsministerium Alarm und warnte, dass Weine aus Niederösterreich und dem Burgenland mit Diethylenglykol versetzt worden waren. Mit der Chemikalie, die sich üblicherweise in Frostschutzmitteln findet, sollte der Fasswein süßer und vollmundiger schmecken. Mindestens 340 Tonnen Glykol hatten heimische Pantscher seit 1978 den Weinen zugesetzt – meistens, um künstlich „Süßweine“ herzustellen.

Ein großer Teil des beanstandeten Weines stammt aus der Region Wagram, speziell aus Fels, wo einer der größten Weinhändler Österreichs involviert war. Beratend zur Seite stand den Betrügern ein Chemiker, der in Grafenwörth (Bezirk Tulln) ein Labor hatte. Der Glykolskandal erschütterte die gesamte heimische Weinwirtschaft, obwohl kleinere Winzer gar nicht beteiligt waren, erinnert sich Pleil.

Die Folgen bekam auch Winzer Eduard Magerl unmittelbar zu spüren. Zwei Mal pro Woche lieferte er damals nach Wien. Doch mit einem Schlag sei der Umsatz eingebrochen. Die Kunden in der Gastronomie sprachen nur noch von den „Weinpantschern“ und „was wir da alles hineingerührt haben“.

„Hätte keinen besseren geben können“
In Fels am Wagram, das plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit stand, konnte man die Vorwürfe „gar nicht glauben“, erzählt Magerl. Immerhin war einer der betroffenen Weinhändler zugleich Bürgermeister im Ort. „Es hätte keinen besseren Politiker geben können, mit mehr als 100 Beschäftigten ein großer Arbeitgeber und sehr beliebt.“ Ein Grund dafür war wohl auch, dass der Betrieb des Ortschefs damals von fast allen Winzern im Ort Trauben kaufte und diese im Gegenzug gutes Geld erhalten hätten.

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Das Labor des beratenden Chemikers aus Grafenwörth

Doch was mit dem Wein danach passiert sei – wie er verfälscht wurde – davon habe man nichts mitbekommen, sagt Magerl, der 20 Jahre lang auch Obmann des Weinbauverbandes war. Seine Frau sei damals sogar bis kurz vor dem Skandal Winzerkönigin der Region gewesen und habe für die Weine in Österreich geworben. Im Nachhinein könne man über das Brüderpaar „nichts Böses sagen“, sie „haben nichts Schlechtes gemacht als den Staat beschissen – kräftigst.“

Kunstwein ohne Trauben
„Lange ist man ihnen nicht draufgekommen, weil die Untersuchungsmethoden nicht so fein waren“, sagt Pleil. Das ging sogar so weit, dass Weinhändler echten Kunstwein produzierten, in dem gar keine Trauben enthalten waren. Die landwirtschaftlich-chemische Bundesanstalt entwickelte daraufhin ein Verfahren mit einer Nachweisgrenze von 100 mg Diethylenglykol je Liter Wein.

Diese Nachweisgrenze machte in der Weinszene die Runde und führte zu fatalen Folgen, denn die Panscher haben in der Folge das Ausmaß des Skandals selbst mehr als verzehnfacht. Um den Glykolgehalt unter die labortechnische Nachweisgrenze von 100 mg je Liter Wein zu drücken, wurde eins zu zehn mit unverfälschtem Wein gemischt. Das erklärt die hohen Schadensziffern von hunderten Millionen Schilling.

Kläranlagen brechen zusammen
Bis zum Juli 1985 hatten die Chemiker bereits ein Prüfverfahren entwickelt, das Mengen bis fünf Milligramm gesichert nachweisen konnte. In Panik schütteten einige Fälscher den Glykolwein einfach in den Kanal, nur um nicht erwischt zu werden, wodurch Kläranlagen zusammenbrachen. Doch die Show war zu Ende, kein Entrinnen mehr möglich.


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Von da an ging es den Betrügern an den Kragen. Die 55 niederösterreichischen und zwölf burgenländischen Kriminalbeamten, die zur Klärung des Weinskandals eingesetzt waren, hatten nach mehr als 850 Hausdurchsuchungen (davon 60 in Chemikalien-Betrieben) mehr als 1.000 Verdächtige der Staatsanwaltschaft angezeigt.

Auf einen Winzer stießen die Beamten etwa, weil er zuvor auffällig große Mengen von Frostschutzmitteln steuerlich geltend machen wollte, obwohl er lediglich einen kleinen Traktor besaß. Mehr als 26 Millionen Liter verfälschter oder gepantschter Wein wurden beschlagnahmt.

„Deutscher starb an vergiftetem Wein!“
Der Weinskandal schlug in Österreich ein wie eine Bombe. Die „Kronen Zeitung“ titelte am 20. Juli 1985: „Pantscher-Skandal weitet sich aus – tödlicher Eiswein in Graz!“. Der „Kurier“ vom 24. Juli legte nach: „Deutscher starb an vergiftetem Wein!“ – was sich als Irrtum herausstellte. Ab 26. Juli erschienen in den Tageszeitungen Listen mit Namen von Erzeugern und Vertreibern von gesundheitsschädlichen Weinen mit der Überschrift „Vor diesen Weinen wird nun gewarnt!“

Kurier
Der Skandal erreichte internationale Dimensionen, als im deutschen Fernsehen von Giftwein gesprochen wurde und vor laufenden Kameras Regale in Kaufhäusern vom österreichischen Wein gesäubert wurden. Der Weinexport brach über Nacht um 95 Prozent ein. Die New York Times hatte den österreichischen Weinskandal auf der Titelseite. Sogar der australische Weinexport nach Asien brach kurzzeitig zusammen, weil man in Asien Austria mit Australia verwechselte.

Der Weinskandal war daraufhin wochenlang großes Thema in den österreichischen und deutschen Medien. Millionen Flaschen Wein mussten vom Markt genommen werden, Staatsanwaltschaften ermittelten. „Der gesamte österreichische Weinexport ist zusammengebrochen“, erzählt Josef Pleil. Der ehemals angesehene österreichische Wein war mit einem Schlag geächtet und im Ausland nur mehr ganz schwer verkäuflich.

Unschuldige Konkursfälle
Nach und nach wirkte sich das auch auf die Betriebe aus. „Zahlreiche Großbetriebe haben ihren Markt verloren und sind in Konkurs gegangen, von denen viele gar nicht in den Skandal verwickelt waren.“ Davon betroffen waren die Winzerverbände und erfolgreiche Exportkellereien wie zum Beispiel Lenz Moser. Aber auch viele kleinere Betriebe verloren damals ihre wirtschaftliche Grundlage.

Lenz Moser
Die Firma Lenz Moser musste wegen des Exportstops Konkurs anmelden

Zwischen 20. Juli 1985 und 25. Februar 1986 wurden 80 Verdächtige verhaftet. Als Pantscherkönige galten die Brüder aus Fels am Wagram. Der damals zuständige Staatsanwalt im Landesgericht Krems errechnete allein für deren Firma einen Schaden von umgerechnet mehr als 25 Millionen Euro. Der Betrieb ging ebenfalls in Konkurs, obwohl man das laut Magerl mit entsprechendem Willen hätte verhindern können, „aber man hat damals ein richtiges Opfer gesucht“.

Die ärgsten „Pantscher“ erhielten Haftstrafen von bis zu acht Jahren. Gesundheitliche Schäden bei Weinkonsumenten wurden nicht bekannt. Anstelle des aufgelösten Weinwirtschaftsfonds wurde im Ministerium eine Kommission eingerichtet, welche verschiedene „Weinverwertungsmaßnahmen“ wie etwa Destillation, Überlagerung oder Trauben abschneiden durchführen musste, um einen totalen Marktzusammenbruch zu verhindern.

Ein Neuanfang
Die heimische Weinwirtschaft stand nach dem Skandal vor einem mühsamen Neuanfang. Die Winzer mussten ihre Weine zunächst alle zertifizieren lassen – als Bestätigung für die Kunden, dass dieser Wein glykolfrei ist. Bis das Vertrauen der heimischen Konsumenten wieder vorhanden war, dauerte es laut Magerl etwa zwei Jahre – zumindest einigermaßen, denn im Nachhinein habe man immer wieder von Kunden erfahren, „dass sie den Wein trotz Zertifizierung auch selbst untersuchen haben lassen, weil sie uns nicht geglaubt haben.“

Während sich die Weinwirtschaft langsam aufrichtet, forderten die deutschen Händler für die entsorgten Weine Schadenersatz – und zwar von der Republik, weil die Verursacher im Gefängnis bzw. ihre Betriebe in Konkurs waren. Doch in Österreich fühlt sich zunächst niemand so richtig zuständig, erinnert sich Pleil, der ab 1985 als Weinbaupräsident „die Ehre hatte, den ganzen Mist aufzuräumen“.

Verfehltes Krisenmanagement
Pleil spricht in diesem Zusammenhang von einem verfehlten Krisenmanagement der Politik. Erst als die deutschen Händler einen generellen Boykott androhten, fand man über einen Zeitraum von zehn Jahren Lösungen. Doch in dieser Zeit berichteten deutsche und österreichische Medien unaufhörlich über den Weinskandal, der das Übel stark vergrößert habe. Damit sei Image des österreichischen Weins auf lange Zeit beschädigt worden.
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Wie man so einen Skandal besser managen hätte können, bewies laut Pleil 1986 Italien, wo es ebenfalls einen Weinskandal gab, bei dem es sogar zu Todesfällen gekommen war. Doch die italienische Strategie zielte in diesen Fällen auf rasche Schadenswiedergutmachung ab, gleichzeitig versuchten sie mit günstigen Konditionen neue Geschäftsabschlüsse zu erreichen. In Österreich wurde im Gegensatz dazu der Weinwirtschaftsfonds aufgelöst, der eigentlich für das Krisenmanagement zuständig gewesen wäre.

„Strengstes Weingesetz der Welt“
Stattdessen verabschiedet das österreichische Parlament 1985 das, wie es heißt, „strengste Weingesetz der Welt“. „Das ist richtig“ sagt Pleil, fügt jedoch an, dass die zahlreichen Kontrollmechanismen in vielen Bereichen realitätsfern waren, weshalb dieses Gesetz bis zum Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995 insgesamt 18 Mal novelliert werden musste.


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Für Prädikatsweine wurde die Banderole Pflicht

Nachdem der Ruf des österreichischen Weines ruiniert war, setzten die Winzer nun auf Qualität und nicht mehr auf Massenproduktion. „Klasse statt Masse“, lautete die neue Devise. Die wichtigsten Maßnahmen waren die Einführung einer staatlichen Prüfnummer für alle Qualitätsweine, eine durchgehende Mengenkontrolle vom Weingarten bis in die Weinflasche, ein Gesamtkonzept für die Herkunftsbezeichnung sowie die Einführung einer rigorosen Hektarertragsbeschränkung.

„Ich bin selbst noch überrascht, welche Maßnahmen wir damals alle durchgebracht haben“, gesteht Pleil, der sich in dieser Zeit vielen Anfeindungen von Winzern stellen musste. Doch aus Sicht von Pleil als auch Magerl seien diese Maßnahmen notwendig gewesen. „Jeder hat geschaut, dass er sich an die Gesetze hält, auch wenn es schwierig war“, meint Magerl, denn „so weitermachen und locker schleifen lassen wie bisher, das wäre nicht gegangen.“

Strukturwandel
Bei den Weinbaubetrieben kam es in den folgenden Jahren auch zu einer enormen Strukturbereinigung. Ihre Zahl sank – bei gleichbleibender Anbaufläche – von 45.000 im Jahr 1986 auf 10.000 im Jahr 2013. Die Winzer modernisierten ihre Betriebe, von der Traubenverarbeitung über die Kellerwirtschaft bis hin zur Abfüllung.

Rückblickend sei die heimische Weinwirtschaft gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen, bestätigt Winzer Eduard Magerl: „Im Nachhinein hätte uns nichts Besseres passieren können.“. Denn erst durch den Skandal habe sich eine Glaskultur entwickelt. „Früher sind die alten Männer im Keller gesessen und haben aus ihren Senfgläsern getrunken.“ Außerdem habe man dadurch auch erst wieder die Sortenvielfalt des Wagrams entdeckt.

„Hätten Skandal nicht gebraucht“
Pleil stimmt dem zu, meint aber, dass die gute Entwicklung der Weinwirtschaft ohne den Skandal viel rascher vorangegangen wäre: „Wir hätten den Weinskandal nicht gebraucht!“ Zwar seien durch den Skandal notwendige Reformen leichter durchgesetzt worden. „Aber die Dynamik, wie wir sie seit den ausgehenden 1990er Jahren auf dem Weinsektor erlebt haben, hätte sich auf alle Fälle eingestellt.“

Denn praktisch in allen westlichen Ländern kam es in den vergangenen Jahrzehnten „zu einer unglaublichen Weineuphorie, wie man sie bis dahin nie zuvor erlebt hat“. Von dieser geradezu globalen Euphorie wäre Österreich auch ohne Skandal erfasst worden, und die heimischen Winzer hätten sich auch ohne dieser schmerzlichen Erfahrung in der neuen Entwicklung gut zurechtgefunden.

Mantel des Schweigens
Und trotzdem: "Unser Wein genießt heute weltweit einen ausgezeichneten Ruf“, bilanziert der langjährige Weinbaupräsident Josef Pleil. Derzeit werden etwa 30 Prozent des österreichischen Weines exportiert, zwei Drittel davon kommen aus Niederösterreich. Doch über dem wegweisenden, wenn auch umstrittenen Anstoß liegt bei vielen Winzern bis heute ein großer Mantel des Schweigens.
16.06.20022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
„Gefälschter“ Wein erschüttert Republik
 

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Ein Land bekommt seinen „Saft zum Gulasch“
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Wien hat sein Schnitzel, Salzburg seine Nockerl. Und St. Pölten? Das Gulasch. 1986 leitete der Slogan „Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft“ die Schaffung einer Landeshauptstadt für Niederösterreich ein – immerhin im bereits dritten Anlauf.
15. Februar 1984. Landeshauptmann Siegfried Ludwig (ÖVP) gab in Wien eine Pressekonferenz. Das Thema: Der Ausbau der Bundesstraßen und Autobahnen im Land. Doch dann folgte ein „Paukenschlag“ und „Überraschungscoup“, wie Franz Oswald, Historiker und langjähriger Pressesprecher von Ludwig erzählt.

Ludwig kündigte damals an, man wolle „das Thema Landeshauptstadt ab sofort diskutieren“ – und zwar „mit der klaren Vorgabe, nach Jahrzehnten der Diskussion muss jetzt endlich entschieden werden, machen wir eine Landeshauptstadt oder nicht“, schildert Oswald.

Dieser überraschende Vorstoß hatte laut Oswald mehrere Gründe: Zum einen hatte sich das Land bis dahin „günstig entwickelt“, gleichzeitig wollte man nicht mehr „Milliarden in die Bundeshauptstadt buttern, Geld, das uns verloren geht“. Das Steuergeld sollte fortan im Land investiert werden, und Ludwig wollte ein Generalthema, „um das Land sprunghaft voranzubringen“.

Anfänglicher Gegenwind
Die Idee stieß damals aber nicht sofort und bei allen auf Gegenliebe. Vor allem die SPÖ war „von Anfang an total dagegen“ und auch innerhalb der ÖVP gab es zwei Lager: Jenes des ÖAAB rund um Ludwig, der für eine Landeshauptstadt war, und jenes rund um den Bauernbund, der mit Blick auf den bisherigen Absatzmarkt Wien eher skeptisch war.

Die Diskussion über eine eigene Landeshauptstadt für Niederösterreich war damals so alt wie die Geschichte des Bundeslandes mit Inkrafttreten des Trennungsgesetzes für Niederösterreich und Wien am 1. Jänner 1922. Denn trotz der Trennung blieb der Sitz des Niederösterreichischen Landtages und der Landesregierung noch immer das historische Landhaus in der Wiener Herrengasse.

Der erste Anlauf
Bald darauf gab es schon erste Überlegungen für eine eigene Metropole. Grund dafür waren zum einen die sehr unterschiedlichen Strukturen der beiden Bundesländer, zum anderen die finanzielle Schlechterstellung Niederösterreichs beim Finanzausgleich ohne eigene Hauptstadt. Eine der ersten Überlegungen: Floridsdorf, bis 1904 eine niederösterreichische Gemeinde, sollte Hauptstadt werden. Später war auch von Korneuburg und Klosterneuburg die Rede.

Niederösterreichisches Landesarchiv
Bis 1997 trat der Niederösterreichische Landtag im historischen Sitzungssaal in der Wiener Herrengasse zusammen

Diese Pläne wurden anfangs von der allgemeinen Not im Land während der Ersten Republik, später durch den Zweiten Weltkrieg verworfen. Und auch nach 1945 ging es zunächst um den Wiederaufbau, um die Beseitigung der Armut und die Schaffung von notwendiger Infrastruktur. „Da war erst recht nicht an eine Landeshauptstadt zu denken“, schildert Historiker Oswald.

Der Alleingang einer grauen Eminenz
Erst ab Ende der 1950er- bzw. Anfang der 1960er-Jahre keimte erstmals Hoffnung auf. Der damalige Landesfinanzreferent Viktor Müllner (ÖVP) – die laut Oswald damals „eigentliche Triebfeder im Land“ – ließ südlich von Wien eine neue Wohnstadt errichten, die heutige Südstadt – mit Wohnungen für 5.000 Menschen, einem Stadion und Einkaufsmöglichkeiten sowie der Zentrale der Landesenergieversorger NEWAG und NIOGAS.

Allerdings waren das keine einstimmigen Vorhaben der Landesregierung, sondern „mehr oder weniger ein Alleingang des Viktor Müllner“, so Oswald. Müllner – später auch Landeshauptmann-Stellvertreter und eine graue Eminenz in der ÖVP – war 1966 allerdings in einen Parteispendenskandal zugunsten der ÖVP verwickelt und wurde verurteilt. „Und damit ist auch das Projekt Hauptstadt gefallen.“

Zeitung facht neue Diskussion an
Die nächste Diskussion folgte ein Jahrzehnt später. Landeshauptmann Andreas Maurer (ÖVP) hatte 1974 mit ernsthaften Verhandlungen begonnen. Mehrmals wurden auch Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, 1974 etwa mit sieben als geeignet erscheinenden Kandidatenstädten. Die Initiative sei vor allem von einer Lokalzeitung geführt worden, die in St. Pölten ihren Sitz hatte und die Meinung vertrat, ein Bundesland ohne Hauptstadt sollte es nicht geben.

„Aber die Zeit war einfach noch nicht reif“, sagt Franz Oswald. Maurer sei als Bauernbündler nicht jene Person gewesen, die das vorangetrieben hätte. Und selbst Ludwig war damals noch nicht dafür. Innerhalb der Landesregierung vertrat man die Meinung, man könne nicht in eine einzige Region investieren, das ginge zulasten des restlichen Landes. Die Debatte schlief damit wieder ein.

Regierungsviertel am Minoritenplatz
Daraufhin schlug das Pendel sogar in die Gegenrichtung aus, anstatt einer Landeshauptstadt sollte der Standort in Wien erweitert werden. 1975 folgte dafür eine Ausschreibung, „das Projekt war fix“, sagt Oswald. Und zwar am Minoritenplatz in der Wiener Innenstadt, dort, wo heute das Außenministerium steht, damals ein Parkplatz für Landesbedienstete. Die Kosten: etwa eine Milliarde Schilling.

Das Projekt war bereits im Modell fertig, 1976 wurde darüber auf politischer Ebene heftig diskutiert. Doch auch hier gab es plötzlich einen Rückzieher – mit dem Argument, „wir können uns das nicht leisten“, das Geld sollte stattdessen im ganzen Land verteilt werden. Laut Oswald eine „fadenscheinige Behauptung“, doch das Thema war erneut abgesagt.

Ilhan Balta – stock.adobe.com
Das Außenministerium am Minoritenplatz: Laut ehemaligen Plänen sollte hier ein neuer Sitz des Landesregierung erbaut werden

Überraschender Vorstoß
Und wurde lange Zeit auch nicht mehr aufgenommen. Sowohl bei der Landtagswahl 1983 als auch bei der späteren Regierungserklärung von Ludwig war eine Landeshauptstadt kein Thema. Bis zum 15. Februar 1984, als der ÖVP-Politiker mit seinem Vorstoß alle überraschte. Nur ein kleiner vertrauter Kreis sei informiert gewesen. „Ich habe es nicht gewusst“, sagt Ludwigs damaliger Pressesprecher Oswald, der für die Pressekonferenz noch alle nötigen Unterlagen vorbereitet hatte.

Aufgrund der langen Vorgeschichte nahm die SPÖ die Idee anfangs gar nicht ernst. Denn die Linie der Sozialisten war bis dahin gegen eine eigene Hauptstadt. Für Ludwig sollte Wien zwar ein wichtiger Partner bleiben, aber er war der Meinung, „wir müssen von da weg“ – und musste dafür auch innerhalb seiner Partei kräftig Überzeugungsarbeit leisten.

„Primitiver Slogan“ überzeugte
Schon bald entwickelte sich auch der bis heute legendäre Slogan „Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft“. Ludwig zog damit eine landesweite Werbekampagne für die Schaffung einer eigenen Landeshauptstadt an. Von vielen Seiten wurde der Slogan „als primitiv“ kritisiert, sei aber letztlich erfolgreich gewesen. „Die Leute haben zu denken begonnen“, wodurch die Stimmung zugunsten einer Landeshauptstadt kippte.

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Dieser Slogan brachte laut Historiker Oswald die Wende zugunsten einer eigenen Landeshauptstadt

Am 1. und 2. März 1986 kam es zur Volksbefragung, bei der 1,2 Millionen Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher zur Urne gerufen waren. Einerseits sollten sie darüber abstimmen, ob sie eine eigene Landeshauptstadt wollen, und im selben Wahlgang auch gleich, wo diese Hauptstadt entstehen sollte. Zur Wahl standen die Städte St. Pölten, Krems, Baden, Tulln und Wiener Neustadt.

Ludwig hatte mit der Volksbefragung auch sein weiteres politisches Schicksal verknüpft. Hätten sich die Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher gegen eine eigene Landeshauptstadt ausgesprochen, wäre er als Landeshauptmann zurückgetreten. „Am Tag der Abstimmung kam er ins Landhaus, zog einen Brief aus der Tasche und sagte: Hier steht bereits meine Rücktrittserklärung, falls es ein Nein zur Hauptstadt gibt.“

56 Prozent für eigene Hauptstadt
Das Votum fiel überraschend klar aus – wie ein Gulasch ohne Saft konnte sich die Mehrheit der Niederösterreicher ihr Land offensichtlich nicht vorstellen, 56 Prozent entschieden sich für eine eigene Landeshauptstadt. Und mehrheitlich wurde für St. Pölten votiert. Die spätere Landeshauptstadt kam auf 44,6 Prozent, Krems auf 29,3 Prozent, Baden auf 8,2 Prozent, Tulln auf 5,3 Prozent und Wiener Neustadt auf 4,1 Prozent.

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Gebannt verfolgten Landeshauptmann Ludwig (l.) und Landeshauptmannstellvertreter Pröll (2.v.l.) das Ergebnis der Befragung

Wobei es ein West-Ost-Gefälle gab: Im Wald- und Mostviertel war die Zustimmung deutlich stärker als im Wein- und Industrieviertel, was nachvollziehbar ist, denn bis dahin war Wien Niederösterreichs Verwaltungszentrum. So war etwa in Ludwigs Heimatgemeinde Perchtoldsdorf (Bezirk Mödling) die Mehrheit gegen eine Landeshauptstadt. Und auch in Gemeinden mit einer starken Bauernschaft war „das Ja nicht überragend, wenn überhaupt“.

Ein persönlicher Triumph
Für Siegfried Ludwig war das Ergebnis der Volksbefragung aber ein persönlicher Triumph. Die Medien bezeichneten ihn als „Vater der Landeshauptstadt“: Ludwig war von 1981 bis 1992 Landeshauptmann von Niederösterreich. Er drängte jahrelang darauf, die Landesregierung von Wien nach Niederösterreich zu verlegen, und bezeichnet dieses Projekt als „kühne, aber durchaus realistische Vision“.

Den Ausgang der Volksbefragung nannte Siegfried Ludwig nach der Auszählung der Stimmen ein „sensationelles Ergebnis“. Die hohe Beteiligung sei der Beweis, dass die Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen Entscheidungen mitreden wollen, betonte er.

SPÖ fordert Gegenleistung
Die SPÖ forderte im Gegenzug Geld für die Regionalisierung und die Dezentralisierung der Verwaltung, erzählte der damalige Landesparteivorsitzende Ernst Höger später in einem Interview: „Das Erste, das für mich klar war: Aus dem Nein muss ein Ja der SPÖ werden. Man kann nicht immer von Demokratisierung reden und wenn es dann nicht so ausgeht, wie man will, dann interessiert es einen nicht."

Die beiden damals im Landtag vertretenen Parteien (31 Mandate ÖVP, 24 Mandate SPÖ) verhandelten daraufhin über ein gemeinsames Vorgehen. Nachdem sich SPÖ-Landesparteivorsitzender Ernst Höger zuvor gegen eine Landeshauptstadt und stattdessen für ein Regionalkonzept ausgesprochen hat, wird nun ein Kompromiss gefunden. Sowohl die Landeshauptstadt als auch die Regionalförderung sollen umgesetzt werden – unter dem Motto: „Das Land blüht als Ganzes auf“.

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Am 10. Juli 1986 beschloss der Landtag eine Änderung der Landesverfassung, wodurch St. Pölten offiziell Landeshauptstadt wurde

Diese Entscheidung war Grundlage für einen Landtagsbeschluss am 10. Juli 1986, bei dem die Landesverfassung geändert und St. Pölten zur neuen Landeshauptstadt ernannt wurde. Dieser einstimmige Beschluss löste in St. Pölten und in Niederösterreich einen gewaltigen Investitionsschub aus. Allein in die künftige Landeshauptstadt wurden etwa umgerechnet drei Milliarden Euro investiert.

„Bau’ mir eine schöne Hauptstadt“
Dieses Geld vernünftig einzusetzen und den Überblick zu behalten war die Aufgabe von Norbert Steiner, dem damaligen Planungsleiter. Dass er als gebürtiger Tiroler, der damals in München tätig war, den Job überhaupt bekam, hatte ihn überrascht: „So gut wie ich Niederösterreich kenne, dachte ich mir, die wissen eh schon, wen sie wollen.“ Doch nach einem persönlichen Gespräch mit Ludwig sagte dieser: „Bau’ mir eine schöne Hauptstadt“.

Am 1. Jänner 1987 begann für Steiner somit die Arbeit. Allerdings gab es damals weder Vorgaben noch einen konkreten Standort bzw. vorhandene Grundstücke. Zudem war auch noch unklar, wer überhaupt nach St. Pölten übersiedeln sollte. Immerhin wohnte damals noch ein Drittel der Landesbediensteten direkt in Wien, und nur ein weiteres Drittel im Westen von Niederösterreich. „Es war also Handlung geboten, damit man es den Beamten nicht zu schwer macht.“

Vorbehalte unter den Beamten
Gab es damals ohnehin noch viele Vorbehalte in der Beamtenschaft. Kulturinteressierte wollten großstädtisch bleiben, ein Mitarbeiter des Verfassungsdienstes versuchte sogar rechtlich gegen die Entscheidung vorzugehen, sagt Steiner, „aber natürlich ohne Chance“. Auch die Landesverwaltung habe letztlich ihren Teil beigetragen, die Mitarbeiter zu motivieren, „indem man die Büros in Wien verkommen hat lassen, sodass sich jeder nach einem neuen Arbeitsplatz gesehnt hat“.

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Als eine seiner letzten Amtshandlungen nahm Landeshauptmann Siegfried Ludwig am 13. September 1992 den offiziellen Spatenstich vor

Und dafür kamen zunächst drei Standorte in Frage. Eine Gruppe plädierte für ein Gebäude am Bahnhof, „am besten über dem Bahnhof“. Als zweite Option galt das Kasernengelände im Westen der Stadt in der Nähe des Stadtwaldes, die Kaserne sollte stattdessen ausgelagert werden. „Ich persönlich war für den Standort am Fluss, damit die Innenstadt an die Traisen kommt“, sagt Steiner.

Harte Verhandlungen mit Kleingärtnern
Daraufhin folgten harte Verhandlungen und Gespräche. Denn das Gelände des heutigen Regierungsviertels gehörte damals noch weitgehend einer Kleingartensiedlung mit 160 Besitzern – und mindestens zwei Drittel mussten überzeugt werden, zu gehen. Zu Beginn waren es nur drei, erzählt Steiner: „Das war eine Operation, die unter heutigen Umständen nicht machbar wäre“.

Als Ersatzgelände wurde – „mit Segen aus Rom“ – eine Fläche auf der anderen Uferseite der Englischen Fräulein gekauft. Doch in einer ersten Befragung wurde die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt, es gab nur eine einfache Mehrheit. „Doch damit war klar, dass der Standort aufgegeben wird.“ Der Großteil entschied sich ohnehin für Geld, wobei die Kleingärtner nicht zimperlich waren. „Da wurde jeder Busch und jedes Pflanzerl abgelöst.“

Wien hilft Niederösterreich sparen
Und durch einen glücklichen Zufall konnte der Bau auch wesentlich schneller und günstiger umgesetzt werden als geplant. Denn eigentlich sollte in Wien – gemeinsam mit Budapest – 1995 eine Expo, eine Weltausstellung, stattfinden. Die Bauwirtschaft habe deshalb im Vorfeld geklagt, dass diese enormen Bauvorhaben die Branche „überfordern“ würde, sagt Steiner.

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Den Ausgang der Volksbefragung nannte Siegfried Ludwig nach der Auszählung der Stimmen ein „sensationelles Ergebnis“. Die hohe Beteiligung sei der Beweis, dass die Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen Entscheidungen mitreden wollen, betonte er.

Doch 1994 wurde in Wien völlig überraschend eine Volksabstimmung über die Expo abgehalten, „die prompt schiefgelaufen ist, die Expo war abgesagt“, erinnert sich Steiner. Daraufhin fragten die Baufirmen reihenweise an, „wann sie denn anfangen können, wir haben deshalb gute Preise bekommen“. Am 13. September 1992 – nachdem die Bauaufträge vergeben waren – erfolgte der offizielle Spatenstich.

Der nächste Skandal?
St. Pölten entwickelte sich in den folgenden Jahren bis 1997 zur größten Baustelle Europas. Am Höhepunkt waren hier bis zu 2.000 Arbeiter tätig. Mit Blick auf die Entwicklung damaliger Bauvorhaben wie das AKH Wien meinten einige, „das wird der nächste Skandal“, erzählt Steiner. Dass es auch ohne Skandal ging, „war die größte Leistung“ – vor allem, weil damals „alle in dieselbe Richtung gelaufen sind“.

Bereits 1996 konnten die ersten Beamten von Wien nach St. Pölten übersiedeln. Auch ein Teil des Kulturbezirks wurde rechtzeitig für die Ausstellung „1.000 Jahre Österreich“ eröffnet. Damals sei laut Steiner auch der mittlerweile amtierende Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) überzeugt gewesen, „das geht gut über die Bühne, ich muss mir keine Sorgen machen“. Der Umzug der Politiker erfolgte 1997.

Potenzial der Beamten überschätzt
Das neue Regierungsviertel sollte laut Steiner „mehr sein als nur Büros, das ist aber nicht ganz gelungen“. Vor allem habe man das urbane Potenzial der Beamten überschätzt. Konkret dachte man, dass etwa 20 Prozent der Kaufkraft im Regierungsviertel bleibt. „Während der Baustelle ist es allen Geschäften gut gegangen, die Beamten sind doch lieber in die Kantine gegangen, das war interessant, aber auch etwas enttäuschend“.

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1996 wurde das Regierungsviertel in St. Pölten feierlich eröffnet

Gelungen sei hingegen, das Entwicklungspotenzial von St. Pölten zu heben, vor allem beim Thema Arbeitsmarkt. Als Norbert Steiner von der Isar an die Traisen wechselte, war St. Pölten noch eine Auspendlerstadt, hatte also weniger Arbeitsplätze als Einwohner. Das hat sich mittlerweile geändert. Auch deshalb, weil fast alle großen Landesorganisationen – Sozialpartner, Banken, Versicherungen – von Wien nach St. Pölten übersiedelt sind.
Eine Einschätzung, bei der die Prognosen kräftig daneben lagen, war, dass die Landeshauptstadt in kurzer Zeit 100.000 Einwohner haben würde. Stattdessen war es laut Steiner 20 Jahre „eine Zitterpartie“, ob man die 50.000er-Marke hält. „Es ist eigenartig, dass Wohnen in St. Pölten zu wenig Anreiz hatte.“ Stattdessen siedelten sich viele Beamten im Umland an, „im schwarzen Speckgürtel“, ergänzt Oswald.

Von „Stinkt Pölten“ zur vollwertigen Hauptstadt
Doch auch das ist heute Geschichte. Durch die Wohnbauoffensive in der Stadt und dem Aus der Glanzstofffabrik 2008 habe die Stadt einen nachhaltigen Schwung erlebt. „Als wir 1986 in St. Pölten ankamen, an einem Feiertag, haben wir nirgends etwas zu essen gefunden, wir hatten mit der Quartiersuche ein Problem, und mein Sohn hat immer nur von Stinkt Pölten gesprochen“, erinnert sich Steiner.

ORF.at/Christian Öser
Mit der Zeit habe sich das Regierungsviertel laut Norbert Steiner gut in die Stadt integriert

Doch heute sei St. Pölten von einer Bezirkshauptstadt schon längst zu einer vollwertigen Landeshauptstadt geworden. Und auch der Regierungsbezirk, der anfangs noch eher „neben“ der barocken Innenstadt St. Pöltens lag, hat sich laut dem Experten „mehr und mehr in die Stadt integriert“.

Und diese Entwicklung habe letztlich nicht nur St. Pölten, sondern auch dem Land geholfen. Neben dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 sei das Thema Landeshauptstadt für die Entwicklung Niederösterreichs „ganz zentral“ gewesen, ist Historiker Oswald überzeugt, „die das Land wesentlich nach vorne gebracht haben“.
19.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Ein Land bekommt seinen „Saft zum Gulasch“

Siehe auch Landhausviertel St.Pölten
 

josef

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#85
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Radioaktive Wolke sorgte für Angst - Teil 1
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Im April 1986 ist es im Atomkraftwerk Tschernobyl zu einer verheerenden Explosion gekommen. Tausende Menschen starben an den Folgen. Die radioaktive Wolke bedrohte auch Niederösterreich, wo man auf so einen Unfall aber nicht vorbereitet war.
Online seit heute, 17.06 Uhr
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„Man war wirklich ratlos, was zu geschehen hat“, erinnert sich der damals für den Katastrophenschutz zuständige Landesrat, Franz Blochberger. In den Morgenstunden des 26. Aprils 1986 wurde im Atomkraftwerk „Lenin“ in Tschernobyl in einem Testlauf ein Stromausfall simuliert. Dieser geriet außer Kontrolle, Reaktor 4 des Kernkraftwerks konnte nicht mehr gekühlt werden und explodierte.

In den Flammen stiegen radioaktive Partikel auf, die der Wind schließlich über ganz Europa verbreiten sollte. Doch die Öffentlichkeit erfuhr davon zunächst nichts, im sowjetischen Fernsehen gab es nur eine kurze Meldung über eine „Havarie“ in einem Kraftwerk, wie das Unglück zunächst bezeichnet wurde.

„Ja, es ist was passiert“
Erst zwei Tage später schlug Schweden Alarm: In einem schwedischen Kraftwerk wurde eine erhöhte radioaktive Strahlung gemessen, obwohl kein Störfall vorlag. „Und erst durch die Rückverfolgung der Wetter- und Windsituation konnte man feststellen, woher das kam. Dann erst hat man auch in der Sowjetunion zugegeben ‚Ja, es ist etwas passiert’“, erinnert sich Peter Stehlik, damals Landessekretär des Niederösterreichischen Zivilschutzverbandes.

Fotostrecke mit 8 Bildern
DPA
Luftaufnahme des zerstörten Reaktorblocks des ukrainischen Atomkraftwerks in Tschernobyl
AFP
Schätzungsweise rund 600.000 Menschen wurden einer starken Strahlenbelastung ausgesetzt

ORF
Unter den Bergungsmannschaften gab es bis 1995 etwa 6.000 Tote

AFP
Wegen der Gefährdung durch Radioaktivität mussten mindestens 375.000 Menschen umgesiedelt werden

DPA
Im Bild eine Bergungsmannschaft bei Aufräumarbeiten während der Nachtschicht (Aufnahme von 1986)

APA

DPA
Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone die Radioaktivität (im Mai 1986)

ORF

Am 28. April 1986 brachte die APA (Austria Presse Agentur) während der laufenden Zeit im Bild 1 um 19.36 Uhr die erste Meldung. Darin hieß es: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist es (…) zu einem Unfall gekommen. Ein Reaktor sei beschädigt, zurzeit seien Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen des Unfalls im Gang, den Betroffenen werde Hilfe zuteil." Der genaue Zeitpunkt des Unfalls ging aus der Meldung nicht hervor.

Radioaktive Wolke zieht nach Westeuropa
Zur Klärung der Unfallursache würde in der Sowjetunion eine Regierungskommission eingesetzt, hieß es weiter. Tatsächlich wurde nicht nur der Norden der Ukraine, auf deren heutigem Territorium das Unglück geschah, verstrahlt. Die radioaktive Wolke traf vor allem auch das benachbarte Weißrussland und den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa.

BORIS Datenbank / Umweltbundesamt

Am 29. April berichtet die Zeit im Bild 1: „Atomkatastrophe bei Kiew, ein Reaktor brennt, bisher noch keine Klarheit über die Art des Unfalls. Radioaktive Strömung zieht nach Skandinavien. Die Sowjetunion bittet das Ausland um Hilfe. Auch in Österreich ist die Strahlenbelastung geringfügig angestiegen. Sie beträgt aber nicht einmal ein Tausendstel des Wertes, der als gesundheitsschädlich gilt.“

Dem damaligen Gesundheitsminister Franz Kreuzer warfen Kritiker vor, die Katastrophe zu verharmlosen. „Für die Österreicher besteht kein Grund zur Panik. Die derzeitige Situation verlangt aber höchste Wachsamkeit“, stellte er fest. Die 1.-Mai-Aufmärsche gingen wie geplant über die Bühne. Auch Strahlenschützer, etwa vom Atomforschungszentrum Seibersdorf (Bezirk Baden), gaben eher beruhigende Kommentare ab.

Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, dass Österreich zu den am meisten belasteten Ländern West- und Mitteleuropas gehörte und gehört. Besonders das Salzkammergut, die Welser Heide und die Hohen Tauern sind betroffen. Daneben auch die Niederen Tauern und Südostkärnten. Durch heftigen Regen kam es aber auch über Niederösterreich zu einem radioaktiven Niederschlag.

„Keiner wusste, wie es weitergeht“
„Keiner hat gewusst, wie es weitergeht. Wir waren ja keine Spezialisten“, erzählte Franz Blochberger und spricht von „sehr angespannte Stunden und Tagen“, wo man zusammengesessen sei und überlegt habe, was zu tun wäre. „Das war eine furchtbare Zeit. Wir haben abgewartet, die Bevölkerung informiert und gebeten, Ruhe zu bewahren.“

Trotzdem sind viele Menschen wegen der unsichtbaren Gefahr besorgt. „Weil man wirklich nicht wusste, was jetzt kommt“, erinnert sich Inge Korntheurer. „Es hat geheißen, wir sollen nicht in der Erde graben und das Gemüse so essen“, ergänzt Marion Hauser, die damals noch ein Kind war. Für Harald Ritthammer habe man „die Tragweite nicht so richtig begriffen, zumindest in diesem großen Ausmaß nicht.“
Fortsetzung siehe Teil 2:
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Radioaktive Wolke sorgte für Angst - Teil 2

„Keiner wusste, wie es weitergeht“
„Keiner hat gewusst, wie es weitergeht. Wir waren ja keine Spezialisten“, erzählte Franz Blochberger und spricht von „sehr angespannte Stunden und Tagen“, wo man zusammengesessen sei und überlegt habe, was zu tun wäre. „Das war eine furchtbare Zeit. Wir haben abgewartet, die Bevölkerung informiert und gebeten, Ruhe zu bewahren.“

Trotzdem sind viele Menschen wegen der unsichtbaren Gefahr besorgt. „Weil man wirklich nicht wusste, was jetzt kommt“, erinnert sich Inge Korntheurer. „Es hat geheißen, wir sollen nicht in der Erde graben und das Gemüse so essen“, ergänzt Marion Hauser, die damals noch ein Kind war. Für Harald Ritthammer habe man „die Tragweite nicht so richtig begriffen, zumindest in diesem großen Ausmaß nicht.“

Sorgen der Bürger
Peter Stehlik informierte damals in Veranstaltungen tausende Niederösterreicher – keine einfache Aufgabe. „Die Unterlagen, die wir damals bekommen haben, waren hochwissenschaftlich, wir mussten sie herunterbrechen, damit es die Leute – vom Hochschulprofessor bis zum Hilfsarbeiter – verstehen.“ Wobei das Interesse der Frauen damals wesentlich höher war als jenes der Männer, erinnert sich Stehlik.

Zugleich wurden damals auch Atomtelefone eingerichtet – eine Hotline, an die sich besorgte Bürger wenden konnten. Die häufigsten Fragen: Wie soll man sich verhalten? Was soll man nicht essen? Dürfen die Kinder ins Freie? In der Sandkiste spielen? Die Hotline war rund um die Uhr besetzt. Stehlik erinnert sich auch an eine Großmutter, die vor Sorge mit ihrer gesamten Familie nach Italien geflüchtet ist und wissen wollte, ob sie denn schon wieder zurückkommen könne.

Fotostrecke
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Blick von der Geisterstadt Pripyat aus auf den vierten Reaktorblock des Atomkraftwerkes Tschernobyl
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Wegen der Gefährdung durch Radioaktivität mussten mindestens 375.000 Menschen umgesiedelt werden

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36 Jahre nach dem Super-GAU lockt die verstrahlte Zone mit der verlassenen Stadt Pripyat Busladungen voller Neugieriger an

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Pripyat nur drei Kilometer vom Kraftwerk entfernt liegt heute in der unbewohnbaren Zone

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Ein ehemaliges Schwimmbad

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Eine ehemalige Schule

ORF

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Zugleich kam es auch zu Einsätzen an den Grenzübergängen zu Tschechien und der Slowakei. „Dort wurden die Fahrzeuge gemessen, ob sie verstrahlt sind, dann über eine Art Waschstraße gereinigt, und dann durften sie einreisen“, erzählt der ehemalige Landesfeuerwehrkommandant Wilfried Weissgärber, damals für den Strahlenschutz im Landesfeuerwehrverband zuständig. Auch Personen, die einreißen wollten, wurden kontrolliert.

Weide- und Verkaufsverbote
In Niederösterreich waren Nahrungsmittel wie Fleisch, Milch und Gemüse jedenfalls mit einem Hundertfachen des erlaubten Grenzwerts belastet. Franz Blochberger erließ deshalb ein Weideverbot, Frischgemüse durfte nicht mehr verkauft werden. „Es gab keine Erfahrungswerte, man musste sich auf die Mediziner verlassen, die in den Labors die Untersuchungen durchgeführt haben.“

Kontaminierte Milch wurde bis zum Absinken der Werte gelagert und dann zu Käse verarbeitet. „Uns ist es darum gegangen, durch das Messen von Futtermittel eine Versorgungssicherheit mit unbelasteten oder ganz gering belasteten Lebensmitteln sicherzustellen“, sagt Blochberger. Vor Schafmilch- und Gemüseverzehr wurde jedoch gewarnt. „Man sieht, wie verwundbar die Gesellschaft ist.“

Viele Landwirte seien mit dem Rücken zur Wand gestanden, erzählt der Politiker. Denn die Exporte wurden sofort gestoppt, die Preise brachen komplett ein. „Man war auf so eine weltweite Katastrophe nicht vorbereitet. Wir haben nicht gewusst, wie und wann sich dieser Knopf lösen lässt.“
Zudem wurden Schulwandertage verboten, Freibäder und Sportplätze geschlossen. Die Behörden kritisierten das Verhalten der Bevölkerung als zu sorglos. „Die Bevölkerung nimmt die radioaktive Verseuchung zum Teil viel zu leicht,“ beklagte ein Gesundheitsberater. Erst nach mehreren Monaten gaben die Experten vorsichtig Entwarnung. „Das war ein richtiges Aufatmen“, weiß Blochberger. Bundesweit entstand ein Schaden von etwa 100 Millionen Euro.

Radioaktive Belastung bleibt
Doch auch 36 Jahre nach dem Reaktorunfall sind die Auswirkungen in Österreich noch immer messbar. Laut Gesundheitsministerium ist in Wildpilzen und Wildfleisch weiter radioaktives Cäsium-137 zu finden. Grundsätzlich können diese Lebensmittel zwar weitgehend unbedenklich gegessen werden, es gibt aber Empfehlungen, was Eierschwammerl, Maronenröhrlinge und Wildfleisch betrifft.

BORIS Datenbank / Umweltbundesamt

Von Maronenröhrlingen wird noch immer abgeraten
Steinpilze können aus radiologischer Sicht praktisch aus allen Regionen Österreichs bedenkenlos genossen werden. Auch Eierschwammerl stellen kein Gesundheitsrisiko dar. Allerdings sollten Eierschwammerl aus höher belasteten Regionen aus Vorsorgegründen nicht in allzu großen Mengen konsumiert werden. Höher belastete Gebiete befinden sich u.a. im westlichen Niederösterreich. Maronenröhrlinge sollte generell eher nicht gegessen werden.

Die Belastung von Wildpilzen und Wildfleisch wird vom Ministerium regelmäßig im Rahmen von Studien analysiert. Eine aktuelle Studie zu Wildfleisch zeigte, dass etwa zehn Prozent der untersuchten Wildschweine und etwa vier Prozent der untersuchten Rehe Cäsium-137-Werte über dem Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm aufweisen. Eine zweite Studie nahm Wildschweinfleisch aus dem Handel unter die Lupe, wo aber selbst der Maximalwert deutlich unter dem Grenzwert lag.

ORF
In Wildpilzen ist nach wie vor radioaktives Cäsium-137 zu finden

Und auch die Böden in Österreich sind noch immer mit radioaktivem Cäsium-137 belastet. Die höchsten Werte verzeichnen Gebiete in Oberösterreich, Kärnten, Salzburg und der Steiermark, wie das Umweltbundesamt mitteilte. Die regionalen Unterschiede sind auf die Niederschlagsmengen in den Tagen nach dem Reaktorunfall zurückzuführen.

Vollautomatisches Messnetz in Österreich
Zur raschen Erkennung und Beurteilung großräumiger radioaktiver Kontamination begann das damalige Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz schon im Jahr 1975 mit der Errichtung des Strahlenfrühwarnsystems. Im Jahr 1986 war es das einzige vollautomatische Messnetz in Europa. Mittlerweile sind in allen europäischen Ländern vergleichbare Systeme errichtet worden. Seit 2003 betreibt das Umweltbundesamt im Auftrag des Umweltministeriums das österreichische Strahlenfrühwarnsystem.

Zur Zeit des Unfalls in Tschernobyl standen nur einfache Verfahren zur Abschätzung der Zugrichtung der radioaktiven Wolke zur Verfügung. Heute berechnen Organisationen wie die ZAMG mit komplexen Computersimulationen den Transport, die Verdünnung und den radioaktiven Zerfall von Schadstoffwolken sowie die Ablagerung der Schadstoffe am Boden durch Absinken und durch das Auswaschen mit Regen oder Schneefall.
Der Aufbau des automatischen österreichischen Wettermessnetzes mit mittlerweile 280 Stationen war eine direkte Folge der Katastrophe von Tschernobyl. Das Ziel war damals, künftig sehr detaillierte Informationen über den bodennahen Wind und den Niederschlag zu erhalten, um bei einem Unfall in einem grenznahen Kernkraftwerk schnell die Verlagerungsrichtung der radioaktiven Wolke abschätzen zu können.

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Gefahr eines Super-GAUs bleibt
Und das nicht ohne Grund. Denn nach wie vor setzen viele Länder in unmittelbarer Nähe zu Niederösterreich auf Atomkraft, zwischen Dukovany (Tschechien) und Horn liegen etwa nur 55 Kilometer. Kernkraftwerke haben eine Lebensdauer von 30 bis 40 Jahren. Aktuell sind in Tschechien, der Slowakei und Ungarn 14 Kernkraftwerke in Betrieb, neun davon erreichen das Ende ihrer Lebensdauer Ende nächsten Jahres. Ob sie dann abgeschaltet werden, ist noch unklar.

Für Niederösterreich bedeutet das, dass man weiterhin mit der Gefahr eines Super-GAUs leben muss. „Natürlich kann da was passieren, menschliche Fehler gibt es immer“, betont Peter Stehlik und hofft: „Wenn es geht, bitte nicht nachrüsten, sondern auslaufen lassen.“ Auch Niederösterreich drängt seit Jahren auf den Ausstieg aus der Kernenergie. Mit Sonne, Wind und Wasser gibt es genug Alternativen für eine sichere Stromproduktion.

APA/AFP/GENYA SAVILOV
Ein Mahnmal, das an die Katastrophe erinnern soll, im Hintergrund der neue Sarkophag über dem zerstörten Reaktor

Teure Folgen eines Super-GAUs
In Tschernobyl musste unterdessen – um 1,5 Milliarden Euro – ein neue Schutzhülle um den havarierten Reaktorblock gebaut werden. Die Konstruktion ist 109 Meter hoch – höher als die Freiheitsstatue – und überspannt 257 Meter, breiter als das Kolosseum in Rom. Das ist groß genug, um den alten Nuklear-Sarkophag zu umhüllen, den Arbeiter 1986 in rund 200 Tagen zusammenzimmerten, der aber einzustürzen drohte.
Wegen der hohen Strahlenbelastung unmittelbar am Unglücksreaktor wurde die neue Schutzhülle dazu mit einigem Abstand konstruiert. Im November 2016 wurde die 36.000 Tonnen schwere Hülle auf Spezialschienen über den alten Sarkophag gefahren. Sie soll 100 Jahre halten. Über die genaue Opferzahl herrscht bis heute Unklarheit: Während Greenpeace von mehr als 90.000 Toten ausgeht, spricht die Weltgesundheitsorganisation von bis zu 17.000 Toten.
22.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Radioaktive Wolke sorgte für Angst
 

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#87
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als Laa auf der Titelseite in Amerika war
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Der Fall des Eisernen Vorhangs im November 1989 brachte Millionen Menschen die langersehnte Freiheit. Niederösterreich war davon unmittelbar betroffen. Dank eines historischen Fotos schaffte es Laa an der Thaya sogar auf die Titelseiten in Amerika.
Online seit heute, 14.39 Uhr
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Es ist ein Foto, das um die Welt gehen sollte. Am 17. Dezember 1989 durchtrennten die Außenminister von Österreich und der Tschechoslowakei, Alois Mock und Jiri Dienstbier, sowie Landeshauptmann Siegfried Ludwig in Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach) – symbolisch – den Eisernen Vorhang, der zu diesem Zeitpunkt schon längst gefallen war.

„Das war sicherlich eines meiner prägendsten Erlebnisse und sehr beeindruckend“, erinnert sich der langjährige Bürgermeister von Laa an der Thaya, Manfred Fass, der damals als Kulturstadtrat mitwirkte, „wobei ich auch erwähnen muss, dass ich die historische Tragweite dieser Aktion an diesem Tag noch nicht geahnt habe“. Denn noch Monate zuvor erschien das Ende des Eisernen Vorhangs als Utopie.

Ein Leben an der „toten Grenze“
Fast 40 Jahre lang lag die Stadt „an der toten Grenze“. Den Kindern wurde verboten, auch nur in die Nähe der Grenze zu kommen, erinnert sich Fass an seine Kindheit: „Ich habe immer geglaubt, dort ist wirklich eine eiserne Wand, das Ende der Welt.“ Bis er eines Tages bemerkte, „dass dort auch Lichter brennen, erst dann wurde mir bewusst, dass dort auch Menschen leben“.
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Diese Situation habe der Region nicht nur wirtschaftlich geschadet, sondern sie auch psychologisch geprägt. Erst 1979 öffnete sich ein „kleiner Spalt in die Staatsgrenze“, sagt Fass, als ein Straßenübergang geöffnet wurde – für maximal zehn Übertritte pro Tag. Doch zehn Jahre lang gab es weiter „keine Hoffnung, dass sich Entscheidendes ändert“.
Zehn Jahre, in denen weiterhin Menschen beim Versuch, in die freie Welt zu gelangen, ihr Leben lassen mussten. Entlang des Weinviertler Abschnitts des Eisernen Vorhangs starben an die 180 Personen – mehr als an der Berliner Mauer. „Da läuft einem der kalte Schauer über den Rücken, wenn man hört, unter welchen Bedingungen die Leute das versucht haben“, sagt Fass.

Die Machtblöcke brechen
Anfang des Jahres 1989 entsprach Europa noch der alten Ordnung. Im „Kalten Krieg“ standen einander zwei Machtblöcke in West und Ost gegenüber. „Wenn jemand im Frühjahr gesagt hätte, im Dezember steht die Berliner Mauer nicht mehr, hätten die Leute geglaubt, man ist verrückt“, erzählt Historikerin Julia Köstenberger. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse – in ungeahnter Geschwindigkeit.

Zunächst begannen Reformkommunisten in Ungarn – mit Rückendeckung aus Moskau – zwei getrennte Welten einander anzunähern. Am 2. Mai 1989 kündigte man den Abbau der Grenzsicherungsanlagen an: der Grundstein für den Fall des Eisernen Vorhangs. „Das war eine wichtige Entwicklung, weil dadurch einiges ins Rollen und das System ins Wanken geraten ist“, sagt Köstenberger.

Paneuropäisches Picknick
Am 19. August kam es zum sogenannten „Paneuropäischen Picknick“ nahe Sopron und St. Margarethen (Burgenland), weil die ungarischen Grenzsoldaten einfach wegsahen. Mehr als 600 DDR-Bürgerinnen und -Bürger gelangten durch ein geöffnetes Grenztor von Ungarn nach Österreich in die Freiheit. Das war die größte Fluchtaktion seit dem Bau der Mauer. Am 27. Juni 1989 durchschnitten Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn medienwirksam den „Eisernen Vorhang“ in der Nähe von Klingenbach (Burgenland).
ORF
Am 27. Juni 1989 durchtrennten Außenminister Alois Mock (li.) und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn (re.) medienwirksam den „Eisernen Vorhang“

Dabei ahnte noch kaum jemand, dass diese Aktion der Anfang vom Ende des Ostblocks werden sollte. „Zu diesem Zeitpunkt war in der Tschechoslowakei noch nicht so viel im Gange“, sagt die Historikerin. Erst im Herbst, am 17. November, kam es in der CSSR vermehrt zu Demonstrationen, Anlass war u.a. das Gedenken an 50 Jahre NS-Terror. „Zugleich war es auch eine Demo gegen das Regime.“

„Samtene Revolution“
Es war der Beginn der „Samtenen Revolution“: Mit ihren Schlüsseln in der Hand hatten die damals noch in einem Staat vereinten Tschechoslowaken am Prager Wenzelsplatz im Herbst 1989 ihrer Unzufriedenheit über die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zwänge im Land Luft gemacht und das Ende des KP-Regimes eingeläutet. Wenige Tage zuvor – am 9. November – fiel in der deutschen Hauptstadt die Berliner Mauer.

Diese Ereignisse wurden auch entlang der niederösterreichischen Grenze sehr aufmerksam verfolgt, erzählt Fass: „Wir haben gehofft, dass auch die Tschechoslowakei eine Entwicklung wie in Ungarn macht und nicht wie 1968 niedergeschlagen wird, das war unsere Hoffnung, aber ohne irgendeine Sicherheit.“

Ende der Visumspflicht
Am 1. Dezember keimte weitere Hoffnung auf. „Österreich wird die Visumspflicht für CSSR-Bürger ab sofort bis 17. Dezember einseitig aufheben.“ Diese Eilt-Meldung der Austria Presse Agentur (APA) sollte einen weiteren wichtigen Schritt zur Demokratisierung der Tschechoslowakei (CSSR) auslösen. In der Meldung hieß es weiter: „Das österreichische Innenministerium hat die Aufhebung der Visumspflicht mitgeteilt.“


APA
Zudem berichtete die APA, dass aus dem Prager Innenministerium am Freitag inoffiziell verlautet wurde, dass "der Abbau der Grenzsperren des ‚Eisernen Vorhangs‘ an der Grenze zu Österreich am Montag beginnen solle“. Am Abend des 1. Dezember 1989 wurde mitgeteilt, dass die Verordnung des Innenministeriums zur Aufhebung der Visapflicht für CSSR-Bürger ab Montag, 4. Dezember, 0.00 Uhr in Kraft treten werde.

Zusätzliche Grenzübergänge angekündigt
Knapp eine halbe Stunde nach der ersten Aussendung meldete die APA, dass das Finanzministerium wegen der Öffnung der Grenzen zur CSSR neue Grenzübergänge eröffnen werde, um bereits durch den Polenreiseverkehr stark belastete Übertrittsstellen zu entlasten, und auf bisher geschlossenen Grenzstrecken neue Übergänge zu schaffen, etwa im Raum Fratres (Bezirk Gmünd) und in Bernhardstal (Bezirk Mistelbach) zur Schaffung eines Anschlusses an die Autobahn in der CSSR.
Als Sofortmaßnahme würden auch Bürocontainer als Provisorien aufgestellt werden, hieß es, wie etwa für eine neue Übertrittsstelle für den Personenverkehr im Raum Kittsee. Außerdem sollten Ausbaumaßnahmen bei den Zollämtern Kleinhaugsdorf (Bezirk Hollabrunn), Drasenhofen (Bezirk Mistelbach) und Berg rasch in Angriff genommen werden.
Von Landespolitikern kam eine breite Zustimmung. Landeshauptmann Siegfried Ludwig begrüßte den Fall des „Eisernen Vorhangs“: „Darauf haben die Menschen im niederösterreichischen Grenzland vier Jahrzehnte lang gewartet.“ Die Ereignisse in der CSSR bezeichnete der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk (SPÖ) als „einen Traum, von dem keiner in meiner Generation zu träumen gewagt hätte“.

Der langersehnte Tag
Am 4. Dezember 1989 trat um 0.00 Uhr die offizielle Öffnung der tschechoslowakischen Grenzen in Kraft. CSSR-Bürger benötigten zur Ausreise aus ihrer Heimat nur noch einen Reisepass, bei der Einreise nach Österreich wurde kein Visum verlangt. Die Grenzregionen in Nieder- und Oberösterreich und insbesondere die Bundeshauptstadt Wien bereiteten sich auf einen gewaltigen „Sturm der Tschechoslowaken“ vor, meldete die APA.

„Es ist ein gutes Gefühl, ganz ohne Visum und Formalitäten nach Österreich fahren zu können“, werden Einreisende zitiert. Die meisten Bürgerinnen und Bürger aus dem Nachbarland, deren Autos teilweise mit kleinen CSSR-Fähnchen an den Antennen geschmückt waren, erklärten, ihren Aufenthalt zum „Sightseeing“ bzw. für den Verwandtschaftsbesuch zu nutzen, nur wenige seien ausdrücklich zu einer Einkaufstour aufgebrochen.

„Lüfterl“ statt „Sturm“
Zwölf Stunden später schrieben die Agenturjournalisten: „Statt ‚Sturm‘ nur ein ‚Lüfterl’“. An den Grenzübergängen herrschte bis Mittag eher Flaute. Bis Wien waren nur relativ wenige Bürgerinnen und Bürger aus dem nordöstlichen Nachbarland vorgedrungen – viele warteten noch auf ihre Reisepässe und auf Devisen. „Das war für die Bürger der CSSR offensichtlich überraschend“, glaubt Köstenberger.

Bis Mittag wurden als Spitzenwert am Übergang Berg etwa 800 Pkw mit 1.500 bis maximal 2.000 Personen registriert. In Drasenhofen zählte der Zoll etwa 400 Einreisende aus der CSSR, in Kleinhaugsdorf waren es 150. In Laa an der Thaya reisten 80 Personen ein, in Grametten (Bezirk Gmünd) und Gmünd, wo sich die Balken erst um 8.00 Uhr hoben, je etwa 40. Der große Ansturm folgte aber eine Woche später.

Die Suche nach dem Stacheldraht
In diesen Tagen sollte dieses Ereignis auch symbolisch festgehalten werden. Außenminister Mock und Dienstbier trafen sich dafür in Kleinhaugsdorf, wo man eigentlich den Zaun durchschneiden wollte. „Nur war der nicht mehr da“, weiß Köstenberger. Denn tschechoslowakische Soldaten hatten bereits zuvor an mehreren Stellen der gemeinsamen Grenze mit dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“ begonnen.

Stattdessen fuhr man weiter nach Laa an der Thaya. Dort war man erst am Vortag vom Außenministerium informiert worden, dass wir „eine Großveranstaltung organisieren sollen, wobei nur angedeutet wurde, dass der Eiserne Vorhang durchtrennt werden soll“, erinnert sich Manfred Fass. Während im alten Rathaus eine Pressekonferenz mit Mock und Dienstbier stattfand, wurde bei der Ortseinfahrt von Hevlin – dem Nachbarort von Laa – noch ein Stück Stacheldraht gefunden.

Der alte Rathaus-Saal platzte auf Grund des großen Andrangs aus allen Nähten. Am Stadtplatz feierten tausenden Besucherinnen und Besucher – auch jene aus Tschechien, die ihre Nationalflaggen schwenkten. Und etwa 50 Journalisten aus der ganzen Welt berichteten aus Laa. „Die Stadt war am nächsten Tag sogar in Amerika auf der Titelseite und dann war uns klar, welche Tragweite diese historische Aktion hervorgerufen hat.“

„Nur gucken, nicht kaufen“
In den nächsten Tagen und Wochen sei die Stadt „von Tschechen, aber auch Polen überrannt worden“, erzählt Fass. Tausende Autos – viele davon auf der Durchfahrt nach Wien – legten in der Stadt den Verkehr lahm. Auch die örtlichen Geschäfte wurden „gestürmt, wobei die meisten gesagt haben ’Nur gucken, nicht kaufen‘“.

Anders war Situation bei Elektrohändlern, die ihre Ware wie Kühlschränke oder Waschmaschinen gleich vom Liefer-Lkw herunter verkauften. Nach vier Jahrzehnten am Eisernen Vorhang, „in denen die Stadt hart kämpfen musste“, konnte man sich nun 360 Grad „frei bewegen, das war ein ganz neues Gefühl, nicht mehr mit dem Rücken zur Wand zu stehen“.

Weihnachten an der Grenze
Eine Woche nach dem historischen Foto feierten Jugendliche zwischen den Zollämtern gemeinsam das Weihnachtsfest. Auf beiden Seiten begann man schnell Kontakte aufzubauen, sagt Fass, betont aber auch, dass so manches Vorurteil erst überwunden werden musste. Doch auf beiden Seiten überwog die Neugierde. Während die Österreicher kaum Tschechisch verstanden, konnten viele der Tschechen einigermaßen Deutsch.

Innerhalb von nur zwölf Monaten ordnete sich im Jahr 1989 die europäische Welt komplett neu: Die Systeme des real existierenden Sozialismus waren der Reihe nach implodiert, der „Eiserne Vorhang“ war hochgegangen, die Berliner Mauer gefallen, die Anfänge vom Ende des Ostblocks gemacht.

Wie funktioniert eine Gemeinde?
Laa an der Thaya entwickelte sich in den folgenden Monaten auch zu einer Anlaufstelle für Kommunalpolitiker aus der Tschechoslowakei. „Wie finanzieren sich Parteien? Wie funktioniert eine Gemeinde? Welche Aufgaben führt eine Gemeinde durch?“, nennt Fass einige der grundlegendsten Fragen. Gleichzeitig war man mehrmals zu Informationsveranstaltungen in der CSSR eingeladen. „Dadurch entstanden auch viele Freundschaften, die bis heute Bestand haben.“

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rDer Grenzübergang Laa an der Thaya – links das ehemalige Zollhaus – ist für Auswärtige kaum noch sichtbar
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Teils von Bäumen verdeckt zeigen Straßenschilder am rechten Straßenrand die Grenze

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Nächst jener Grenze, die Europa einst mit dem „Eisernen Vorhang“ zweiteilte, gestaltete der Künstler Leo Schatzl mit dem Objekt „Hoher Zaun“ einen Gedenkraum der besonderen Art

Die Stadt habe aber auch wirtschaftlich profitiert. Spürbar sei das etwa am Beispiel der Therme. Während man anfangs noch Zweifel hatte, ob man ein bis zwei Prozent tschechische Gäste ansprechen kann, sind es heute bereits mehr als 30 Prozent. Die Therme entwickelte sich dadurch auch zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Region.

Chance für zwei Regionen
Und durch den Fall des Eisernen Vorhangs sei es auch gelungen, die Abwanderung zu stoppen und den Bürgerinnen und Bürgern das Leben an der Grenze wieder schmackhaft zu machen, sagt Fass: „Man spürt die positive Einstellung, nicht mehr am Rande der Welt zu leben, man ist jetzt viel offener.“ Eine Entwicklung, von der beide Seiten der Staatsgrenze enorm profitieren würden.

In Niederösterreich erfüllte sich die einst tote Grenze nach und nach mit Leben. Die Nachkriegsordnung, die Europa in zwei Hälften teilte, wurde überwunden. In Laa an der Thaya erinnert heute eine Gedenktafel am Grenzübergang an die Barriere. Die Grenze selbst ist für Auswärtige eigentlich kaum noch sichtbar. Und auch die Barrieren im Kopf, die „bei dem einen oder anderen vielleicht heute noch da sind“, würden zunehmend verschwinden.
26.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Als Laa auf der Titelseite in Amerika war
 

josef

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#88
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Ein Weltraum-Pionier hält das Land in Atem
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Am 2. Oktober 1991 startet Franz Viehböck zu seiner größten Reise. Der Niederösterreicher flog im Zuge des österreichisch-russischen Weltraumprojekts „Austromir“ als erster und bisher einziger Österreicher ins All. Nur Stunden danach kam seine Tochter zur Welt.
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Five, four, tree, two, one – am 2. Oktober 1991 um 6.59 MEZ hob eine Rakete des Typs Sojus-TM 13 mit Franz Viehböck an Bord vom russischen Weltraumbahnhof in Baikonur (Kasachstan) ab. Der Start verlief problemlos, Viehböck beschreibt den Augenblick als "immens aufregenden Moment – vor allem die Sekunden vor dem Zünden der Triebwerke, wo noch alles relativ ruhig ist. Da spürt man das Herz schlagen.“

Am Anfang vibriert alles, manches scheppert. Die Belastung, die einen in den Sitz drückt, erreicht schließlich 5-g-Kräfte. Man wiegt in diesem Moment das Fünffache seines Körpergewichts und es wird sehr anstrengend, die Arme zu bewegen. Im Gesicht wird die Haut nach hinten gezogen. Im Orbit umkreist man die Erde mit 28.000 Kilometern pro Stunde – „und dann schwebt man“.

Angst oder Sorgen habe er in diesem Moment nicht gehabt, „da ist man voll fokussiert.“ Allerdings gab es vier Tage vor dem Start eine Phase, „wo kurzzeitig solche Gedanken gekommen sind“, erzählt Viehböck im Gespräch mit noe.ORF.at, „denn wenn etwas schiefgeht, würde ich meine Tochter nicht sehen. Ich bin dann schnell hinaus aus dem Zimmer und zu den Kollegen gegangen.“

Start für gemeinsames Projekt
Der Startschuss für diese internationale Zusammenarbeit fiel 1987. Bei einem Besuch in Österreich machte der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Ryschkow das Angebot, dass sich Österreich an einem bemannten sowjetischen Raumprojekt samt Flug eines Österreichers zur Raumstation Mir beteilige. Am 5. April 1988 beschloss die Bundesregierung den Flug eines Österreichers zur Mir.
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Mit dieser Sojus-TM 13 flog Franz Viehböck am 2. Oktober 1991 ins Weltall

Auf ein Inserat in den Medien meldeten sich mehr als 220 Bewerber, darunter 20 Frauen, für die historische Mission. 198 Personen erfüllten die nötigen Voraussetzungen, darunter eine ausgezeichnete Gesundheit, eine naturwissenschaftliche, technische oder medizinische Ausbildung, ein Alter zwischen 30 und 40 Jahren, die Bereitschaft zu einer intensiven 18-monatigen Ausbildung und nach Möglichkeit Kenntnisse der russischen Sprache.

„Ich habe es am Anfang gar nicht so ernst genommen“, sagt Viehböck, der 1969 – als Achtjähriger – die Mondlandung miterlebt hatte. „Und dann will man natürlich auch so etwas machen. Es war ein Traum und dann hat sich die Gelegenheit ergeben.“ Kurz vor dem Ende der Anmeldephase reichte er bei der Austrian Space Agency seine Bewerbung ein.

Hartes Auswahlverfahren
Anhand von ärztlichen Attesten wurde die Zahl der Bewerber von 200 auf zunächst etwa 50, später auf 30 reduziert. Die Tests fanden beim Bundesheer in Wiener Neustadt bzw. in Langenlebarn (Bezirk Tulln) statt. Danach waren es noch 13 Personen, die im Juni 1989 im Heeresspital in Wien eine zweiwöchige, „intensive Untersuchung – von jeder Körperzelle, psychisch und physisch – machen mussten“.

Am Ende standen sieben Männer und Frauen, die laut Kommission als geeignet empfunden wurden. Für diese Gruppe ging es Ende September 1989 nach Moskau. „Dort haben wir weltraumspezifische Tests gemacht, die in Österreich nicht möglich waren, etwa eine Zentrifuge, Unterdruckkammer oder einen Drehsesseltest“, erinnert sich Viehböck, der seine Kindheit und Jugend in Perchtoldsdorf (Bezirk Mödling) und Mödling verbrachte.

Männer- oder Frauenduo
Im Mittelpunkt der gesamten Auswahl ging es vor allem um medizinische Voraussetzungen, „ob man für Weltraumflug geeignet ist“. Zurück in Österreich waren es noch vier Bewerber: zwei Männer und zwei Frauen. Die österreichische Kommission musste nun zwei Kandidaten auswählen – mit der Einschränkung, entweder „zwei Burschen oder zwei Mädchen zu nehmen“.
Archiv Lothaller
Franz Viehböck und sein „Backup“ Clemens Lothaller

Am 6. Oktober 1989 fiel in Moskau die Entscheidung: Der Arzt Clemens Lothaller und der Techniker Franz Viehböck wurden dazu ausgewählt, die Kosmonautenausbildung im Sternenstädtchen zu machen. Damit begann für Viehböck, der nach der Matura ein Elektrotechnik-Studium an der Technischen Universität Wien begonnen und dort auch eine Assistenzstelle angetreten hatte, die Intensivphase.

Training für den Notfall
Zunächst hieß es vor allem, Russisch zu lernen, erst nach vier Monaten starteten erste Vorlesungen. Im ersten Jahr ging es laut Viehböck darum, die Grundlagen zu lernen – von der Sprache bis zur Flugtheorie und allen Systemen, „wie sie theoretisch und praktisch funktionieren“. In Notsituationen hätte „jeder an Bord wissen müssen, was zu tun ist“.

Im August 1991 standen die Kosmonautenteams fest: Viehböck galt als Favorit, Lothaller als Ersatzmann. Mit dem Österreicher sollten als Kommandant der Russe Alexander Wolkow und als dritter in der Sojus-Mission der Kasache Tachtar Aubakirow ins All fliegen. Einen Monat später entschied die russische Raumfahrtkommission, dass Viehböck ins All fliegen soll. Er habe „keine Angst“, gab Viehböck kurz vor dem Start zu Protokoll.

Donauwalzer und Experimente
Am 4. Oktober – also zwei Tage nach dem Start – dockte die Rakete an der Raumstation Mir an. Viehböck stieg mit seinem Team unter den Klängen des Donauwalzers als Begrüßungsmelodie in die Raumstation um. Während seines einwöchigen Aufenthalts musste er 14 wissenschaftliche Experimente im Bereich Medizin, Physik und Umwelt durchführen, etwa neurologische Tests oder Untersuchungen zur Kreislauf- und Hormonforschung.

Ein Experiment ist dem heute 62-Jährigen noch gut in Erinnerung. Erstmals sollten damals im All Ionen-Transmitter getestet werden, die u.a. aus dem Forschungszentrum in Seibersdorf (Bezirk Baden) stammten. Aus der damaligen Grundlagenforschung entwickelte sich Jahre später das Unternehmen Enpulsion aus Wiener Neustadt, „das heute erfolgreich Ionentriebwerke für Satelliten verkauft“.

Eine überraschende Nachricht
Während des Aufenthalts im All wurde Viehböck auch Vater, denn nur achteinhalb Stunden nach dem Start brachte seine Frau im Krankenhaus Wiener Neustadt ein gesundes Mädchen – Carina Marie – zur Welt. „Das war nicht so geplant“, die Tochter sei drei Wochen zu früh dran gewesen. Während die Zeit im Bild noch am gleichen Abend darüber berichtete, erfuhr Viehböck selbst davon erst einen Tag später, „als ich aufgeweckt wurde“. Diese Ehre teilt sich Viehböck bisher übrigens mit drei weiteren Astronauten.

Nach sieben Tagen, 22 Stunden und zwölf Minuten war das Abenteuer vorbei. Am 10. Oktober 1991 landete die Sojus-Landekapsel um 5.12 Uhr bei Arkalyk in Kasachstan, etwa 900 Kilometer von Baikonur entfernt. Viehböcks erste Worte nach der Landung: „Mir geht es gut – alles in Ordnung. Es war aber eine harte Landung. Wenn ich dafür nicht so viel trainiert hätte, wäre mir das Herz in die Hose gerutscht.“
Seine intensivste Erinnerung an die Zeit im All? „Der ganze Raumflug ist ein einschneidendes Erlebnis gewesen“ – die Geburt seiner Tochter, die Schwerelosigkeit, die Beschleunigung am Start, der Flug im All, das An- und Abdocken, der Eintritt in die Atmosphäre mit voriger Bremsung, die Fallschirmlandung, die Technik dahinter mitzuerleben und der Ausblick, sowohl auf die Erde als auch ins Weltall hinaus. „Das sind unvergessliche Momente.“

Im Fokus der Öffentlichkeit
Doch spätestens mit seiner Rückkehr nach Österreich sollte ihn auch seine Popularität nachhaltig beschäftigen: „Es bedeutete für mich schon einen Lernprozess, damit umzugehen, dass man plötzlich im Mittelpunkt der Öffentlichkeit steht und einen jeder kennt“, sagt Viehböck. „Ich habe Gott sei Dank rechtzeitig die Handbremse gezogen und konnte verhindern, dass ich komplett abhebe.“

Auf den Flug folgte eine zweijährige Vortragstätigkeit über die Forschungstätigkeit im All im Auftrag der Bundesregierung. Für die Mission war Viehböck beim Wissenschaftsministerium angestellt, „mit einem Sondervertrag“. Das Gehalt waren damals 90.000 Schilling pro Monat, „plus eine Lebensversicherung“. Die Bekanntheit brachte ihm u.a. Werbeverträge und zahlreiche Autogrammwünsche ein.

Danach wechselte Viehböck in die USA ins Management des US-Raumfahrtkonzerns Rockwell, der von der Firma Boeing aufgekauft wurde. 1999 kam er als Europa-Bereichsleiter des Weltraum- und Kommunikationstechnikbereichs von Boeing mit Sitz Wien zurück in die Heimat. Bis dahin hatte sich auch der Rummel um seine Person auf ein „absolut erträgliches“ Niveau reduziert, so Viehböck.

230 Millionen Schilling
Die Kosten für das Projekt waren – verglichen mit den Beträgen, die heute für ein Weltraumticket bezahlt werden – günstig: Laut Technischem Museum Wien betrugen die Gesamtkosten etwa 230 Millionen Schilling, was inflationsbereinigt knapp 29 Millionen Euro entspricht. Der Flug und das Training von Viehböck und seinem „Backup“ Clemens Lothaller schlug dabei mit 85 Millionen Schilling (etwa elf Millionen Euro) zu Buche.


APA
Die russische Weltraumstation Mir 1996

Trotzdem sei die Weltraumforschung zentral, auch angesichts des Klimawandels. „Die Umweltschäden sieht man natürlich auf der Erde auch, aber durch Satelliten können Messungen vorgenommen und genaue Vergleiche mit den Jahren davor gezogen werden. Das ist eine extreme Unterstützung für Umweltaktivitäten.“ Zudem waren zu Beginn der Coronavirus-Pandemie Video- und Telefonkonferenzen mehr oder weniger das einzige Kommunikationsmittel. „Ohne Weltraum und Satelliten wäre das so nicht machbar.“

Weiterhin einziger Österreicher
Warum er bis heute der einzige Österreicher im All ist? „Das scheitert an der Politik“, sagt der Raumfahrt-Experte. Österreich sei zwar Mitglied der Europäischen Weltraumagentur (ESA), allerdings nicht beim freiwilligen Programm der Raumstation. „Deshalb ist es sehr schwer bis unmöglich, mit der ESA Astronaut zu werden, weil Nationen, die dabei sind, auch ihre Kandidaten dabeihaben wollen.“

Dass in den vergangenen Jahren ein Wettlauf unter Milliardären entbrannte, wer als Erster ins Weltall fliege, und damit auch touristische Pläne verbunden sind, sieht Viehböck als „nicht schlecht“ an: „Ich finde es gut, wenn mehr Leute die Gelegenheit haben, die Erde von oben zu sehen. Damit bekommen die Botschaften, die man der Menschheit mitgeben will, noch mehr Gewicht und Bedeutung.“

Kritisch anzumerken sei bei all den touristischen Plänen aber der hohe Treibstoffverbrauch. „Wenn nicht mehr wie jetzt zwei Raketen im Quartal, sondern pro Tag starten, nimmt die Umweltbelastung eine Dimension an, die man ernst nehmen muss. Da muss sich die Raumfahrt etwas überlegen, um das in den Griff zu bekommen.“

Weltraumausstieg oder Flug zum Mond
Unabhängig von dieser Entwicklung würde es Viehböck eine erneute Reise reizen: „Auf alle Fälle, aber nicht nur, um ins All zu fliegen. Es müsste eine weitere Herausforderung dabei sein, etwa ein Weltraumausstieg oder ein Flug zum Mond.“ Die Chancen dazu seien aber nicht allzu realistisch. „Ich sehe, wie zäh es in Österreich ist, Dinge zu bewegen, und dann spielt auch die Biologie eine Rolle.“
29.08.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Ein Weltraum-Pionier hält das Land in Atem
 

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#89
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Das skurrile letzte Schiff aus Korneuburg - Teil 1
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Knapp 150 Jahre lang war Korneuburg untrennbar mit dem Bau und der Reparatur von Schiffen verknüpft. Zwischenzeitlich konstruierte die Werft sogar Hochseeschiffe. 1993 lief das letzte und gleichzeitig wohl das ungewöhnlichste Schiff vom Stapel.
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Selten waren sich Freude und Trauer so nah wie an diesem Jännertag 1993 in Korneuburg. Ein gewaltiges Schiff schlitterte dem Werftbecken entgegen und kam zum ersten Mal in Kontakt mit dem Donauwasser. Ein Meilenstein für das Wiener Schulschiff und – wie jeder Stapellauf – ein Freudentag für die Werftmitarbeiter.

Gleichzeitig aber war es ein tragischer Schlusspunkt in der fast eineinhalb Jahrhunderte dauernden Geschichte des Betriebs. Die skurrile „Bertha von Suttner“ – dazu später mehr – sollte das letzte Schiff sein, das die geschichtsträchtige Korneuburger Werft verlässt. Doch wie kam es dazu? Und was bedeutete das für die bisherige Industriestadt?

DDSG-Werft in der Monarchie
Begonnen hatte alles mit der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG). Die Korneuburger Geschichte ist eng mit der Gesellschaft verbunden, die 1830 erstmals eine Dampfschiff-Verbindung von Wien nach Budapest einrichtete. Sie verfügte in den Jahrzehnten nach ihrer Gründung über ein kaiserliches Monopol auf die Donauschifffahrt und konnte ihre Vormachtstellung auch danach halten.

„Die erste Werft der DDSG entstand 1835 in Altofen in Ungarn, dort wurden in großer Menge Schiffe gebaut“, sagt Otto Pacher. Der langjährige Werftmitarbeiter ist heute Obmann des Korneuburger Museumsvereins. „Die DDSG ist sehr schnell gewachsen und hat im Winter Schutzhäfen gesucht“, erklärt er. Die Donau war zu diesem Zeitpunkt nicht reguliert, in den Wintermonaten konnte sie in der Regel nicht befahren werden. „Der Altarm in Korneuburg hat sich angeboten und daraus ist 1852 eine Reparatur- und Schleppbauwerft entstanden.“ Verwaltet wurde der neue DDSG-Standort vorerst von der ungarischen Hauptwerft.

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Neben Reparatur- und Wartungsarbeiten wurden in diesen Jahren bereits die ersten Güterkähne gebaut – „zu Beginn in Holzbau, später war der Schiffskörper aus Stahl oder Eisen und nur der Schiffboden aus Holz“, so Pacher. Korneuburg festigte seinen Platz als eine der wichtigsten DDSG-Werften.

Vom Dampfschiff zum U-Boot-Turm
1897 lief hier das erste Dampfschiff vom Stapel, bis hin zum Ersten Weltkrieg wurde der Standort wieder und wieder ausgebaut. Die maximale Größe erreichte die Werft nach einer Zeit der Krise im Zweiten Weltkrieg. Neben Kriegsgefangenen kamen damals auch spezialisierte Fremdarbeiter aus dem niederländischen Rotterdam nach Niederösterreich – und zwischenzeitlich wurden hier sogar U-Boot-Türme für die Endmontage in Norddeutschland gefertigt.
Mit dem Boom der Donauschifffahrt und der zunehmenden Größe der Werft stieg auch deren Bedeutung für die Region. Immerhin war die DDSG in den 1880er-Jahren die größte Binnenreederei der Welt, „es gab sogar Verbindungen bis nach Istanbul“, sagt der Historiker. Waren zu Beginn in Korneuburg lediglich 60 Arbeiter beschäftigt, so waren es während der NS-Zeit 1.700.

„Korneuburg war die Schiffbaustadt schlechthin“, erzählt Pacher. Der Name der Stadt sei weltweit bekannt gewesen, bis hin nach Ecuador oder auch Indonesien. In der Region sei die Werft der Hauptbetrieb gewesen; die Arbeiter kamen aus umliegenden Ortschaften, teilweise aber auch aus dem Waldviertel und aus Wien. „Das ganze Stadtleben, alle Geschäfte vom Fleischhauer bis zum Bäcker, alle waren Zulieferer.“

Krisen als ständige Begleiter
Geprägt war die Geschichte der Werft auch von wirtschaftlichen Problemen, von Zeiten des Auftragsmangels und der Kurzarbeit. Die erste große Krise kam mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Ersten Republik. Von der bisherigen Monarchie war plötzlich nur noch ein kleiner Teil übrig, von der eng damit verknüpften DDSG ebenso. „Die DDSG wurde zerschlagen und verlor die Hälfte ihrer Schiffe“, sagt Werfthistoriker Pacher. „Es gab keine Arbeit, keine finanziellen Mittel. Die DDSG fiel in ausländische Hände.“ Erst Ende der 1920er-Jahre wurde wieder investiert, um mit neuen Schiffen die Donauregulierung voranzutreiben.
Fortsetzung siehe Teil 2:
 
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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Das skurrile letzte Schiff aus Korneuburg - Teil 2

Fotostrecke NS-Zeit 1938 bis Kriegsende 1945
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Sowjetische Verwaltung nach Kriegsende 1945
Zu einer Krise kam es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die siegreichen Sowjets hatten drei Viertel der Maschinen abmontiert, damit war ein Weiterbetrieb in Korneuburg kaum möglich. „Wenig später erkannten sie aber, dass eine Werft für den Schiffsverkehr auf der Donau und auch für jenen in Russland wichtig ist“, so Pacher. Deshalb wurde doch ein Weiterbetrieb erlaubt, im Rahmen der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung (USIA). In der Donau versenkte Schiffe wurden hier nun wieder fahrtüchtig gemacht – und internationale Kontakte geknüpft, die in weiterer Folge überlebensnotwendig werden sollten.

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Neue Chance durch Hochseeschifffahrt?
Die Zeit nach dem Staatsvertrag 1955 war nämlich von innerstaatlicher Konkurrenz geprägt. Schließlich gab es in Linz ebenfalls eine Werft, die bei österreichischen Projekten meist als Siegerin hervorging. „Die Binnenschifffahrt konnte beide Werften nicht auslasten. Deshalb hat sich der damalige Direktor dazu entschieden, den Hochseeschiffbau zu betreiben“, erinnert sich Kurt Rafalzik gegenüber noe.ORF.at. Der gelernte Schiffsbauer und Ingenieur kam in den 1950ern aus Deutschland nach Korneuburg und brachte es hier in knapp 40 Dienstjahren bis zum Direktor.
„Wir haben praktisch in die ganze Welt Schiffe geliefert – unter schwierigsten Umständen, denn Österreich hatte ja keine direkte Zulieferindustrie“, erzählt Rafalzik. Man habe die meisten Teile und Geräte aus dem Ausland zukaufen müssen. Außerdem habe Österreich den Schiffsbau weit weniger gefördert als andere Staaten. „Das ist so weit gegangen, dass in den letzten Jahren beispielsweise die Türkei praktisch 50 Prozent der Produktionskosten übernommen hat. In Korneuburg mussten wir kämpfen, dass wir Aufträge bekommen.“

Aus diesem Grund wurden auch die Kontakte aus der Besatzungszeit ausführlich genutzt. Immer wieder wandte sich die Werft Richtung Moskau, um Aufträge für die Sowjetunion zu bekommen. „Aufgrund meiner Russischkenntnisse hatte ich sehr viele Kontakte mit der sowjetischen Schifffahrt – heute wäre das hauptsächlich die ukrainische Schifffahrt“, erinnert sich Rafalzik. Besonders stolz war man auf Flusskreuzfahrtschiffe, die in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zum Teil heute noch in Betrieb sind.

Harte Bedingungen für Arbeiter
„Ob bei Temperaturen von minus 20 Grad oder bei 30, 40 Grad plus – ich musste immer zur Stelle sein, damit die Produktion weiterläuft“, erzählt Erwin Steinfeld, der ab 1973 in der Werft tätig und später dort für Maschinenwartung und insbesondere für die Kräne zuständig war. Trotz der harten Arbeitsbedingungen erinnert er sich heute mit Wehmut an damals zurück: „Ich bin ein waschechter Korneuburger und bin stolz gewesen, dass ich in der Werft arbeiten durfte.“ Es sei eine „wunderschöne Zeit“ gewesen.

In seinem Aufgabenbereich erlebte Steinfeld zahlreiche Krisen mit, in denen der Betrieb mit Auftragsflauten zu kämpfen hatte. „Mein Glück war, dass zwischen den Aufträgen Umbauten zu machen waren, von alten Geräten auf neue. Kräne wurden zerlegt und wieder eingebaut.“ Dadurch hatte der Korneuburger in der Werft weiterhin genug Arbeit – ein Glück, das nicht alle Beschäftigten hatten.

Besonders drastisch wirkte sich ein missglückter Auftrag über zehn große Schiffe aus Schweden aus. Kurz nach Vertragsabschluss 1973 stellte sich heraus, dass dieses Projekt 700 Millionen Schilling Verlust bringen würde, zu groß waren die Dimensionen der geforderten Schiffe. Bei Nachverhandlungen konnte dieser Schaden auf etwa 200 Millionen Schilling begrenzt werden.

Wirtschaftliches Sorgenkind
Inzwischen hatte sich die Eigentümerstruktur verändert. Der Standort Korneuburg war nun nicht mehr Teil der DDSG, sondern bildete gemeinsam mit der Linzer Werft eine neue Gesellschaft. Über den Umweg der Voest-Alpine befand sich diese nach wie vor im staatlichen Eigentum. Einzelne Aufträge sicherte sich die Werft zwar in diesen Jahren, besser stieg aber meistens Linz aus. Dadurch wurde die wirtschaftliche Lage immer prekärer, die Verluste summierten sich.

„Es hat schöne Tage auf der Werft gegeben und traurige Tage“, erinnert sich der frühere Betriebsratsvorsitzende Herbert Mannhart. Wenn am Hafen neue Schiffe zu sehen waren oder Schiffstaufen stattfanden, seien das glückliche Tage gewesen. „Aber es hat auch genug traurige Tage gegeben.“

Einer der traurigsten Tage für die Belegschaft: die Privatisierung 1990. Ein neuer Investor übernahm die Werften Linz und Korneuburg zu zwei Dritteln. Harte Einschnitte wurden angekündigt. Der Personalstand sollte reduziert, Liegenschaften verkauft werden. Doch es kamen keine weiteren Aufträge, das Ende rückte immer näher. Eine mögliche Lieferung an die Sowjets scheiterte am Untergang der UdSSR.

„Freunde, es ist vorbei“
Die Erinnerungen sind für den damaligen Betriebsrat schmerzhaft: „Das waren Zeiten, als ich vor die Belegschaft treten musste und sagen musste, ‚Freunde, Kollegen, es ist vorbei‘.“ Er habe viele schlaflose Nächte gehabt, „weil ja viele Familien in der Werft beschäftigt gewesen sind“. Die früheren Mitarbeiter vermuten heute, dass ein Weiterbetrieb des Standorts Korneuburg bei der Privatisierung nie ernsthaft geplant war.
Einen letzten Auftrag konnte die Werft in diesen schweren Monaten dennoch an Land ziehen. Dessen kuriose Geschichte erzählt Walter Poetzl, der damals im Projektbüro arbeitete: Dort habe man gesehen, „dass im Wiener zweiten Bezirk eine achtklassige Volksschule fehlt“. Daraufhin sei man auf die Idee gekommen, der Stadt Wien eine schwimmende Schule vorzuschlagen.

„Wir haben das Projekt in unserer Freizeit gemacht, sind damit zum Stadtschulrat gegangen“, erinnert sich Poetzl. Erst als tatsächlich Interesse bekundet wurde, habe man den Chefs von der Idee erzählt. Schließlich sei zwar keine schwimmende Volksschule beauftragt worden, dafür aber ein deutlich größeres schwimmendes Gymnasium mit 36 Klassen: das Schulschiff „Bertha von Suttner“.

„Zwei Kreuzfahrtschiffe mit Wohnwagenanhänger“
„Wir konnten offiziell planen und haben in Korneuburg angefangen zu schneiden und zu schweißen. Dann haben die Herren gesagt, das schaut aus wie eine normale Schule, sie wollen es anders haben“, so Poetzl. Mitten im Bau sei das Projekt massiv umgeplant worden, „sodass es jetzt aussieht wie zwei Kreuzfahrtschiffe mit einem Wohnwagenanhänger“.

Das Projekt Schulschiff verzögerte das Ende der Werft um etwa ein Jahr, verhindert werden konnte es nicht. „Wir haben schon gewusst, sie sperren uns zu“, sagt der ehemalige Konstrukteur. „Für uns war es eine Möglichkeit, dass wir uns für die Zeit danach umschauen konnten.“ Mit dem Fortschreiten der Arbeiten wurden immer mehr Werftbereiche geschlossen. Nicht mehr benötigte Jobs wurden abgebaut, Maschinen verkauft.

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Die „Bertha von Suttner“ ist seit den 1990ern fest an der Wiener Donauinsel vertäut
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Der Katamaran dient zahlreichen Schülerinnen und Schüler aus Wien und der Umgebung als Unterrichtsort
ORF/Felix Novak
Der „Anhänger“ am Heck dient als schwimmende Turnhalle
Museumsverein Korneuburg
Ein Plan des Schulschiffs

„Ich war bis zur letzten Minute auf der Werft“, erzählt Erwin Steinfeld. „Ich habe leider Gottes miterlebt, wie das alles verkauft worden ist.“ Als Zuständiger für die Instandhaltung habe er die Geräte abbauen müssen. Allerdings sei er dadurch in Kontakt mit Fremdfirmen gekommen, von denen eine ihn direkt übernahm.

Später kam er zu einem kleinen Unternehmen, das in Korneuburg erneut kleine Boote baute, sich aber auch nicht auf Dauer halten konnte. Die restlichen 20 Berufsjahre bis zu seiner Pensionierung verbrachte Steinfeld als Schlosser der Stadtgemeinde Korneuburg.

Träume von der Werft
Seine Geschichte ist kein Einzelfall. In einer ersten Phase sei die Belegschaft vom Ende geschockt gewesen, so Betriebsrat Mannhart, „dann musste sich jeder neu orientieren“. Schweißer, Tischler und andere Handwerker fanden meist binnen relativ kurzer Zeit neue Jobs, gerade bei älteren Arbeitern sei die Vermittlung allerdings schwierig gewesen. Zudem musste jeder Nachteile in Kauf nehmen, berichtet Mannhart: „Jeder musste pendeln, jeder musste Abstriche machen und jeder träumt heute noch von der Werft.“

Immer wieder wurden Anläufe unternommen, die Industrieruine wieder instandzusetzen bzw. anderweitig zu nutzen. „Es hat im Laufe der Jahre nach Schließung der Werft die kuriosesten Ideen gegeben“, so Ex-Direktor Rafalzik, „angefangen von einer Universität bis zu einer chinesischen Stadt auf der Halbinsel. Das ist alles in die Hose gegangen.“
Parallel dazu musste das kontaminierte Areal gereinigt werden – Anfang der 2000er-Jahre führte das Umweltbundesamt eine Altlast-Sanierung durch. Mittlerweile kann das Gelände als Naherholungsgebiet samt Beachclub und Bademöglichkeit genutzt werden. Das Potenzial der alten Werft ist damit allerdings längst nicht ausgeschöpft.


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Neuer Anlauf für „Neue Werft“
Ändern will das die Signa-Holding des Milliardärs Rene Benko. Gemeinsam mit der Stadt Korneuburg will sie das Areal in den kommenden Jahren entwickeln. Geplant ist eine Mischung aus Wohnraum, Kultur, Gastronomie und Bildungseinrichtungen. Vor wenigen Monaten wurde ein Antrag für eine entsprechende Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht – niederösterreichweit zum ersten Mal überhaupt für einen gesamten Stadtteil. Die geschätzten Projektkosten belaufen sich auf etwa eine halbe Milliarde Euro, ein neues Zuhause für etwa 1.600 Bewohnerinnen und Bewohner soll so entstehen.

Kritik aus der Umgebung – auch von ehemaligen Werftmitarbeitern –, dass sich wohl nur Reiche den neuen Wohnraum leisten könnten, widersprechen die Verantwortlichen auf Anfrage von noe.ORF.at. Mindestens 30 Prozent der Wohnungen sollen demnach gefördert werden, die restlichen 70 Prozent werden am freien Markt veräußert. „Wichtig ist uns auch, dass die Gemeinde die Zuweisungsrechte dazu hat“, heißt es seitens des Stadtentwicklungsfonds. „Wir wollen leistbaren Wohnraum für KorneuburgerInnen schaffen.“

Die denkmalgeschützten Werfthallen sollen erhalten und in das Konzept eingebunden werden. So soll zumindest ein Teil der Industriegeschichte erhalten bleiben. Ob dort zusätzlich auch noch ein Werftmuseum eingerichtet wird, steht noch nicht fest. Otto Pacher und seine ehemaligen Kollegen kämpfen jedenfalls dafür.


02.09.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
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Das skurrile letzte Schiff aus Korneuburg

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
1992 - Bosnienkrieg: „Ein Flächenbrand der Hilfe“ erfasst das Land
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In den 1990er-Jahren bricht eine Welle der Hilfsbereitschaft über das Land herein. Infolge des Bosnien-Krieges wurden tausende Geflüchtete aufgenommen. Zu einem Hotspot wurde die Gemeinde Poysdorf, dort kam es aber auch zu Anfeindungen und einem Attentat.
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„Mit dem letzten Flugzeug haben wir uns nach Österreich gerettet“, erinnert sich die damals elfjährige Merina Thralovic. In ihrer Heimatstadt Prijedor (Bosnien) stand im Frühjahr 1992 der Bürgerkrieg kurz bevor. Der rettende Zufluchtsort: Poysdorf (Bezirk Mistelbach).
Der Vater war so wie zahlreiche andere Bosnier in den 1970er-Jahren als Gastarbeiter gekommen. In einem Ziegelwerk, nur wenige Kilometer von Poysdorf entfernt, hatte er einen sicheren Arbeitsplatz. Aufgrund der unsicheren Lage in der Heimat ließ Thralovics Vater – so wie auch etwa 150 weitere Bosnier in der Region – seine Familie, aber auch Bekannte oder andere Dorfbewohner nachkommen.

„Tiefe seelische Wunden“
Poysdorf bzw. die Region entwickelte sich dadurch zu einem Hotspot für bosnische Flüchtlinge. Zunächst kamen viele bei Verwandten unter. „Oft haben mehrere Leute in einem Zimmer geschlafen“, erinnert sich Wolfgang Rieder, damals die rechte Hand der tatkräftigen Fürsorgerin Maria Loley. In der ersten Phase ging es darum, den Menschen zuzuhören: „Sie hatten tiefe seelische Wunden, waren traumatisiert und konnten mit niemandem darüber sprechen.“

Schon bald wurde klar, dass der Krieg länger dauern würde. Für die Geflüchteten mussten daher eigene Wohnräume organisiert werden. Loley gründete die Flüchtlingshilfe Poysdorf und machte sich mit ihrem Team von etwa 50 Freiwilligen auf Herbergssuche. Den Sitz hatte die Initiative in einem Wohnhaus, dessen Vorraum zum Büro umfunktioniert wurde.

Innerhalb kurzer Zeit organisierte Loley etwa 20 Privatquartiere. Einheimische stellten Möbel, Kleider und Lebensmittel zur Verfügung. Eine ältere Frau hatte sogar eines ihrer leerstehenden Häuser verschenkt. „Das war ein Flächenbrand der Hilfe und Nächstenliebe“, erinnerte sich Loley noch Jahre später voller Begeisterung. Zudem wurde für jede Familie eine Ansprechperson organisiert.

Gestrandet am Hauptplatz
Immer wieder kam es damals auch vor, dass plötzlich eine Gruppe Bosnier am Poysdorfer Hauptplatz stand. Loley erinnerte sich 2014 in einem Interview an eine Gruppe von etwa 20 Personen, „total erschöpft, sie weinten und waren ratlos“. Der Großteil hatte einen wochenlangen Fußmarsch hinter sich, „in der Hand hatten manche nur ein Plastiksackerl mit den wichtigsten Habseligkeiten.“

Solche „tragischen Szenen“ gab es damals öfters, weiß auch Rieder. Denn gerade zu Beginn hatte sich schnell herumgesprochen, dass „es dort oben, irgendwo bei Poysdorf, jemanden gibt, der ihnen hilft“. Loley wurde meist „als eine alte, kleine, gebückte Frau mit Brille und weißem Haar beschrieben. Und mit dieser Info sind Leute nach Poysdorf gekommen und haben gewartet, bis sie sie finden oder jemanden fragen können.“

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Die Schaltzentrale der Flüchtlingshilfe Poysdorf, ein umfunktionierter Vorraum eines Wohnhauses

Poysdorf stand beispielhaft für viele kleine ländliche Gemeinden, die Flüchtende aus dem Bosnienkrieg aufnahmen und diese oft erfolgreich integrieren konnten. Im Zuge der Bosnien-de-facto-Unterstützungsaktion wurden Tausende Menschen, die auf der Flucht vor den Kämpfen des Bosnienkrieges Niederösterreich erreichten, in Privatquartieren, Pfarrhöfen und leerstehenden Pensionen, aber auch in öffentlichen Gebäuden wie Schulen untergebracht.

Der Beginn des Krieges
Denn in ihrer Heimat herrschte im Frühjahr 1992 plötzlich Krieg. Anlass war, dass am 6. April Bosnien-Herzegowina von den USA und einen Tag darauf auch von der Europäischen Gemeinschaft (EG) als unabhängiger Staat anerkannt wurde. 99 Prozent der Wähler hatten sich zuvor für die Unabhängigkeit ausgesprochen – die serbische Volksgruppe, die 31 Prozent der Bevölkerung in Bosnien ausmachte, hatte das Referendum hingegen großteils boykottiert.
LT. STACEY WYZKOWSKI
Zerstörungen in Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo, nach dem Krieg

Schon wenige Tage nach der Anerkennung des neuen Staates begannen in der Hauptstadt Sarajevo erste heftige Kämpfe. Mitte April 1992 begannen auch in anderen Landesteilen Gefechte. Die bosnisch-serbische Führung verhängte am 2. Mai 1992 über die bosniakisch-kroatischen Stadtteile Sarajevos offiziell eine Blockade und unterbrach die Wasser- und Stromversorgung.

Ab 1993 wurde die Stadt durch einen nahe dem Flughafen Butmir errichteten Tunnel mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt, der auch zur Evakuierung diente. Die Blockade der Stadt dauerte 1.420 Tage. Etwa 10.000 Einwohner der Hauptstadt kamen ums Leben, darunter 1.600 Kinder.

In allen Bezirken Niederösterreichs waren damals bosnische Flüchtlinge untergebracht. Die meisten – etwa 2.800 – kamen bei Privatpersonen sowie karitativen und kirchlichen Stellen unter, etwa 1.200 in Großquartieren, die Bund und Land zur Verfügung stellten. Täglich meldeten sich damals hunderte neue Flüchtlinge.

„Mit Händen und Füßen verständigt“
Auch in Poysdorf wurde weiter nach Privatquartieren gesucht. Eine Familie kam etwa bei Hans und Grete Tiwald unter. „Zu Beginn haben wir uns mit Händen und Füßen verständigt“, erzählt Grete. Die Sprachbarrieren waren für beinahe alle gleich, Deutschkenntnisse waren kaum vorhanden. Deshalb organisierte Hans Tiwald Deutschkurse, gemeinsam wurde gelernt. Andere Einheimische kümmerten sich wiederum um die Kinder.
Trotz der Sprachprobleme wurde in der Umgebung sofort nach einem passenden Arbeitsplatz gesucht. Viele kamen in Betrieben der Region unter, wie bei Winzer Wolfgang Rieder, „damit sie zumindest etwas vorweisen können und Papiere haben, wenn sie zu einem anderen Betrieb gehen, damit sie dort einen leichteren Eintritt haben.“ Andere revanchierten sich, indem sie in der Gemeinde mithalfen.

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Viele Freiwillige engagierten sich und organisierten anfangs auch für Kinder Deutschkurse und Unterricht

Unterstützt wurden die Geflüchteten dabei stets von den vielen Freiwilligen, die ihnen auch bei Behördenwegen halfen. „Man hat gemerkt, die Leute sind mit dem Herzen beteiligt“, sagt damals Maria Loley. Die Integration wurde auch durch eigene Koch- oder Musikfeste gestärkt, immer in enger Zusammenarbeit mit der örtlichen Pfarre und der Stadtgemeinde.

Flüchtlinge brechen homogene Bevölkerung
Innerhalb nur eines Jahres stieg der Anteil der bosnischen Bevölkerung in Poysdorf auf 17 Prozent. Keine einfache Situation, wie Rieder erzählt, immerhin lag die Region bis wenige Jahre zuvor noch an der toten Grenze, dem Eisernen Vorhang. „Das war eine sehr homogene Bevölkerung, da war schon ein Deutscher ein Ausländer.“ Deshalb gab es auch einzelne kritische Stimmen.

Generell seien die Bosnier aber „gut“ aufgenommen worden. Von den älteren Einwohnern seien sie „als in der Monarchie Kaisertreue“ positiv angesehen worden, der Jugend „war es wurscht“. Gleichzeitig hätten sich auch die Bosnier „bereitwillig integriert“, betont Rieder. Sie gingen unter anderem in die örtlichen Wirtshäuser und zogen sich nicht zurück. Vor allem über den Sport sei viel gelungen.

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Der Wiener Bürgermeister Michael Häupl (r.) überreichte Maria Loley im Wiener Rathaus das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich

„Es hat nie eine Ghettoisierung stattgefunden“, sagt Rieder, der sich „von den vielen hunderten Flüchtlingen nur an zwei erinnert, wo man sagen kann, da hat es Brösel gegeben“. Die Akutphase habe etwa ein Dreivierteljahr gedauert, schätzt Rieder, danach konnten sich die Betroffenen auch immer öfter selbst helfen.

Weltweite Auszeichnung
1994 zeichnete die UNO das Projekt „Flüchtlingshilfe Poysdorf“ aus. Die Begründung: Ein Team von 50 ehrenamtlichen Helfern schaffte es, in der Gemeinde mit 5.500 Einwohnern 145 Flüchtlingsfamilien (insgesamt 580 Personen aus den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawiens, aber auch Türken, Ägypter und Chinesen) zu integrieren und auch die Bevölkerung zu tatkräftiger Mithilfe zu ermutigen.

Für diese „beispielhafte Leistung“ wurde dem Projekt der mit 100.000 Schilling dotierte UNHCR-Preis zugesprochen, der 1994 erstmals zur Vergabe gelangte. Damit sollten vor allem Vorurteile gegenüber Flüchtlingen abgebaut werden, erzählt Loley: „Es ist feststellbar, dass es durch diese Auszeichnung ‚in‘ geworden ist, für Flüchtlinge zu sein.“ Zugleich sollte mit dem Geld der Fortbestand der Initiative gesichert werden.

Verein will „Menschen in Not beistehen“
Um der großzügigen Unterstützung eine Struktur zu geben und Loley zu entlasten, wurde 1995 der Verein „Bewegung Mitmensch“ gegründet. Das Ziel: Menschen in Not beizustehen – ungeachtet ihrer Herkunft, Religion und Staatsbürgerschaft. Loley wurde im selben Jahr mit dem Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis für Menschenrechte ausgezeichnet und vom ORF-Landesstudio Niederösterreich zur „Frau des Jahres 1994“ gewählt.

Während ihr Engagement für die „Flüchtlingshilfe Poysdorf“ über die Grenzen gewürdigt wurde, kam es im Ort aber immer wieder auch zu Anfeindungen. Kritische Worte, wie „Kümmern Sie sich lieber um die Österreicher“ und „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ gab es schon damals. „Traurig machen sie mich, weil es lauter Todpunkte sind. Das sind kranke Punkte in unserer Gesellschaft, wo das Leben abgewürgt wird“, meinte Loley.

Attentat als Tiefpunkt
Die Anfeindungen gegen ihre Person erlebten im Oktober 1995 einen Tiefpunkt. Am 16. Oktober wurde Loley Opfer des Briefbombenattentäters Franz Fuchs. Loley, die im Postamt Poysdorf Briefsendungen aus ihrem privaten Postfach abgeholt und an einem Schalter mit dem Öffnen begonnen hatte, erlitt durch die Explosion der Briefbombe Verletzungen im Gesicht und an den Händen.

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Sicherheitsbeamte beim Absichern des Tatortes in Poysdorf, dem Postgebäude

Sie wurde in das Krankenhaus Mistelbach eingeliefert und mehrere Stunden operiert, zwei Glieder ihres linken Zeigefingers mussten amputiert werden. „Es ist sinnlos, mit Gewalt gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft vorzugehen. Auch mit Gewalt in Worten. Letztlich bringt jede Gewaltanwendung den Täter selbst um. Ich verzeihe dem Täter und bete für ihn“, erklärte Loley noch während ihres Krankenhausaufenthaltes.

Ein Motivationsschub für alle
Zehn Tage später wurde sie aus dem Spital entlassen. Sie werde auch unter dem Eindruck des schrecklichen Attentats „keine Veränderungen“ in ihrem Leben vornehmen und ihren Einsatz für die Flüchtlingshilfe in Poysdorf unvermindert fortsetzen, sagte die schon vor dem Anschlag bekannteste Flüchtlingshelferin Österreichs. Die damals 71-Jährige wiederholte ihre Überzeugung, dass „Hass auf keinen Fall mit Hass vergolten werden darf“.

Loley hatte in dieser Zeit viele neue Mitstreiter gefunden, erinnert sich Rieder. Denn der überwiegende Teil der Bevölkerung sei erschüttert und schwer betroffen gewesen. „Das war auch ein Schub nach vorne in der Hilfe, weil viele, denen die Hilfe bis dahin gleichgültig war, motiviert waren etwas zu tun.“ Nach dem Motto: „Jetzt engagieren wir uns erst recht.“

„Ich verzeihe dem Täter“
Jahre nach dem Anschlag meinte sie in einem Interview, dass ihr der Zeigefinger, den sie damals verloren hatte, manchmal abgehe, dem Attentäter habe sie aber verziehen: „Jesus sagt sinngemäß, dass keiner sein Jünger sein kann, der nicht von Herzen seinem Bruder verzeiht.“ Attentäter Franz Fuchs wurde 1999 in Graz wegen mehrerer Brief- und Rohrbombenattentate zu lebenslanger Haft verurteilt.

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Wegen des Bombenattentats auf Maria Loley (Mitte) fand 1995 in Poysdorf ein Fackelzug für Toleranz und Dialog statt

Die Flüchtlingshelferin erhielt für ihr Engagement in den Folgejahren zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen wie „Frau des Jahres“ des Fernsehsenders ARD, das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich, den Stephanusorden in Gold der Erzdiözese Wien und den Liese-Prokop-Frauenpreis des Landes Niederösterreich. Maria Loley starb am 4. Februar 2016 im Alter von 91 Jahren.

Zweite Heimat für tausende Menschen
Von den etwa 90.000 Menschen, die von 1992 bis 1995 vor der Gewalt und dem Krieg auf dem Balkan nach Österreich geflohen waren, fanden etwa 60.000 hier eine zweite Heimat. Dies ist ein weitaus größerer Anteil als unter jenen Flüchtenden, die etwa infolge der Besetzung Ungarns durch Staaten des Warschauer Pakts (1956) oder nach dem Prager Frühling (1968) langfristig in Österreich blieben. Viele der damaligen Flüchtlinge blieben bis heute.

Auch in Poysdorf, wo etwa ein Fünftel der damaligen Flüchtlinge bis heute lebt. Die Kinder sind mittlerweile erwachsen und haben eigene Familien. Und Poysdorf ist längst zur neuen Heimat geworden, sagt Rieder stolz: „Heute sind sie in jeder Hinsicht ein Teil der Bevölkerung, bei Arbeit aber auch in der Freizeit.“
09.09.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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1992: „Ein Flächenbrand der Hilfe“ erfasst das Land
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Semmering: Ein Tunnel trennt zwei Länder
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Selten polarisierte Langzeit-Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) so wie beim Projekt des Semmeringbasistunnels. In den späten 1980ern angekündigt, sorgte der Tunnel auf allen Verwaltungsebenen für jahrzehntelangen Streit – auch innerhalb der ÖVP.
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Die Bahn stand 1987 unter großem Druck. In den 15 Jahren davor hatte der vergleichsweise günstige Verkehr auf der Straße den ÖBB immer mehr Marktanteile genommen, sowohl beim Güter- als auch beim Passagiertransport. Am 4. Mai holte Verkehrsminister Rudolf Streicher (SPÖ) zum Gegenschlag aus. Er kündigte an, 60 Milliarden Schilling über die kommenden Jahre in die Bahninfrastruktur zu stecken. Vorbilder waren etwa Frankreich oder Japan, die mit ihrem Hochgeschwindigkeitsbahnnetz dem internationalen Trend trotzten.

„Neue Bahn“ hieß das Großprojekt. Dessen einzelne Teilbereiche „gruppieren sich um eine erhöhte Leistungsfähigkeit der Strecken, neue Güterterminals sowie modernere Schienentransportmittel für den Frachtverkehr“, berichtete damals die Austria Presse Agentur. „Im Personenverkehr gehören dazu die Einführung eines dichteren Taktfahrplanes, Bahnhofsausbauten wie z.B. für Park and Ride, den Anschluss Österreichs an das internationale Intercity-Express-Netz sowie den Bau des Wiener Zentralbahnhofs.“

Eher am Rande der Präsentation kam erstmals ein Thema vor, das in den Jahrzehnten danach fast andauernd im Mittelpunkt stehen sollte: eine Tunnelverbindung zwischen den Bundesländern Niederösterreich und der Steiermark. „Das erste Großprojekt werde der Semmeringtunnel sein“, schrieb die APA dazu. Dieser könne auf der Südstrecke eine Fahrzeitverkürzung um 30 Minuten bringen – „und nach einer sechsjährigen Bauzeit ab 1993/94 fertig sein“.
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Der Semmering an der Grenze zwischen Niederösterreich und der Steiermark

Österreichs „Schritt in die Zukunft“
In den 70er- und 80er-Jahren habe man zwar „begonnen, ein bisschen den Nahverkehr auszubauen, auch in Niederösterreich – aber der große Wurf war das noch nicht“, erinnert sich Gustav Hammerschmid, der bereits früh in das Projekt „Neue Bahn“ involviert war. Dieses sei für den österreichischen Bahnverkehr der „Schritt in die Zukunft“ gewesen.

Innerhalb des Projekts habe der Semmeringtunnel „mehr oder weniger die gleiche Priorität gehabt wie zum Beispiel die Westbahn auch“, so Hammerschmid. Allerdings sei der Basistunnel in den Planungen schon etwas weiter gewesen als etwa die Tullnerfeld-Strecke, „die ja heute schon längst fertig ist“. Auf seiner Fahrt zum Interview mit noe.ORF.at nach St. Pölten habe er sich gedacht: „So bequem und so schnell könnte es auf der Südbahn auch schon gehen.“

Erste Erfolge für Tunnelprojekt
Tatsächlich gingen die Planungen in der ersten Zeit gut voran. Im Juni 1988 beschloss der ÖBB-Vorstand eine konkrete Trasse von Gloggnitz über Reichenau und Edlach (alle Bezirk Neunkirchen) bis Mürzzuschlag in der Steiermark. 5,3 Milliarden Schilling sollte der Tunnel kosten, dafür gebe es pro Jahr künftig Einsparungen von etwa 100 Millionen Schilling. Immerhin verkürze sich die Fahrzeit Richtung Süden um eine halbe Stunde, zusätzlich erspare man sich die energieintensiven Steigungen der bisherigen Bergstrecke.

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„Die Signale stehen auf grün“, titelte die APA auch noch im Februar des darauffolgenden Jahres. Im Parlament wurde damals die Finanzierung des Tunnelprojekts beschlossen, damit gehe „die Ära des Carl Ritter von Ghega zu Ende. Vor 135 Jahren hatte der Ingenieur in sechs Jahren Bauzeit die damals kühnste Gebirgsbahn in die Täler und unter die Kuppen des Semmerings gelegt. Ab 1993 sollen die Züge mit bis zu 160 km/h durch den 12,5 Kilometer langen Basistunnel und zwei kleinere Tunnel flitzen.“

Eine Direktverbindung Richtung Süden
Der Bund gründete dafür die Eisenbahn-Hochleistungsstrecken-AG (HL AG), Hammerschmid saß hier im Vorstand. Ins Team für den Semmering holte er Franz Bauer, der 1995 zum Projektleiter aufsteigen sollte. Dieser war von der Wirtschaftlichkeit des Projekts von Anfang an überzeugt.
„Man muss von Gloggnitz bisher 460 Meter auf den Berg hinauffahren, dann wieder 220 Meter hinunter“, erklärt er. Mit einem Basistunnel als Direktverbindung könne man sich das ersparen. „Dann hat man de facto nur mehr Richtung Süden diese 240 Meter zu überwinden und Richtung Norden geht es nur bergab.“

APA/GEPA/Alfons Kowatsch
Waltraud Klasnic, jahrzehntelange Kämpferin für den Tunnel

Unterstützung für das Projekt gab es allerdings nicht nur im Bund. Dessen größte Fans waren in der Steiermark zu Hause. Sie hatten jahrelang darum gekämpft, besser an das öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen zu werden. Eine der Verfechterinnen: ÖVP-Politikerin Waltraud Klasnic, zu diesem Zeitpunkt Wirtschaftslandesrätin.

Sinnloses „Zugeständnis an die Baulobby“?
Doch bereits damals wurde auch vereinzelt Kritik laut. „Wenn man will, dass die Bahn ein bisserl moderner, ein bisserl schneller und ein bisserl leistungsfähiger wird, dann ist der Tunnel sicher eine Lösung“, wurde ein Eisenbahnexperte aus Graz von der APA zitiert, „aber eben nicht die beste“. Ein Raumplaner sprach von einer „sinnlosen Mobilität“, ein weiterer von „falschen Prioritäten“, der Verkehrsclub Österreich von einem „Zugeständnis an die Baulobby“. Dazu kam lokaler Widerstand von Anrainern, die zusätzlichen Lärm und die Einstellung der bisherigen Ghega-Strecke befürchteten.

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APA/ÖBB
Die alte Semmeringbahnstrecke,…
APA/ÖBB
…erbaut von Carl Ritter von Ghega,…

APA/ÖBB
…sollte weiterhin in Betrieb bleiben, so die Forderung

APA/Günter Artinger
Sie wurde tatsächlich weiterhin verwendet…

APA/NLK/ISENSEEE
…und im Jahr 1998 sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt

Bald schloss sich auch Erwin Pröll diesen Standpunkten an. Der niederösterreichische ÖVP-Politiker war zu diesem Zeitpunkt genauso wie seine spätere Gegenspielerin Klasnic noch nicht im höchsten Amt seines Bundeslands. Als Stellvertreter von Landeshauptmann Siegfried Ludwig (ÖVP) und zuständig für Verkehrsthemen kritisierte Pröll „fragliche Wirtschaftlichkeit, ökologische Bedenken, das Fehlen eines konkreten Projektes und den möglichen Schaden für den niederösterreichischen Fremdenverkehr“. Viele dieser Punkte sollte er auch viele Jahre später wiederholen.
Heftiger politischer Beschuss kam damals von der SPÖ Niederösterreich. Sie warf der Volkspartei vor, das Projekt jahrelang unterstützt zu haben und nur aufgrund der anstehenden Gemeinderatswahlen umzuschwenken. Die ÖVP-Landespartei wies diesen Vorwurf wiederum zurück, auch die SPÖ habe sich aus Umweltgründen gegen Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekte ausgesprochen.

Ostöffnung bringt Projekt ins Wanken
Die geopolitischen Entwicklungen sollten den Tunnelgegnern in der Folge in die Karten spielen – war diese entscheidende Phase für den Tunnel doch just jene, in der der Eiserne Vorhang fiel und der Osten plötzlich zum Greifen nah war.

Diese Entwicklung erfordere ein „Überdenken und eine grundsätzliche Änderung der gesamten österreichischen Verkehrspolitik“, so Pröll damals. Man müsse die geplanten Investitionssummen nun vielmehr dafür verwenden, den öffentlichen Verkehr in die Nachbarstaaten massiv auszubauen und die regionalen Strecken zu stärken. Andernfalls komme es zu einem Lkw-Transitproblem – und „Niederösterreich darf nicht zum Inntal des Ostens werden“, betonte Pröll. Trotz Planung und Finanzierung erhielt der Semmeringtunnel in Niederösterreich in der Folge nur die Prioritätsstufe zwei, dadurch solle die Realisierung erst in zehn bis 15 Jahren in Angriff genommen werden.


Der ursprüngliche Zeitplan, der eine Fertigstellung 1993 vorsah, war zu diesem Zeitpunkt längst ad acta gelegt worden. Zu groß war der Widerstand gegen das Projekt. Im August 1992 unterbrach Verkehrsminister Viktor Klima (SPÖ) sämtliche Vorbereitungsarbeiten. Zuerst sollte eine Machbarkeitsstudie durchgeführt werden.


ÖVP gegen ÖVP: Pröll als „williger Handlanger“?
Die Steirerin Klasnic blieb währenddessen bei ihrer Position, diametral jener von Pröll entgegengesetzt. Die Gräben zwischen den beiden Parteifreunden konnte auch ein Koordinierungsgespräch in Wien nicht zuschütten. „Pröll hätte gerne Eisenbahnstrecken in Niederösterreich. Das ist legitim für einen Landeshauptmann-Kandidaten“, sagte Klasnic danach. Allerdings: „Es gibt einen gewählten Landeshauptmann. Und Siegfried Ludwig ist sehr dafür.“

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Gipfelgespräch 1998 unter der Leitung von Verkehrsminister Caspar Einem (l., SPÖ) mit der steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic und Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll

Die steirische ÖVP legte später nach. Laut einer Aussendung sei Pröll ein „williger Handlanger gegen einen Gutteil wirtschaftspolitischer Interessen niederösterreichischer Industrieregionen“. Der Konflikt zwischen den schwarz regierten Bundesländern war vollends entbrannt – später ergänzt durch Kärnten, damals ebenfalls mit einem Landeshauptmann der ÖVP, der den Tunnel klar befürwortete.

Fragwürdige Fragen in Studien
Es folgten ein Abtausch von ökologischen und wirtschaftlichen Studien sowie eine Reihe von Umfragen. Zu einem einheitlichen Ergebnis kamen sie nicht. Von beiden Seiten gab es Kritik an der Fragestellung des jeweiligen Gegenübers. So wurde einerseits gefragt: „Was halten Sie im Zusammenhang mit zukünftigen Gütertransitzuwächsen vom Bau des Eisenbahn-Semmeringbasistunnel?“ Eine zweite Studie fragte andererseits mit erkennbar anderem Einschlag: „Halten Sie es für sinnvoll, acht bis zehn Milliarden Schilling Steuergeld für eine zweite Bahnstrecke unter dem Semmering auszugeben?“

Unterdessen rollten am Fuße des Semmerings tatsächlich die Maschinen an. 1994 wurde der Spatenstich für Vorarbeiten für einen Tunnel vorgenommen, der nie fertig werden sollte. Ein Pilotstollen wurde gegraben, 3,5 Kilometer in den Berg hinein. Gleichzeitig wurde der eisenbahnrechtliche Baubescheid erlassen.

Während die Politik um das Projekt stritt, explodierten die Kosten. 1997 waren bereits eine Milliarde Schilling verbaut – ohne dass eine Fertigstellung des Tunnels absehbar war. Die Finanzierung rückte in immer weitere Ferne.

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Der Sondierstollen im Jahr 1998
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Die Arbeiten schritten damals voran

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Ein Arbeiter sprühte flüssigen Beton zur Unterstützung der Stollenwand

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Unter Tage kam es auch zu Verletzungen

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Lange dauerten die Arbeiten allerdings nicht

Die Liste an Problemen sollte weiter wachsen: 1996 etwa, als es im Sondierstollen zu einem Wassereinbruch kam. Die Verantwortlichen hatten zwar laut eigenen Angaben mit Derartigem gerechnet – der Einbruch untermauerte allerdings die Argumente der Tunnelgegner rund um mögliche Umweltprobleme, insbesondere zum Schutz der Trinkwasserversorgung.

Juristischer Kleinkrieg über alle Instanzen
Zusätzliche Schwierigkeiten machte den Verantwortlichen die Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen, als sie 1998 einen negativen Naturschutzbescheid erließ. Die Projektverantwortlichen gingen gegen den Bescheid vor, scheiterten aber bei der Landesregierung erneut – und riefen den Verfassungsgerichtshof (VfGH) als Höchstgericht an.

1999 entschied dieser, der Beschwerde stattzugeben und das zugrundeliegende Naturschutzgesetz des Landes aufzuheben. Dieser Schritt wurde von beiden Seiten unterschiedlich interpretiert. Klasnic ortete einen „Erfolg für den gesamten Süden Österreichs“ und forderte den Bund zu einer raschen Ausschreibung auf – bei raschem Handeln könnte der Tunnel nun immerhin bis zum Jahr 2007 fertiggestellt werden. „Dieses Match hat Landeshauptmann Pröll zu Null verloren“, stellte der steirische ÖVP-Landesgeschäftsführer Reinhold Lopatka fest. „In diesem Fall ist Pröll, der in der Volkspartei ein Riese ist, ein gefesselter Riese.“

Der Angesprochene hingegen sah „keine Rechtsgrundlage für den Baubeginn“, er zeigte sich mit dem Erkenntnis ebenfalls „sehr, sehr zufrieden“. Immerhin habe der VfGH klargestellt, dass das Land in derartigen Fällen umweltrechtlich überhaupt zuständig sei.

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Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, vor Beginn der VfGH-Verhandlung über die Beschwerde gegen den Naturschutz-Bescheid der Landesregierung

Stammgast bei den Höchstgerichten
Ein juristisches Ping-Pong-Spiel zwischen dem Land Niederösterreich, den Projektwerbern und den Höchstgerichten begann. 2004 etwa stellte der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) fest, dass ein neuerlicher niederösterreichischer Umweltschutzbescheid abermals rechtswidrig sei. Gebaut wurde trotzdem nicht. Immerhin gebe es keinen rechtskräftigen Bescheid dafür, so die Argumentation des damaligen niederösterreichischen Umweltanwalts.

Mittlerweile saß mit Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) auch ein erklärter Tunnelgegner in der Bundesregierung, der enge Verbindungen zur niederösterreichischen Volkspartei pflegte. Einstimmige Ministerratsentscheidungen zugunsten des Tunnels waren damit kaum mehr möglich.
„Unerklärliche“ Emotionalisierung rund um Tunnel
„Für mich ist es auch im Nachhinein immer noch unerklärlich, warum so eine starke Emotionalisierung gegen dieses Projekt entstanden ist – von politischer Seite und auch von Medien“, stellt der ehemalige Projektleiter Bauer fest. Der Widerstand sei nicht in erster Linie aus der regionalen Bevölkerung gekommen, „sondern das wurde de facto hineingetragen“.

Unerwartet kam der Protest auch für HL-AG-Vorstand Hammerschmid: „Wir waren überrascht, zum Teil konsterniert und sind auch manchmal ratlos dagestanden.“ Immer wieder habe man versucht, die Vorteile und die Wirtschaftlichkeit des Tunnels zu vermitteln. Gerade in den ersten Jahren habe es diesbezüglich aber Versäumnisse gegeben, räumt Hammerschmid ein. Als Lehre aus dem Semmeringprojekt habe die ÖBB später bei ähnlichen Projekten deutlich mehr in Öffentlichkeitsarbeit investiert.

Teurer Befreiungsschlag als „Upgrade“
So auch beim Projekt „Semmeringbasistunnel neu“. Damit erfolgte 2005 der Befreiungsschlag, der das jahrzehntelange Patt beenden sollte. „Das bisherige Tunnelprojekt soll – schon aufgrund der nicht wirklich lösbaren rechtlichen Situation und faktischen Problematik wie dem ständigen Wasserzulauf oder der Antiquiertheit der ursprünglichen Planung – ad acta gelegt werden“, berichtete die APA. „Der Semmeringbahntunnel soll in Abstimmung mit Pröll völlig neu projektiert und eingereicht werden.“
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Die Projektverantwortlichen bestreiten heute, dass es sich in erster Linie um eine politische Entscheidung gehandelt habe. Vielmehr seien die Sicherheitsstandards des ursprünglichen Tunnels überholt gewesen. „Letztlich war es sicherlich eine weise Entscheidung, dass 2005 de facto von vorne begonnen wurde“, sagt Bauer, der von einem „Upgrade“ spricht.

Die neue Variante sollte mit 1,25 Milliarden Euro deutlich mehr kosten als ursprünglich geplant. Statt einer Tunnelröhre würde es nun aus Sicherheitsgründen zwei geben, die noch dazu um sieben Kilometer länger würden. Dadurch könne die Steigung der Strecke verringert und die Kapazität erhöht werden. „Das bedeutet, dass wir auch schwere Züge mit nur einer Lokomotive fahren können. So haben wir im Güterverkehr ebenfalls keine Hindernisse mehr.“

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2012 war es schließlich soweit, der Spatenstich für den „Semmering-Basistunnel neu“ konnte erfolgen
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Diesmal war auch Pröll an Bord

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Als Bauende prognostizierten die Verantwortlichen das Jahr 2024 (im Bild der damalige ÖBB-Chef Christian Kern, der steirische Landeshauptmann Franz Voves (SPÖ) sowie Pröll und Verkehrsministerin Doris Bures (SPÖ))

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Ganz verstummt war die Kritik aber weiterhin nicht, zu sehen auch im Hintergrund des Spatenstichs

Auch dieses neue Tunnelprojekt hat sich schon verzögert, diesmal allerdings in erster Linie aufgrund von geologischen Schwierigkeiten. Statt 2016 ist eine Fertigstellung aktuell für 2030 vorgesehen. Mittlerweile sind allerdings etwa 90 Prozent der Tunnelröhren gegraben. Damit könnte die Inbetriebnahme 43 Jahre nach der ersten Ankündigung tatsächlich gelingen.
12.09.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Semmering: Ein Tunnel trennt zwei Länder
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
„Kriegslist“ stürzt Kardinal und Kirche in Krise
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Im März 1995 ist der Wiener Erzbischof Kardinal Hans Hermann Groer des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden. Die Affäre stürzte die römisch-katholische Kirche in Österreich in die schwerste Krise seit 1945. Ausgangspunkt war eine mediale „Kriegslist“.
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Am 26. März 1995 berichtete der ehemalige Groer-Schüler Josef Hartmann im Nachrichtenmagazin profil über seine mehr als 20 Jahre zurückliegenden Erlebnisse: Kardinal Hans Hermann Groer, damals noch Religionsprofessor am Knabenseminar Hollabrunn, habe ihn sexuell missbraucht. „Wir wussten natürlich, dass das ein Tabubruch ist“, erinnert sich der damalige Chefredakteur des profil, Josef Votzi.

Zwar gab es auch schon davor Geschichten über sexuellen Missbrauch in der Kirche. „Das Neue war, dass man nun einen hochrangingen katholischen Würdenträger damit in Zusammenhang brachte“, erzählt Votzi – in einer Zeit, in der die katholische Kirche in Österreich noch eine sehr starke Stellung innehatte.

Gerüchte unter den Internatsschülern
Gerüchte und Getuschel über mögliche Verfehlungen Groers habe es schon Jahre zuvor immer wieder gegeben, betont der Journalist, der selbst in Hollabrunn im Internat war. Mitschüler hätten die regelmäßigen Gespräche mit Groer unter vier Augen „wie den Teufel“ gefürchtet und gemieden. Groer galt als „zügelloser Grapscher und Greifer“, doch alles andere „war im Bereich der Spekulation“.

Doch darüber sprechen wollte vorerst niemand, selbst als der Papst Groer 1986 zur großen Überraschung aller zum Erzbischof von Wien ernannte. Ein hochrangiger Kirchenvertreter hätte in einem Hintergrundgespräch ein abgründiges Bild des Innenlebens und des engsten Kreises um den dann höchstrangigen Kirchenmann Österreichs gemalt, erzählt Votzi, doch die Recherchen verliefen im Sand.

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Nach Bekanntwerden der Vorwürfe fand im Wiener Stephansdom ein „Gebet für Bischof und Kirche“ statt. Mit „standing ovations“ wurde der Wiener Erzbischof Kardinal Hans Hermann Groer von rund 1.000 Gläubigen begrüßt

1992 war es schließlich ein Mitarbeiter der Erzdiözese Wien, „der Schwierigkeiten mit Groer angab“ und den Kardinal massiv belastet hat. Doch der ehemalige Groer-Schüler wollte bzw. konnte zu seinen Missbrauchsvorwürfen nicht öffentlich stehen und er wollte die Geschichte nicht freigeben. „Also war die nächste Chance dahin.“

Ein anonymer Brief
Anfang 1995 fand Votzi ein anonymes Kuvert in seiner Post. Darin lag der jüngste Hirtenbrief des Kardinals. Dick mit Filzstift unterstrichen war der von Groer darin aus der Bibel zitierte Satz: „Weder Knabenschänder noch Lustknaben werden in den Himmel kommen.“ Votzi stellt sich die Frage, „warum schreibt Groer so etwas und warum schickt mir jemand das?“

Für gewöhnlich seien solche Hirtenbriefe in einem politischen Magazin „kein Thema“ gewesen, betont Votzi. Doch in diesem Fall entschied er sich – gemeinsam mit Profil-Herausgeber Hubertus Czernin und Kollege Herbert Lackner – zu einer kleinen „Kriegslist“: „Wir platzieren eine Story mit dem ‚Lustknaben‘-Zitat aus Groers Hirtenbrief prominent im Blatt – als eine Art ‚Annonce‘ für Groer-Opfer.“

„Ein ehemaliger Lustknabe“
Und prompt landete einige Tage später eine Postkarte auf Votzis Schreibtisch. Der Weinviertler Josef Hartmann zeigte sich darin empört über den Hirtenbrief – unterschrieben war die Postkarte mit „Ein ehemaliger Lustknabe“. Der ehemalige Zögling fühlte sich von Groers Hirtenbrief so massiv provoziert, dass er mehr als 20 Jahre nach den Übergriffen bereit war, öffentlich über seine Erlebnisse zu sprechen.

Drei Wochen nach dem ersten Gespräch „fühlten wir uns ‚fit to print‘“. Hartmann hatte seine Aussage zum einen in einer „eidesstattlichen Erklärung“ unterschrieben. Andererseits erklärten sich bei Recherchen in Hartmanns Umfeld weitere Groer-Opfer bereit, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch was bis zwei Tage vor Redaktionsschluss noch immer fehlte, war eine Stellungnahme des Beschuldigten. Doch Groer reagierte auf Anfragen nicht. „Die Reaktion war null“, so Votzi.

Stattdessen habe sich Helmut Schüller, damals als Jugendseelsorger und ehemaliger Zögling ein Vertrauter Groers, später Caritas-Chef, bei Votzi gemeldet. Unter vier Augen habe er ihn dringend ersucht, „die Story sein zu lassen, weil wir hier einer Fehlinformation aufsitzen. Das ist alles falsch.“ Unter den drei Autoren löste das erneut Diskussionen aus, „ob wir uns sicher sind, aber wir haben es dann gemacht“.


Profil
Das profil-Cover am 27.3.1995

Gesprächsthema Nummer eins
Als die Geschichte am 27. März 1995 mit dem Covertitel „Kardinal Hans Hermann Groer hat mich sexuell missbraucht“ in Druck ging, löste das eine Lawine an Repressionsversuchen, Ablehnung und Zuspruch aus – befeuert durch einen Zufall: Denn an diesem Wochenende fand die Weihe Andreas Launs zum Weihbischof von Salzburg statt. Alles, was im katholischen Österreich Rang und Namen hatte, war dort anwesend.

Sofort wurden die Hebel der Macht in Bewegung gesetzt. Der damalige ÖVP-Klubobmann Andreas Khol wollte die Veröffentlichung noch im Vorfeld durch eine gerichtliche Beschlagnahmung verhindern. Doch sein Versuch scheiterte ausgerechnet an Groer, der sich weigerte, den Antrag zu unterzeichnen. Khol empört sich laut Votzi noch Wochen später intern über Groer: „Ich habe alles getan, um das zu verhindern. Aber er unterschreibt den Beschlagnahme-Antrag nicht."

Ein „wütender“ Raiffeisen-Chef
Groer entschied sich, weiterhin zu schweigen. Statt ihm meldete sich der damalige Raiffeisen-Chef Christian Konrad, einer der Eigentümervertreter des Profil, lautstark zu Wort, der von den Vorwürfen ebenfalls aus der Zeitung erfuhr, erzählt Votzi: „Er war außer sich vor Wut, weil man einem Würdenträger nicht so an den Pranger stellen könne und er hat sogar überlegt, die Ausgabe einstampfen lassen“, entschied sich letztlich aber dagegen. Doch den Autoren kündigte er an: „Wann des net hoit, fliagts alle drei.“

Doch die Geschichte hielt, und nach Hartmanns Outing wagten sich noch dutzende weitere Missbrauchsopfer aus der Deckung – sowohl aus dem Knabenseminar Hollabrunn als auch von anderen Geistlichen aus ganz Österreich. „Die Leute sind uns mehr oder weniger fast die Türen eingerannt, da ist etwas aufgebrochen und die Leute haben gesagt ‚Jetzt trau ich mich auch‘“.

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Aus Anlass der Anfang April 1995 in Wien stattfindenden Frühjahrssitzung der Bischofskonferenz fand im Stephansdom ein Gemeinschaftsgottesdienst der Oberhirten unter Kardinal Groer statt

Die katholische Kirche in Österreich hätte damit zu einem weltweiten Vorreiter in Sachen Aufklärung von Missbrauchsfällen werden können, entschied sich aber vorerst dafür, die beschuldigten Täter zu decken und seine Opfer zu diffamieren. Die Bischöfe stellten sich geschlossen hinter ihren Mitbruder, der zu all den massiven Vorwürfen nach wie vor eisern schwieg.

"Bubengeschichten“ und „kranke Seelen“
Der damalige Wiener Weihbischof Christoph Schönborn sagte im ORF-Interview: „Er schweigt zu diesen Vorwürfen, denn, ich glaube ich kann ihn hier verstehen, es ist die einzige Antwort auf solche diffamierenden, infamen Beschuldigungen, wie sie hier gegen ihn erhoben werden.“ Der St. Pöltner Bischof Kurt Krenn sprach in der Zeit im Bild 2 sogar von „Hollabrunner Bubengeschichten“ und von „kranken Seelen“, die sich möglicherweise falsch erinnern.

Und auch aus dem Vatikan gab es keine Konsequenzen, weiß Theologe Paul Zulehner: „Die wollten nicht zugeben, dass sie hier die Falschen gewählt haben.“ Außerdem habe man damals noch gedacht, „man kann zur Beiche und zum Therapeuten gehen und dann ist man geheilt und kann wieder eingesetzt werden“, sagt Zulehner. Diese Meinung sei damals auch noch in der Wissenschaft vertreten worden.

Ö3-Sendung als Dammbruch
Auch die anderen Medien hätten sehr vorsichtig auf die Geschichte reagiert, „eventuell auch weil Schönborn sehr heftig darauf reagiert hat und sogar von Nazi-Methoden gesprochen hat“, erzählt Votzi, wofür sich Schönborn Jahre später entschuldigt habe. Deshalb sei er mit Hartmann bewusst in die Ö3-Livesendung „Freizeichen“ gegangen, bei der Hörer auch anrufen konnten. „Das war der Dammbruch“, denn schon während der Sendung meldete sich eine Vielzahl an Opfern.

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Im Ö3-Freizeichen bekräftigte Josef Hartmann seinen Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs durch den Wiener Erzbischof Groer. In der Sendung deutete „profil“-Redakteur Josef Votzi an, daß Hartmann möglicherweise nicht der einzige Fall des sexuellen Mißbrauchs durch Groer war

In den folgenden Wochen und Monaten sollten sich die Ereignisse aber überschlagen. Am 6. April legte Groer überraschend den Vorsitz in der Bischofskonferenz zurück, nachdem er zwei Tage davor noch im zweiten Wahlgang mit einfacher Mehrheit wiedergewählt worden war. Am 13. April ernannte Papst Johannes Paul II. Weihbischof Schönborn zum Erzbischof-Koadjutor mit Nachfolgerecht.

Das war der Beginn der Demontage Groers. Am 14. August nahm der Papst Groers Rücktritt an, am 14. September endete die Ära Groer. Schönborn wurde Erzbischof von Wien. Der Alt-Erzbischof zog sich nach Maria Roggendorf (Bezirk Hollabrunn) zurück, wo er vor seiner Berufung zum Wiener Erzbischof bis 1986 als Wallfahrtsdirektor gearbeitet hatte: als Prior des Hauses St. Josef.

„Wir sind Kirche“
Die Affäre Groer führte im März 1995 auch zu einem Kirchenvolksbegehren. Die Initiative „Wir sind Kirche“ sammelte mehr als 500.000 Unterschriften für eine Erneuerung der Kirche – was letztlich aber im Sand verlief. Zugleich kämpfte die katholische Kirche mit einem schweren Imageverlust – in den darauffolgenden Jahren traten mehrere 100.000 Katholiken aus der Kirche aus.

Doch Missbrauchsvorwürfe sollten Groer auch seinen letzten Posten kosten. Anfang 1998 tauchten im Stift Göttweig, seinem Stammkloster im Bezirk Krems, neue Vorwürfe auf. In einem Buch erzählte der Göttweiger Prior, er sei von Groer missbraucht worden. Es folgte eine Apostolische Visitation. Das Ergebnis dieser kircheninternen Untersuchung ging an den Papst und wurde nie veröffentlicht. Doch der damalige Abt sprach von „schwerwiegenden Vorwürfen“, Groer musste sein Amt zurücklegen.

Die späte Einsicht der Bischöfe
Noch vor Abschluss der Visitation erklärten die Bischöfe Christoph Schönborn, Johann Weber, Georg Eder und Egon Kapellari in einer gemeinsamen Erklärung, dass sie zur „moralischen Gewissheit“ gelangt seien, dass die Vorwürfe gegen Groer „im Wesentlichen“ zutreffen würden. Drei Jahre nach dem Auffliegen der Affäre Groer fanden sie zu einem Eingeständnis der bitteren Wahrheit und einem ersten Wort der Entschuldigung gegenüber den Opfern.

Im selben Jahr bemühten sich die Bischöfe auch, ein Auftreten Groers während des dritten Papst-Besuches in Österreich im Juni 1998 zu verhindern. Mit Hilfe des Vatikans wurde der Kardinal ein halbes Jahr ins „Exil“ geschickt. Offiziell absolvierte er einen „Genesungsbesuch“ in einem Nonnenkloster nahe Dresden. Die Peinlichkeit eines Zusammentreffens zwischen Papst und Groer vor laufenden Kameras war damit abgewendet.

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1988 wurde Papst Johannes Paul II noch von Bundespräsident Kurt Waldheim und Kardinal Hans Hermann Groer am Flughafen Wien-Schwechat begrüßt, zehn Jahre später wurde Groer während des Papstbesuchs ins „Exil“ geschickt

Danach wurde es in der Öffentlichkeit ruhig um Groer. 2003 erlag er im Alter von 83 Jahren in einem Spital in St. Pölten einem Krebsleiden. Angeklagt wurde der Kardinal nie, die Vorwürfe waren längst verjährt. Und zu den Vorwürfen hatte er sich bis zuletzt zumindest öffentlich nicht geäußert. Danach kehrte – mit Ausnahme des Kinderporno- und Homosexuellen-Skandals im Priesterseminar St. Pölten 2004 – etwas Ruhe ein.

Welle an Missbrauchsfällen
Doch 2010 – 15 Jahre nach der Affäre Groer – traf eine Welle an Missbrauchsfällen die heimische Kirche frontal und zwang sie zu einer neuen Offenheit. In Stiftsgymnasien, katholischen Kinderheimen, Nonnenklöstern und Pfarren soll es in der Vergangenheit zu Gewalt und sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gekommen sein. Angesichts rasant steigender Fallzahlen beriet die Bischofskonferenz über den Umgang mit den Vorwürfen.


Warum die Vielzahl an Missbrauchsfällen erst 15 Jahre nach der Affäre Groer aufgekommen ist? „Das war doch etwas sehr Schambehaftetes“, sagt Journalist Josef Votzi. Zudem sei die Art und Weise, wie mit Josef Hartmann umgegangen wurde, „nicht für alle ermutigend“ gewesen. So wurde öffentlich behauptet, dass er für die Aussagen Geld genommen habe oder sich an Groer nur rächen wolle. „Und vielleicht war die Kirche 2010 für viele auch nicht mehr so bedrohlich.“

Finanzielle Hilfen für Opfer
Der Druck der Öffentlichkeit veranlasste Kardinal Schönborn letztlich dazu einzuräumen, dass in der Vergangenheit die Täter oft mehr geschützt worden seien als die Opfer. Im Auftrag des Groer-Nachfolgers begann die Klasnic-Kommission mit der systematischen Aufarbeitung von Fällen und mit der Entschädigung von Opfern. Der Rahmen der finanziellen Hilfe erstreckt sich von 5.000 bis 25.000 Euro und umfasst auch die Finanzierung von Therapiestunden.

Auf Verjährung im gesetzlichen Sinn wurde und wird bei der Anerkennung von Ansprüchen verzichtet. Seit 2010 entschied die Kommission in mehr als 2.600 Fällen zugunsten von Betroffenen. Dieses Modell wurde noch im Jahr 2010 von der Stadt Wien und später in ähnlicher Form von anderen Kommunen übernommen, um Betroffene von Gewalt in Einrichtungen der Jugendwohlfahrt zu entschädigen.

Seit 2017 wird in Österreich zusätzlich eine Heimopferrente ausbezahlt. Sie gilt auch für Betroffene, die von Jugendwohlfahrtseinrichtungen in kirchliche Heime eingewiesen worden sind. In der ersten Vorlage im Ministerrat sollte die katholische Kirche zu finanziellen Beiträgen zur Heimopferrente verpflichtet werden. Im Gesetzestext war dann aber keine Rede mehr davon. Die unpfändbare Heimopferpension beträgt etwa 300 Euro monatlich.

Das erste „Spotlight“
Der Fall Groer sei jedenfalls das erste „Spotlight“ gewesen, welches das Dunkel von kirchlichen Missbrauchsfällen prominent journalistisch auszuleuchten suchte, so Votzi. Wobei der Journalist betont, dass all diese Geschichten „nie gegen die Kirche an sich gerichtet“ waren, wie von manchen Seiten bis heute dargestellt werde, „die hätte genauso in staatlichen Heimen spielen können.“

Und noch bis heute würden manche Würdenträger „sehr verkrampft“ mit dem Fall umgehen. Die Causa sei zwar auch mehr als 20 Jahre danach weder im Vatikan noch in Österreich untersucht und historisch aufgearbeitet. „Doch das Aufbrechen einer Untertanen-Mentalität war glaube ich gesellschaftspolitisch noch wichtiger als der konkrete, tragische Fall“, meint Votzi heute.

„Groer war so ein mächtiger Mann“
Und der Journalist erinnert sich an ein bewegendes Gespräch mit der Mutter von Josef Hartmann, die sich zu den Erlebnissen ihres Sohnes erst äußerten, als diese schon längst in der Öffentlichkeit bekannt waren – es brachte die damalige „Unantastbarkeit katholischer Würdenträger“ zu Tage. Ihr Sohn habe sich ihr zwar schon kurz nach den Vorfällen anvertraut, „aber was hätten wir tun sollen, wer hätte uns geglaubt? Groer war so ein großer, mächtiger Mann.“
16:09:2022; Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at gegengelesen, vw
„Kriegslist“ stürzt Kardinal und Kirche in Krise
 

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Gentechnik-Debatte: Kampf um jedes Feld
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1997 unterschrieben 1,2 Millionen Österreicher ein Volksbegehren gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel. Begonnen hatte die Ablehnung der Technologie unter anderem auf Feldern in Niederösterreich – mit Nachwirkungen bis heute.
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„Es war wirklich eine Heidenarbeit“, erinnert sich Lothar Lockl. „Es gibt in Niederösterreich so große Flächen, so viele Felder.“ Gemeinsam mit seinen Mitstreitern habe er damals sehr aufwendig recherchiert, um festzustellen: „Welches Feld ist es exakt? Das musste natürlich stimmen. Wo genau wurden die Kartoffeln ausgesetzt?“

Heute ist Lockl Unternehmensberater und Vorsitzender des ORF-Stiftungsrats. Damals war er Sprecher der Umweltschutzorganisation Global 2000. Mit dabei im Kampf gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel: Ulli Sima, mittlerweile langjährige Stadträtin in Wien (SPÖ). Zusammen mit ihrem Team deckten die beiden einen Skandal auf, der die österreichische Gentechnik-Politik auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte.

„Stille Akzeptanz“ bis Mitte der 90er
Bis dahin war die Technologie in Österreich kaum in Erscheinung getreten, obwohl damals bereits seit vielen Jahren daran geforscht worden war. Diese Phase nennt der Sozialwissenschaftler Franz Seifert jene der „stillen Akzeptanz“. Ohne großes Aufsehen in der Öffentlichkeit sei die Gentechnik in Österreich gefördert worden – nicht zuletzt, da diese bereits in anderen Ländern mit einem gewissen Erfolg eingesetzt worden war. So waren in den USA bereits Sorten ausgesetzt worden, die resistenter gegen Schädlinge und Witterungsbedingungen waren und dadurch höhere Erträge brachten. Auch in Europa kam die Technologie nach und nach an, nicht zuletzt in Deutschland.

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Saatgutfirmen wie Pioneer argumentierten mit den Erfolgen der Gentechnik – dieser zeigte sich bei der unterschiedlichen Höhe der Maispflanzen …
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… und auch bei den Maiskolben

In Österreich wollte man den Vorsprung anderer Länder aufholen – wenn auch laut Seifert wenig koordiniert, ohne ausreichend finanzielle Mittel und mit einer unklar formulierten Rechtslage. 1995 trat eine erste Fassung des Gentechnikgesetzes in Kraft, das sich weitgehend an der europäischen Rechtslage orientierte; immerhin war Österreich ab diesem Zeitpunkt an die EU-weiten Verordnungen und Richtlinien gebunden. Ein Totalverbot wäre jedenfalls EU-rechtswidrig gewesen.

Gleichzeitig war man sich bewusst, dass die neue Technologie potenziell negative Folgen haben und auch auf massive Widerstände in der Bevölkerung stoßen könnte – so viel hatte man aus den Causen rund um das AKW Zwentendorf (Bezirk Tulln) und das Donaukraftwerk Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha) gelernt. Das neue Gentechnikgesetz sah deshalb Freisetzungsprojekte nach vorheriger behördlicher Risikoabschätzung vor. Ohne Genehmigung war der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Österreich verboten.

Kritik an möglichen Risiken durch Freisetzung
Global 2000 trat von Anfang an als einer der lautesten Gegner der Gentechnik auf, zumindest jener in der Landwirtschaft. Gegen jene in der Medizin gab es deutlich weniger Widerstand. Bei landwirtschaftlichen Freisetzungsprojekten aber „hatten wir die große Sorge, dass so in die Natur eingegriffen wird, dass Mutationen und Risiken entstehen, die wir nie wieder einfangen können“, erklärt der damalige Aktivist Lockl gegenüber noe.ORF.at.

Im Hintergrund sei es auch immer um die Frage gegangen, „wie Lebensmittel in Österreich produziert werden sollen“, meint er: „Gehen wir eher auf Qualität, schauen wir, dass wir negative Umweltauswirkungen reduzieren und gesunde und vielleicht biologische Lebensmittel haben? Oder versucht man sich sozusagen mit gentechnisch manipulierten Lebensmitteln d’rüberzuschummeln, wenn der Boden verschmutzt oder mit Schädlingen befallen ist?“

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Die Aktivistinnen und Aktivisten gegen Gentechnik informierten über die Jahre unter anderem auf einem Infostand in Krems …
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… sehr viel öfter führten sie aber Aktionen in der Bundeshauptstadt durch, hier etwa vor dem Haus der Industrie in Wien …
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…oder auch vor der US-Botschaft in Wien
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Die meisten Aktionen gab es allerdings vor dem Parlament …
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… und am Ballhausplatz …
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… vor dem Bundeskanzleramt

Österreichische Pionierarbeit in Seibersdorf
Viele Forscher, Unternehmer und Politiker waren jedoch von den Vorteilen der Technologie überzeugt. Vier Freisetzungsanträge gab es ab 1995. Beim ersten handelte es sich um ein staatlich finanziertes Forschungsprojekt in Seibersdorf (Bezirk Baden), das fäulnisresistente Kartoffeln untersuchen sollte. „Kommerziell sind die Pflanzen für Österreich uninteressant, da die betreffende Art der Fäule hier kaum Auswirkungen hat“, schrieb kurz darauf Helge Torgersen von der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Bei dem Vorhaben sei es um andere Ziele gegangen.
Projektleiter in Seibersdorf war damals Josef Schmidt. Er hatte bereits in den Jahren vor dem Gentechnik-Anlauf mit heimischen Kartoffeln gearbeitet und deren Viruserkrankungen bekämpft – ohne die Gentechnik-Methode. Während dieser Zeit hatte er internationale Kontakte geknüpft, die ihn für erste Gentechnik-Projekte in Österreich prädestinierten. „Aufgrund unserer Kenntnisse der Zellkulturen und Vermehrungstechnologien bei der Kartoffel war es für uns kein Problem, transgene Pflanzen herzustellen“, erzählt Schmidt im Gespräch mit noe.ORF.at. „Wir haben bis dahin aber nicht daran gedacht.“

Das Gesundheitsministerium sei an ihn herangetreten: „Damals kam die Idee auf, bevor Österreich überrannt wird, machen wir ein grundlegendes analytisches Projekt, um zu analysieren, wo Gefahren liegen könnten.“ Der Staat wollte damit kommerziellen Freisetzungsanträgen zuvorkommen. „Sie wollten wissen, wie sie damit umgehen sollen“, erklärt Schmidt, „und sie haben uns als ausgelagerte Dienststelle des späteren AIT (Austrian Institute of Technology) dazu benutzt.“ Für den damaligen Projektleiter sei es „ein reines Geschäft für meine damaligen Studenten“ gewesen.

Tullner Forscher mit erstem kommerziellen Projekt
Während dieser Antrag noch lief, wurde tatsächlich das erste kommerzielle Projekt eingereicht: jenes der Zuckerforschung Tulln, einer Tochter des Agrana-Konzerns im Raiffeisen-Sektor. Um Lebensmittel ging es dabei nicht, vielmehr wollte man die Stärkeproduktion für Industriekunden verbessern. „Sicherheitsbedenken gab es kaum, und der Antrag wurde wesentlich weniger beeinsprucht als der erste“, schrieb damals Torgersen. „Eine Genehmigung schien nur eine Frage der Zeit, zumal gleichartige Pflanzen bereits anderswo freigesetzt worden waren.“
Schmidt beurteilt das ähnlich: „Es war klar, dass das Ministerium diesen Praxisversuch auch genehmigen würde.“ Bei transgenen Kartoffeln sei die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung immerhin gering gewesen, da diese sich über Pollen kaum ausbreiten könnten und im Notfall leicht zu vernichten gewesen wären, ist der mittlerweile pensionierte Forscher überzeugt.

Doch das Genehmigungsverfahren verzögerte sich – und die Tullner Forscher begingen einen folgenschweren Fehler. Da sich das Zeitfenster für den Projektbeginn im Mai 1996 zu schließen begann und sie positive Signale aus dem Ministerium erhielten, begannen sie auch ohne positiven Bescheid kurzerhand mit der Freisetzung.

Skandal um illegalen Feld-Versuch
„Es gab damals Geheimniskrämerei und überhaupt keine Transparenz“, erinnert sich der damalige Global-2000-Aktivist Lothar Lockl an ebenjene Tage. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern bekam er den entscheidenden Hinweis und fand so tatsächlich das Feld mit den illegalen Kartoffeln.

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Ulli Sima, damals Gentechnik-Expertin bei Global 2000 im Mai 1996 auf dem Kartoffelfeld – gemeinsam mit Pressesprecher Lockl (im Hintergrund)

Die Folge war ein enormer medialer Aufschrei, der den Fokus breiter Bevölkerungsschichten plötzlich und unerwartet auf dieses Thema lenkte. Damit war genau das eingetreten, was die Regierung und auch die Forscherinnen und Forscher gefürchtet hatten. Immer mehr Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft schlossen sich dem Lager der Anti-Gentechnik-Aktivisten an.

Die Agrana als Muttergesellschaft entschuldigte sich wenige Tage später für den Fehler und kündigte personelle Konsequenzen an. Sie habe von dem Schritt keine Kenntnis gehabt. Das „Nichtabwarten des Bescheids“ habe „der wichtigen Technologie der Gentechnik einen schlechten Dienst erwiesen“, hieß es damals gegenüber der APA. Die ausgesetzten Kartoffeln wurden allesamt wieder ausgegraben.

Drei Tage entscheiden über Jahrzehnte
Dabei sei das alles nur eine Sache von drei Tagen gewesen, meint Schmidt. Von einem hochrangigen Ministerialbeamten habe er später erfahren, dass die Genehmigung für den Montag nach dem Skandal am Freitag angepeilt worden war. Doch für den Ruf der Gentechnik in Österreich war es zu spät: Die anderen beiden Freisetzungsanträge jeweils zu genveränderten Maissorten hatten keine Aussicht auf Erfolg mehr. Bei einem weiteren Projekt, das resistentere Marillen für die österreichischen Obstbauern vorsah, kam es nicht einmal bis zur Phase des Antrags.

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Lothar Lockl (2.v.r.) bei einem „Gentechnik-Gipfel“ im April 1997 mit Bundeskanzler Viktor Klima (1.v.l.)

Die Anti-Gentechnik-Bewegung gewann in Folge immer mehr an Momentum, gestützt nicht zuletzt auf eine Kampagne der „Kronen Zeitung“, die sich früh klar positioniert hatte. Kurze Zeit nach den fehlgeschlagenen Freisetzungsversuchen kamen erste Forderungen nach einem Volksbegehren auf.

„Bei Global 2000 wollten wir das auf breite Beine stellen, wir wollten nicht nur den Umweltschutzaspekt thematisieren“, erinnert sich Lockl. In der Folge sei das Volksbegehren von vier großen Gruppen getragen worden: Umweltschutz- und Tierschutzorganisationen sowie Biobauern und nicht zuletzt von der Kirche. „Denen war wichtig, dass Leben nicht patentiert wird“, meint der damalige Global-2000-Pressesprecher.

Zweiterfolgreichstes Volksbegehren der Geschichte
Mit Erfolg: Das Volksbegehren im April 1997 war mit 1,2 Millionen Unterschriften jenes mit den zweitmeisten Unterstützern in der österreichischen Geschichte. Alleine in Niederösterreich unterzeichneten es 261.743 Menschen – und damit immerhin gut 23 Prozent der wahlberechtigten Gesamtbevölkerung. Die drei Forderungen: keine gentechnisch veränderte Lebensmittel in Österreich, keine Freisetzung genmanipulierter Lebewesen und kein Patent auf Leben.

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Nach dem Ende der Eintragungswoche feierten die Aktivistinnen und Aktivisten im Naturhistorischen Museum in Wien

„Für die damaligen Entscheidungsträger und -trägerinnen war es ein Schock“, erinnert sich Lockl. Zwar habe es bei manchen Politikern die Bereitschaft für Maßnahmen im Sinne des Volksbegehrens gegeben, „aber manche hatten keine große Freude damit und hätten es am liebsten in einem Parlamentsausschuss begraben“.


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Seit 1997 gibt es in Österreich auch das Label „gentechnikfrei“

Doch es sei anders gekommen: „Plötzlich kam der Druck der Wirtschaft. Handelskonzerne, Lebensmittelproduzenten und bäuerliche Organisationen haben zum Teil nicht auf gesetzliche Maßnahmen gewartet, sondern freiwillig auf den Einsatz von Gentechnik verzichtet bzw. gentechnikfreie Lebensmittel gekennzeichnet.“ Der erbrachte Beweis, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Technologie offen ablehnte, sei den kundenorientierten Firmen genug gewesen.

Konfrontationskurs mit Brüssel
Der Handelsspielraum der Regierung für eine entsprechende Gesetzeslage war trotzdem gering, immerhin wollte man sich dafür nicht in einen offenen Konflikt mit dem EU-Regelwerk begeben. Deshalb wurden in einem ersten Schritt vor allem die Strafen bei illegalen Freisetzungen erhöht. Von einem Totalverbot wurde hingegen abgesehen. Der heikelste Punkt war folglich ein Importverbot für gentechnisch veränderte Sorten, die in der EU zugelassen waren. Hier begab sich Österreich EU-rechtlich bereits auf dünnes Eis.

Eine glückliche Wende ersparte dem jungen EU-Mitgliedsland weitere juristische Probleme. Anfang der 2000er-Jahre schwenkte die Union auf Druck mehrerer Staaten plötzlich auf einen weitaus gentechnikskeptischeren Kurs um. Neue Sorten wurden nun nicht mehr zugelassen; Österreich befand sich damit nicht mehr in einer extremen Außenseiterposition und hatte weniger zu befürchten.

Zu einem offenen Konflikt mit Österreich kam es etwas später dennoch, als Oberösterreich sich via Landesgesetz zur „gentechnikfreien Zone“ erklärte. Das wiederum beanstandete die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof erklärte das gesetzliche Totalverbot für europarechtswidrig. Die maximale Erschwernis eines theoretisch möglichen Zulassungsverfahrens auf Länderebene wurde jedoch von Brüssel akzeptiert. In Niederösterreich ist ein derartiges Gentechnikvorsorgegesetz seit 2005 in Kraft.

Radlbrunn als Zentrum der Gentechnikgegner
Weniger problematisch war eine „Österreichische Charta für Gentechnikfreiheit“, die unter anderem eine klare Kennzeichnung und bestimmte Haftungsregeln forderte. Niederösterreich war 2004 das erste Bundesland, das bei dem Projekt des damaligen Umweltministers Josef Pröll mitzog. In seinem Heimatort Radlbrunn (Bezirk Hollabrunn) unterzeichnete Landeshauptmann Erwin Pröll die Charta, die von seinem Neffen initiiert worden war.
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Der damalige Landwirtschaftsminister Pröll (2.v.l.) gemeinsam mit seiner seiner deutschen Amtskollegin Renate Künast (2.v.r.) bei einem Besuch beim niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll (1.v.r.) und bei Agrarlandesrat Josef Plank (1.v.l.) in Radlbrunn

Medial mit der Technologie in Verbindung gebracht werden will in Österreich heute praktisch niemand. Auf Anfrage teilt die Muttergesellschaft des ehemaligen Gentechnik-Förderers Pioneer mit, dass man sich immer an alle Gesetze halte – „somit gibt es unsererseits auch keinerlei Geschäftsaktivitäten in diesem Bereich“.

Auch die Agrana hat mit Gentechnik nichts mehr zu tun. Versuche wie in den 1990ern seien schon lange kein Thema mehr, heißt es in einer Stellungnahme. „Im Stärkebereich ist unser Portfolio geprägt von GVO-freien, Clean-Label- und Bioprodukten. Bei unserer Traditions-Marke Wiener Zucker bescheinigt das Qualitätssiegel ‚Ohne Gentechnik hergestellt‘, dass die Gentechnik-Freiheit entlang der kompletten Wertschöpfungskette gewährleistet ist. Auch aus den Nebenprodukten unserer Stärke- und Zuckerherstellung erzeugen wir gentechnikfreie Dünge- und Futtermittel.“

Erfolg mit Schattenseiten
Ganz gentechnikfrei ist Österreich trotz aller Anstrengungen nicht, nicht einmal im Bereich der Lebensmittel. Der Anbau gentechnisch veränderter Sorten ist zwar untersagt, der Import bestimmter Produkte aber nicht. Klassisches Beispiel sind ausländische Futtermittel für Tiere. Gekennzeichnet werden müssen Lebensmittel lediglich ab einem gewissen Gentechnikanteil, bei tierischen Produkten muss das Futtermittel gar nicht ausgewiesen werden.

Heute, 25 Jahre nach dem Volksbegehren, ist Lothar Lockl nach wie vor von der Sinnhaftigkeit seines damaligen Kampfes überzeugt. Denn die langfristigen Erfolge würden sich auch bei generellen Mitsprachemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zeigen. „Es sind im Nachhinein sehr viele Rechte ausgebaut worden. Wir haben heute einen ganz anderen Transparenzmaßstab. Manche sagen, es gibt schon zu viel Mitspracherecht. Damals, Ende der 1990er-Jahre, war das aber jedenfalls richtig.“
23.09.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Gentechnik-Debatte: Kampf um jedes Feld
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
„Spinner“ revolutionieren Stromproduktion
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Die Windenergie hat in Österreich keine Zukunft – das war Anfang der 1990er noch die Lehrmeinung. Doch eine Gruppe „Spinner“ ließ sich nicht abbringen und legte mit alten Maibäumen den Grundstein. Ein Meilenstein erfolgte dann im Jahr 2000 – mit fünf Anlagen.
Es war ein Projekt auf Messers Schneide. Fünf Anlagen sollten im Windpark Bruck an der Leitha errichtet werden. „Aber wir wussten nicht, ob es sich ausgeht“, erzählt Fritz Herzog, Windkraft-Pionier und heute Obmann der IG Windkraft. Denn „lange Zeit hat es ausgeschaut, dass es nicht umgesetzt wird.“ Das Investitionsvolumen betrug immerhin 115 Millionen Schilling.

Doch schließlich fanden sich zwei Privatleute, die Geld investierten. Somit konnten am 2. Juni 2000 – am Umwelttag – doch die Spaten für den damals leistungsfähigsten Windpark Österreichs gestochen werden. Das Projekt war auf eine Jahresproduktion von 15,5 Millionen Kilowattstunden ausgelegt. Damit konnte der Strombedarf aller 3.000 Brucker Haushalte abgedeckt werden.

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Mit der Aussichtsplattform sollte der Bevölkerung die Windenergie nähergebracht werden

Das Besonderes: Eine der fünf Anlagen ist in 60 Metern Höhe mit einer Aussichtskanzel ausgestattet, die über eine Wendeltreppe bestiegen werden kann. „Das war zwar ein teurer Spaß“, gestand Herzog, weltweit gibt es heute weniger als ein Dutzend davon, „doch wir wollten den Leuten die Windkraft näherbringen.“ Immerhin wollte man nun den Durchbruch schaffen.

Ein erstes Aufzeigen
Denn das Thema Erneuerbare Energien weckte in Österreich – wie auch in anderen Ländern – eigentlich schon in den 70er-Jahren das Interesse. Doch die staatlichen Forschungsanstrengungen bei der Windkraft kamen trotz ansehnlicher technischer Lösungen bald wieder zum Erliegen. Der Grund: Es gab keinen Absatzmarkt.

Die Diskussion um die Schaffung von fairen Tarifen für erneuerbare Energien begann offiziell mit einem parlamentarischen Antrag der FPÖ im April 1991 für ein bundesweites Stromeinspeisegesetz, der im Zusammenhang mit dem kurz zuvor in Kraft getretenen deutschen Gesetz eingebracht wurde. Die Behandlung des Antrages zog sich über zwei Jahre hinweg. Zu einem Stromeinspeisegesetz kam es aber nicht.

Windenergie in Österreich nicht möglich
Außerdem herrschte damals noch die Lehrmeinung vor, dass in Österreich nicht genug Wind wehen würde, um Strom zu erzeugen. Auch die Experten der Zentralanstalt für Meteorologen und Geodynamik (ZAMG) waren 1993 noch überzeugt, dass Windenergie etwas für die Küste sei, sagt Herzog. „Die Politik hat gesagt, lasst die einmal probieren, sie werden schon draufkommen, dass das nicht funktioniert.“
Doch abseits der politischen Ebene wollte sich eine Gruppe von Menschen nach einem Besuch in Dänemark nicht davon abhalten lassen, diese scheinbare Tatsache selbst zu überprüfen. „Es braucht immer Leute, die etwas beginnen“, sagt Herzog, ein gelernter Elektrotechniker.

Das erste Windrad am Netz
Den ersten Anstoß lieferten zwei Privatpersonen, die 1994 in Wagram an der Donau (Bezirk Gänserndorf) trotz großer finanzieller Hürden die erste größere netzgekoppelte Windkraftanlage in Österreich errichteten. Die Leistung: 150 kW – weniger als ein Dreißigstel der derzeitigen Windradgeneration mit 5.000 kW und mit 30 Metern Höhe erreichte der Turm weniger als ein Fünftel moderner Anlagen.

Nur kurze Zeit später folgte eine weitere Windkraftanlage am Gelände der Straßenmeisterei in St. Pölten. Diese Initiative war aber weniger dem Landesinteresse, sondern eines einzelnen Mitarbeiters geschuldet – Helmut Waltner, der für die Haustechnik der Straßenverwaltung zuständig war. Im Sinne eines nachhaltigen Gedankens wollte er die Gebäude von fossilen Energieträgern entkoppeln und durch Erneuerbare wie Windenergie versorgen.

Daraufhin fand sich auch in Wolkersdorf (Bezirk Mistelbach) eine Gruppe von elf Leuten zusammen – mit dem Ziel: „Machen wir doch was, sonst warten wir immer nur, dass jemand etwas unternimmt.“ Denn landläufig hieß es entgegen der Expertenmeinung sehr oft: „Bei uns geht dauernd der Wind.“ Auch der subjektive Eindruck bestätigte ausreichend Wind.

Tests mit Maibäumen als Masten
„Aber was heißt das konkret“, entgegnet Herzog. Denn bei so einem Projekt, das mehrere Millionen Schilling kosten sollte, „wollten wir keinen Blödsinn machen, dann soll das funktionieren und eine schwarze Null rauskommen.“ Deshalb wollten die Pioniere das tatsächliche Potenzial vor dem endgültigen Projektstart auch offiziell messen.


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Für die ersten Windkraftanlagen wurden u.a. alte Maibäume verwendet

Allerdings gab es damals noch keine entsprechenden Geräte. „Und es war nicht so einfach, einen Masten mit 100 Meter zu bestellen“, sagt Herzog. Deshalb konstruierten die privaten Pioniere ihre ersten Windkraftanlagen auf Maibäumen und führten Windmessungen auf eigene Faust durch. Als dieser zu klein wurde, ließ man das Messgerät mit einem Ballon auf 50 Meter steigen.

Gerätetests auf der Autobahn
Und die Anlagen bzw. Geräte mussten auch entsprechend kalibriert werden. „Also sind wir zu viert auf der Autobahn gefahren, einer hat die Zeit von einer Randmarkierung zur nächsten gestoppt, weil man dem Tacho nicht vertrauen kann, und die Messgeräte haben wir beim Schiebedach weit hinausgehalten und so kalibriert. Das war schon sehr exotisch damals.“

Aber auch effektiv, denn auf diese Weise fanden sie den Wind in Österreich und es zeigte sich, dass die Hügel des Alpenvorlandes ebenso wie die Ebenen Ostösterreichs hervorragend für die Nutzung von Windenergie geeignet sind. Über das Jahr gesehen gebe es zwar tageweise Flauten, „aber einen Monat ohne Wind gibt es nicht“, betont der Experte. Damit liefere der Wind konstanten Strom.


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Windmessmast am Hausdach

Warum gab es damals die Meinung, dass Windkraft in Österreich nicht möglich sei? Die ZAMG ist ein Wetterdienst, sagt Herzog: „Für die ist interessant, was in fünf, zehn oder 15 Metern Höhe passiert, aber nicht in 50 oder 100.“ Zudem sei das Wissen über Windenergie kaum vorhanden gewesen. „Ein Windmittel von sechs Meter pro Sekunde (Anm. knapp 22 km/h) klingt nicht viel, aber es reicht, damit die Anlagen sehr viel produzieren können.“

Der nächste Meilenstein
1995 folgte der nächste Meilenstein: In Michelbach (Bezirk St. Pölten) wurde die erste Windkraftanlage mit der für Österreich so wichtigen Bürgerbeteiligung gebaut. Etwa 150 Menschen aus ganz Österreich beteiligten sich, darunter auch der Waldviertler Andreas Dangl, Mitbegründer der W.E.B., der größten Bürgerbetreibergesellschaft in Österreich.

Von den außerordentlich Windverhältnissen dieses Voralpenstandortes wurde offensichtlich jemand besonders überrascht: die EVN. Obwohl die Erträge im ersten Jahr unter der Prognose lagen, tauschte die EVN zweimal ihre eigenen Zähler aus, da sie die angezeigten Erträge nicht glauben konnte. Das Windrad hatte schon eine Leistung von 225 kW.

Zurückhaltung der Banken
Gleichzeitig wurden in Wolkersdorf eineinhalb Jahre lang Zettel verteilt, um weitere Interessenten zu finden. Die Anlage kostete damals immerhin acht Millionen Schilling. Und viele Banken wollten Windräder damals noch nicht finanzieren bzw. verlangten hohe Eigenkapitalanteile. „Es war unklar, was wirklich rauskommt und deshalb auch für eine Bank, die keine Erfahrung damit hatte, ein mutiger Schritt“, zeigt Herzog heute Verständnis.

Fotostrecke
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1996 wurde der Grundstein für das erste Windrad in der Region gelegt
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Der Bau des „Drahdiwaberls“ ging zügig voran

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Die Anlage kostete damals acht Millionen Schilling

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Ende 1996 ging die Anlage in Betrieb

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238 Privatpersonen beteiligten sich an der Errichtung

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Fritz Herzog ist über sein „mutiges“ Investment sichtlich stolz

Deshalb mussten viele private Investoren gefunden werden. Die kleine Beteiligung am Windrad in Wolkersdorf gab es für 10.000 Schilling – „so viel wie ein einzelner verbraucht“, Familien konnten mit 35.000 Schilling einsteigen, „so viel wie ein ganzer Haushalt verbraucht“. Herzog investierte selbst an die 70.000 Schilling: „Manche haben uns Spinner genannt, heute sagen sie Pioniere zu uns.“

Doch das Interesse im Ort war letztlich größer als erwartet, ein Kredit nicht notwendig. Für das Windrad – das liebewohl „Drahdiwaberl“ genannt wurde – fanden sich 238 Privatpersonen – und sogar die Gemeinde beteiligte sich am Projekt. Und 1996 war es so weit, im Dezember ging die Anlage, eine der ersten in Niederösterreich – in Betrieb. Mit der Energie konnten etwa 300 Haushalte versorgt werden.


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Die Windkraftanlage bei der SCS

Der erste ungewollte Boom
Auch die lange Zeit wohl bekanntesten Anlagen Österreichs bei der Shopping City Süd wurden 1996 aufgebaut. Die Turmhöhe betrug über 60 Meter. Weil sich schon im Lauf des Jahres keine neue Förderregelung abzeichnete, folgte gegen Ende des Jahres in einer Art Panikreaktion der erste „Boom“ für die Windkraft. 36 Windräder mit zwölf Megawatt Gesamtleistung wurden in einem Jahr errichtet. Daran konnte auch das von der EVN plötzlich eingeführte „Netzdienstleistungsentgelt“ für größere Anlagen nur wenig ändern.

Bis 1997 wurden in Niederösterreich nur Einzelanlagen (29) errichtet, die ins öffentliche Netz einspeisten. Im selben Jahr wurde dann der erste Windpark mit drei Windrädern in Oberstrahlbach (Bezirk Zwettl) errichtet. In dieser Zeit habe es immer wieder auch Widerstand von Energieversorgern gegeben, weiß Herzog, „die noch nicht so weit waren. Das hat uns schon gestört, aber wir haben gelernt für unsere Sache zu kämpfen.“

Die ersten Widerstände
So gab es auch ab 1997 nur in Ausnahmefällen wirtschaftliche Rahmenbedingungen, also Förderungen, für einzelne Projekte. Ein neues, von den Energieversorgungsunternehmen entworfenes Übereinkommen wollte die Einspeisetarife auf 50 Groschen senken und den Rest mit Investitionsförderungen ausgleichen. Aus dem vorgesehenen Topf hätten gerade vier Anlagen pro Jahr finanziert werden können, schreibt Waltner.
Das stetige Dahintröpfeln gewann 1998 wieder etwas an Geschwindigkeit, da vor der Landtagswahl in Niederösterreich 15 Windkraftanlagen mit zusammen 8,5 MW durch ein Forschungsprogramm eine zusätzliche Förderung bekamen. Im selben Jahr wurden auch Windparks in Parbasdorf (Bezirk Gänserndorf) mit drei Windräder und Pottenbrunn (Bezirk St. Pölten) mit fünf Windrädern errichtet.

Ebenfalls bei einem der ersten Projekte war der Weinviertler Elektriker und Nebenerwerbsbauer Martin Steininger engagiert. Ursprünglich wollte er nur zwei Windräder in Simonsfeld (Bezirk Korneuburg) aufstellen. Mittlerweile ist die Firma Windkraft Simonsfeld eine AG und die zweitgrößte Bürgerbetreibergesellschaft in Österreich.

Abnahmepflicht zu Mindestpreisen
1998 wurde aber auch die Grundlage für das weitere Wachstum gelegt: mit dem Elektrizitätsgesetzes ElWOG wurde erstmals eine Abnahmepflicht zu Mindestpreisen (Einspeisetarifen) für Ökostrom in mehreren Bundesländern festgelegt. In diesem Jahr wurde dann die erste Windkraftanlage mit einer Leistung von über einem Megawatt in Österreich gebaut – mit 1.500 kW.

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Angesichts der derzeit hohen Strompreise müsse sich das Land laut IG Windkraft von fossilen Energien unabhängig machen

Ende 1999 standen bereits 38 Windräder in Österreich. 2000 errichtete auch der Energiepark Bruck seine ersten fünf Anlagen. Ab diesem Zeitpunkt seien schließlich auch die ersten Energieversorger eingestiegen, wie die EVN, erinnert sich Herzog: „Dadurch wurde auch das Vertrauen von den Banken in die Technologie gestärkt, nach dem Motto ‚Wenn die das auch machen und nicht nur die Spinner, dann muss das schon Hand und Fuß haben.‘“

Der Windkraftboom
2002 wurde das erste österreichweit gültige Ökostromgesetz beschlossen, das Anfang 2003 in Kraft trat. Es sicherte den Betreibern auf 13 Jahre Mindesttarife. Bei Windenergie betrug die Tarifhöhe 7,8 ct/kWh. Das leitete die erste große Ausbauphase der Windkraft in Österreich ein. Ende 2002 waren 140 MW am Netz. Von 2003 bis 2006 wurden jährlich im Schnitt 200 MW errichtet.

Österreich war damit in diesem Jahr auch international hoch angesehen, betont die IG Windkraft. In Europa konnte man hinter Deutschland und Spanien Platz drei erreichen. Weltweit war man hinter den USA und Indien Nummer fünf beim Windkraftausbau.

Dann erfolgte allerdings ein gravierender Einschnitt beim Ausbau von Ökostromanlagen, insbesonders bei der Windenergie. Die Novellierung des Ökostromgesetzes 2006 brachte den Ausbau der Windkraft für ganze vier Jahre beinahe zum Stillstand. Erst mit dem Ökostromgesetz 2012 konnte der Windkraftausbau in Österreich wieder fortgesetzt werden. Der bisherige Höhepunkt wurde 2014 erreicht, als Windräder mit einer Leistung von 400 Megawatt gebaut wurden.

„Umständliche“ Verfahren
Die Hilfe der Banken bzw. die Leistung der Anlagen sei im Laufe der Zeit zwar wesentlich besser geworden, vieles andere „aber auch umständlicher“. Das betrifft etwa das Genehmigungsverfahren. In Wolkersdorf habe man damals noch ein halbes Jahr gebraucht, heute „kommt man unter vier Jahren nicht weg, manchmal dauert es auch acht bis zehn Jahre“. Mit der Folge, dass die beantragten Anlagen dann gar nicht mehr verfügbar seien.

IG Windkraft
Seit 2014 geht der Ausbau der Windkraft in Österreich immer weiter zurück. Die Politik hätte schon längst auf diese Situation reagieren müssen, beklagt die IG Windkraft. Zwar gab es seither zwei Novellen des Ökostromgesetzes, diese konnten den Rückgang bisher aber nicht aufhalten.
Anfang 2022 wurde das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz EAG (Anm.: das neue Ökostromgesetzt) im Nationalrat beschlossen. Mit Ende des Jahres soll es vollumfänglich in Kraft sein. Derzeit wartet die Branche auf die nötigen Verordnungen, damit das EAG seine Wirkung entfalten kann.

Bundesländer am Zug
Damit Österreich tatsächlich unabhängig wird, brauche es nun einen raschen und starken Ausbau. Nun sind aus Sicht der IG Windkraft bzw. Obmann Herzog die Bundesländer am Zug. Alle Bundesländer müssen neue Flächen für den Windkraftausbau zur Verfügung stellen, Beamte in den Genehmigungsbehörden einstellen und die Genehmigungsverfahren verschlanken und beschleunigen.

IG Windkraft
Die Verfahren seien notwendig, ist sich der Obmann der IG Windkraft bewusst, allerdings würden „so viele Dinge doppelt und dreifach untersucht“. Hier brauche es bessere Rahmenbedingungen bzw. flexible Grenzwerte, wodurch die Windparkbetreiber „mehr Spielraum“ bekommen würden, „und manchmal braucht es auch Grundsatzentscheidungen der Politik.“

Wie viel wird durch Erneuerbare Energie gedeckt?
Selbst jene Bundesländer wie Niederösterreich, die den Windkraftausbau schon begonnen haben, müssen deutlich an Ambition zulegen, damit die Energiewende gelingen kann. „Musterschüler ist man nicht, wenn man der beste der Schlechten ist, sondern wenn man Ziele übererfüllt, das tun wir leider auch in Niederösterreich nicht.“ So gibt es etwa unterschiedliche Auffassungen bei der Stromversorgung.

Laut dem Land deckt Niederösterreich seit 2015 den gesamten Strombedarf aus heimischer Erneuerbarer Energie. Die IG Windkraft widerspricht dieser Rechnung: „Niederösterreich rechnet die Verluste im Stromnetz sowie den Eigenverbrauch der Anlagen einfach nicht mit ein. Das geht natürlich nicht, man muss den gesamten Verbrauch berücksichtigen.“ Demnach stehe das Land derzeit bei einem Anteil von 92 Prozent, und das seien jene Zahlen, die für die europäischen Klimaziele relevant seien.

„Windräder schauen schirch aus“
Die Kritik, „Windräder schauen schirch aus“, gibt es nach wie vor, sagt Herzog: „Was im öffentlichen Raum steht, polarisiert“. Die Leute hätten sich aber zunehmend an den Anblick gewöhnt. Gleichzeitig würde man sich mit dem stark gestiegenen Strompreis auch mehr mit Alternativen beschäftigten, „und wir haben viel erklärt und überzeugt.“ Der Kreis der Gegner sei von Beginn an klein gewesen, „aber oft sehr laut“.

Doch in Regionen, in denen bis heute keine oder nur wenige Windräder stehen, sei die Bevölkerung nach wir vor zurückhaltender. Der Grund: „Die Leute haben sich damit nicht auseinandergesetzt. Wenn etwas Neues kommt, gibt es viele Ängste und Befürchtungen. Ein Teil ist wahr, aber nicht alles. Das braucht Zeit.“

Doch gerade daran mangle es mit Blick auf den Klimawandel nun schon, betont der Windkraftpionier: „Wir haben viel zu lange einfach zugeschaut. Wir wollen keine Atomkraft und wollen vom Gas weg, aber wir brauchen weiterhin Strom.“ Derzeit würden dafür pro Familie etwa 3.000 Euro ins Ausland fließen, sagt Herzog, „das will ich im Land lassen.“

Entwicklungen Windradtechnik
Auch wenn sehr viel über Windräder am Meer gesprochen wird, findet der Mittelpunkt des Windkraftausbaus an Land statt. 90 Prozent des Windkraftausbaus findet an Land statt. Die Windräder werden immer größer und höher. Dadurch kann pro Windrad immer mehr Strom erzeugt werden. Jeder Meter, den ein Windrad höher hinaus kommt, erhöht die Stromproduktion um 0,5 Prozent.

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Zwischen den alten, kleineren und den modernen, mehr als doppelt so großen Anlagen ist kein Unterschied zu erkennen

Die Windräder, die derzeit für die Planung herangezogen werden, haben Rotoren mit einem Durchmesser von bis zu 150 Metern und Turmhöhen von 170 Metern. Die Generatorenleistung stieg auf fünf Megawatt. Durch die Weiterentwicklung der Windräder können diese mehr Strom erzeugen und zusätzlich werden dadurch auch windschwächere Standorte für die Stromgewinnung attraktiv.

Erfolgreiches Investment
Als Investment hätte sich das erste Windrad in Wolkersdorf jedenfalls gelohnt, sagt Herzog stolz. Über die gesamte Zeit – mittlerweile 26 Jahre – habe es eine Verzinsung zwischen vier und sechs Prozent gegeben, auch wenn er heute zugibt: „Ganz überzeugt waren wir anfangs nicht, bei einem Investment von mehreren Millionen, für das wir kein Vorbild hatten.“

Doch sein Herz sei der Ansicht gewesen, „das ist das Richtige, da muss ich etwas machen und das haben dann alle erkannt.“ Deshalb ist Herzog auch optimistisch, dass die Energiewende in Österreich gelingt. „Wir sehen, dass alle Lösungen schon da sind. Manchmal muss man nur über seinen Schatten springen“, um den künftigen Generationen nicht zu viel zu verbauen.
03:10:2022; Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

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„Spinner“ revolutionieren Stromproduktion
 

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„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Von der Todeszone ins Herz Europas
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Durch den EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei 2004 ist Niederösterreich ins Herz Europas gerückt. Der Wirtschaftserfolg dieses historischen Schrittes ist unbestritten, grenzenlos zusammengewachsen ist man nicht. Es gibt aber positive Ausnahmen.
Online seit heute, 15.17 Uhr
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„Das war eine große Wende im Leben vieler Menschen“, erinnert sich Martin Varga. Heute lebt er in Wolfsthal (Bezirk Bruck an der Leitha), 2004 nur wenige Kilometer weiter östlich, in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Für ihn und viele seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger sei es „das zweitwichtigste Ereignis“ nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gewesen.

Gefeiert wurde das Ereignis nicht nur in Bratislava, sondern auch im österreichischen Vorort, Wolfsthal, das direkt an der Grenze liegt. Im Gegensatz zur aufstrebenden Hauptstadt drohte die kleinen Gemeinde am Rande Österreichs auszusterben, es gab nur noch 700 Einwohnerinnen und Einwohner.
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2004 hatte Wolfsthal gerade noch 700 Einwohner, der Ort drohte langsam auszusterben, weiß Bürgermeister Schödinger

Zwar gab es mit den Nachbarn schon „massive persönliche Kontakte“, wie Bürgermeister Gerhard Schödinger erzählt – etwa zwischen einzelnen Organisationen, Vereinen oder den Weinbauern. Doch trotz der offenen Grenzen war es seit dem Zerfall der Sowjetunion nur „ein Leben nebeneinander, kein Gemeinsames, das große Zusammenwachsen hat noch gefehlt.“

Vereintes Europa mit zehn neuen Mitgliedsstaaten
Das „Nebeneinander“ sollte sich durch den EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei nun endgültig ändern. Am 1. Mai 2004 war – knapp 15 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ – das einst zerrissene Europa wieder fast vereint, als die Europäische Union an diesem Tag zehn neue Mitglieder aufnahm. Es war die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der EU. In den nun 25 Staaten feierten Millionen Menschen das Ereignis ausgelassen mit Feuerwerken und Konzerten.

So wurde auch an den Grenzen Niederösterreichs zur Slowakei und nach Tschechien gefeiert. Punkt Mitternacht wurde am Grenzübergang zwischen Raabs an der Thaya (Bezirk Waidhofen an der Thaya) und Jemnice die Europafahne gehisst. Grenzkontrollen gab es keine, stattdessen wurden entlang der Grenze gemeinsam Holzfeuer entzündet. „Auf diesen Augenblick habe ich immer gewartet“, erinnert sich ein Tscheche im ORF-Interview an diese Nacht.

80 Kilometer weiter östlich wurde zwischen Poysdorf (Bezirk Mistelbach) und Mikulov ein Maistrich gezogen. Mit dem Weinviertler Brauch wurden heimliche Liebschaften öffentlich gemacht. Und zwischen Retzbach (Bezirk Hollabrunn) und Hnanice kamen mehr als 3.000 Besucherinnen und Besucher, um miteinander zu frühstücken. Trotz der Freude über den EU-Beitritt blieben einige realistisch: „Eine große Veränderung gleich nach dem Beitritt erwarte ich nicht, das braucht alles Zeit.“

Drei Länder, drei Kulturen, drei Identitäten
Mit einem Drei-Länder-Tag in Hohenau an der March (Bezirk Gänserndorf) und damit im Dreiländereck feierte das offizielle Niederösterreich am 1. Mai 2004 die vollzogene EU-Erweiterung. Der feierliche Akt in einem 1.000 Menschen Platz bietenden Festzelt wurde gemeinsam mit den Nachbarn Tschechien und Slowakei begangen, der ORF Niederösterreich übertrug live. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Ein Blick auf drei Länder – drei Kulturen – drei Identitäten“.

Als Vertreter der unmittelbaren Nachbarn Niederösterreichs, Tschechiens und der Slowakei traten beim Drei-Länder-Fest ehemalige Botschafter der beiden Länder ans Rednerpult. Jiri Grusa meinte, dass Humor eine der Eigenschaften sei, die von Tschechien ins größere Europa eingebracht werde. Die Slowakei sei „voll von Energie“, betonte Magda Vasaryova.

Die Rolle der Regionen in Europa bezeichnete Grusa, der auch ehemaliger Bildungsminister Tschechiens war, als „immer schon wichtig“. Selbst in Zeiten des „Eisernen Vorhanges“ sei der Kontakt „nie abgebrochen“. Sie habe „ein bisschen Tränen in den Augen“, gestand Vasaryova. „Wir waren 50 Jahre getrennt. Sie können sich nicht vorstellen, wie froh wir sind“, sagte Vasaryova, die 2004 slowakische Botschafterin in Warschau war, zum Vollzug der EU-Erweiterung.

„In keinster Weise interessiert“
„Für uns war die Grenze absolut Tabu", erinnert sich auch Schödinger, „wir sind nicht einmal in die Nähe gegangen.“ Man habe nichts gesehen, nichts gehört, „und es hat uns auch in keinser Weise interessiert.“ Und auch nach der Öffnung sei noch nicht viel passiert, die Unterschiede seien noch zu groß gewesen, meint der Ortschef: „Es gab nichts Ablehnendes, aber auch keine dicke Freundschaft.“ Das sei erst mit dem EU-Beitritt „ins Laufen gekommen“.

Der 1. Mai 2004 sei für die Menschen, die Regionen und für Europa deshalb ein historischer Tag, sagte der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll in seiner Festrede. Nachbarn würden zu Partnern, die Nachbarländer hätten wieder eine Perspektive. Der Tage werde jedenfalls in die Geschichtsbücher eingehen, meint Pröll, „aber es liegt an uns zu bestimmen, welche Geschichte in diesen Geschichtsbüchern dazugeschrieben wird.“

Mit dem Beitritt der zehn neuen Mitglieder festigte die EU ihre Position als damals zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Erde. Etwa 74 Millionen Bürgerinnen und Bürger kamen hinzu. In der EU lebten im Jahr 2004 fast 455 Millionen Menschen. Die Zahl der offiziellen Amtssprachen erhöhte sich von elf auf 20. Acht Staaten Mittel- und Osteuropas – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien – sowie die zwei Mittelmeerinseln Malta und Zypern traten der Europäischen Union bei.

Grenzenlos und doch nicht
Ganz ohne Grenzen kam das neue Europa vorläufig aber nicht aus. Nach wie vor blieben die Personenkontrollen bestehen. Für die Ein- und Ausreise brauchte man also weiterhin einen Reisepass oder einen Personalausweis. Aber, und das ist neu: In Zukunft soll an der Grenze nach dem „one stop“-Prinzip kontrolliert werden. Man wurde also nur mehr einmal angehalten: Zunächst galt diese Regelung aber nur für die Slowakei.

Freier Personenverkehr, so wie innerhalb der bisherigen EU-Staaten, war noch Zukunftsmusik. Die Grenzen wurden von Grenzgendarmen und auch vom Bundesheer bewacht. Der Assistenzeinsatz an der slowakischen Grenze sollte die nächsten Jahre noch fortgesetzt werden. Auch beim Arbeitsmarkt blieb vorerst alles beim Alten: Für die nächsten sieben Jahre benötigten alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten wie bisher eine Arbeitsbewilligung für Niederösterreich.

Mit dem Beitritt der neuen EU-Staaten war es aber möglich, Waren für den persönlichen Bedarf zollfrei einzukaufen. Die bisher gewohnten Zollkontrollen fielen weg. Ein Freibrief für Schmuggler war das aber nicht, denn Beamte durchsuchten weiterhin fallweise an der Grenze oder im Landesinneren verdächtige Autos. Für Alkohol galten pro Kopf Limitierungen von 90 Litern Wein, 110 Litern Bier und zehn Litern Spirituosen. Beschränkungen gab es auch bei Zigaretten.

Optimistischer Osten, skeptischer Westen
Die osteuropäische Bevölkerung war im Jahr 2004 – was die Erwartungen im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung betraf – ungleich optimistischer als die EU-Bürgerinnen und -Bürger im Westen. Dort überwogen die skeptisch eingestellten Bewohnerinnen und Bewohner. In den neuen EU-Mitgliedsländern wurde eine möglichst große politische Integration befürwortet, in den Alten wurde lediglich die wirtschaftliche Zusammenarbeit gewünscht.

15 Jahre nach dem Fall des „Eiserner Vorhanges“ hatten die Österreicherinnen und Österreicher „sehr unterschiedliche Bilder“ von den ehemaligen Ostblock-Ländern und neuen EU-Mitgliedern. Durch die Jahrzehnte des Kommunismus sei viel Wissen über die gemeinsame Vergangenheit verloren gegangen, sagt Schödinger, vor allem auf österreichischer Seite. Oft hätten Vorurteile die Vorstellungen über die Nachbarländer dominiert.

Leben statt sterben
Doch in Wolfsthal erkannte man die Öffnung schon früh als Chance, und das durchaus im eigenen Interesse. Denn im Gegensatz zur aufstrebenden Hauptstadt Bratislava, „deren Entwicklung sich schon früh abzeichnete“, droht die kleinen Gemeinde am Rande Österreichs ja langsam zu verschwinden.

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Die slowakische Hauptstadt Bratsislava ist in Sichtweite von Wolfsthal

Noch im selben Jahr wurde etwa im Kindergarten eine slowakische Sprachförderung gestartet. „Es ging nicht darum, dass die Kinder super Slowakisch sprechen“, erklärt Schödinger, der selbst mit einer Slowakin verheiratet ist. Ziel sei es gewesen, „dass die Sprache für die Kinder später kein Fremdkörper ist“. Seither gibt es die slowakische Begleitsprache.

Doch das alleine hätte Wolfsthal damals nicht geholfen, gibt Schödinger zu, der 2005 Bürgermeister wurde. „Ich wusste, wenn es so weiter geht wie bisher, dann haben wir bald keine Schule, keinen Kindergarten, nichts mehr im Ort.“ Deshalb sei es „unbedingt“ notwendig gewesen, „irgendetwas zu unternehmen, um unsere Attraktivität zu steigern und unsere Gesellschaft zu verjüngen.“

Bauplätze locken Slowaken an
Als erste Maßnahme wurden deshalb auf zwei Hektar Grund 22 Bauplätze aufgeschlossen, und zwar nicht am Ortsrand, sondern mitten in der Gemeinde. Denn der Bürgermeister strebte immer die Durchmischung von angestammten Einwohnerinnen und Einwohnern und den Neuankömmlingen an, wie er selbst sagt. Die freien Bauplätze seien damals nur auf einer Tafel vor dem Gemeindeamt kundgetan worden.

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Wolfsthals Bürgermeister Schödinger ließ 22 Bauplätze aufschließen, die bei Slowaken gefragt waren

Besonders interessiert an den Baugründen zeigten sich slowakische Familien. „Der erste, der angefragt hat, war ein Einwohner unseres Nachbarstaates. Er wollte wissen, ob das auch für ihn gilt. Ich habe daraufhin gesagt, dass er natürlich genauso herzlich willkommen ist." Das sei der Startschuss gewesen, dass schließlich immer mehr Menschen aus der Slowakei einen Bauplatz erwerben wollten, schildert Schödinger. Selbst slowakische Medien waren über die Initiative überrascht und berichteten darüber.

Der alteingesessenen Bevölkerung sei diese Initiative nicht einfach zu kommunizieren gewesen, „aber ich habe versucht, über mehrere Jahre hinweg unserer Bevölkerung zu erklären, wo wir eigentlich hinwollen, warum wir das machen und es war unbedingt notwendig, irgendetwas zu unternehmen“. Schödinger hatte damals auch keine Mehrheit im Gemeinderat, „aber vielleicht war das auch gut, ich habe damals so viel wie noch nie geredet“.

Der „Knackpunkt“
Der „Knackpunkt“ war laut Schödinger schließlich der 20. Dezember 2007, als die östlichen Nachbarländer auch dem Schengenraum beitraten. „Das war die wirkliche Öffnung“, denn damit fielen auch die letzten Kontrollen zwischen den Staatsgrenzen weg. Am Grenzübergang Berg – der Nachbargemeinde von Wolfsthal – wurden damals symbolisch die Grenzbalken zerschnitten. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten Slowaken schon längst in Wolfsthal angesiedelt.

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Anlässlich der Erweiterung des Schengenraumes durchsägten der slowakische Premierminister Robert Fico (l.) und Bundeskanzler Alfred Gusenbauer symbolisch den Grenzbalken am Grenzübergang Berg/Petrzalka

Initiativen, um die über Jahrzehnte getrennten Regionen entlang des Eisernen Vorhangs wieder zusammenzuführen, wurden seit 2004 auch vom Land gestartet – im Gesundheitsbereich etwa Kooperationen zwischen Spitälern oder das Gesundheitszentrum „Healthacross“ in Gmünd, im Tourismus etwa der „Iron Curtain Trail“, am Arbeitsmarkt oder zwischen den Blaulichtorganisationen.

„Doch eine Ebene darunter, in den Gemeinden vor Ort, hat es trotz aller Anstrengungen nicht so funktioniert“, betont Migrationsforscher und Historiker Niklas Perzi. Dort sei man noch nicht so zusammengewachsen, „wie man sich das damals gewünscht hätte. Die Erwartungen in der Politik waren und sind sicher andere“. Viele Einheimische würden die Region nach wie vor als „Entwicklungsland“ sehen, doch in Südböhmen sei etwa im Sommer kulturell „viel los, was im Waldviertel noch kaum wahrgenommen wird“.

Geteilte Stadt als Spezialfall
Ein Spezialfall sei die seit Ende der Monarchie geteilte Stadt Gmünd bzw. Ceske Velenice, die ebenfalls noch nicht wirklich zusammenwuchsen. Direkt hinter der österreichischen Grenze siedelten sich zwar eine Reihe an Nagelstudios und Frisören an, „diese Dienste nimmt man gern in Anspruch, aber das war es dann auch schon“, weiß Perzi, der hinzufügt, dass die Bevölkerung nach wie vor von Ressentiments geprägt sei.

Die Staatsgrenzen der beiden neugegründeten Republiken Österreich und Tschechoslowakei waren 1919 im Vertrag von Saint-Germain geregelt worden. Österreich als Verlierer des Ersten Weltkrieges musste den von den Alliierten und ihren Verbündeten vorgelegten Vertrag unterschreiben. „Die Tschechen haben uns dieses Gebiet weggenommen, wir müssen es uns wieder zurückholen“, hieß es bald von Politikern und in der Bevölkerung. Der Vertrag wurde als „Schandfriede“ bezeichnet.

Ansiedelung und Vertreibung
Knapp 20 Jahre später wurde das Gebiet tatsächlich „zurückgeholt“. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Velenice im Herbst 1938 an Gmünd angeschlossen. Die tschechischen Bewohner wurden gewaltsam vertrieben. Der Stadtteil wurde mit deutschsprachigen Menschen besiedelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Grenzen wieder hergestellt und die deutsche Bevölkerung gewaltsam aus Velenice vertrieben.

Doch auch viele Tschechen mussten ihre Häuser zurücklassen. Das tschechische Regime wollte möglichst wenige Menschen in der Nähe Österreichs haben, die noch eine Beziehung zu Gmünd hatten. Besiedelt wurde die Stadt mit Tschechen aus dem Landesinneren. 1951 wurde die Grenze mit dem Eisernen Vorhang befestigt. Wer aus der Tschechoslowakei nach Österreich fliehen wollte, drohte erschossen zu werden.

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Das grenzüberschreitende Gesundheitszentrum Healthacross in Gmünd wurde 2021 eröffnet

„Diese Geschichten haben wir auch“, entgegnet Wolfsthals Bürgermeister Schödinger, aber mit regelmäßigen und gemeinsamen Treffen, Diskussionen und Ausflügen in die ehemaligen Orte seien diese „sehr gut“ abgebaut worden, auch wenn dabei „Wunden aufgerissen wurden“. Deshalb sei auch nach der Öffnung nicht sofort „die große Liebe in die Slowakei ausgebrochen“, aber im Rückblick könne man sagen, „es hat uns sehr gut getan“.

Wohnqualität und günstige Preise
Mittlerweile sind mehr als 40 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner in Wolfsthal slowakische Staatsangehörige. Einer davon ist Martin Varga. 2014 zog er mit seiner Familie wegen der besseren Wohnqualität und der niedrigeren Grundstückspreise nach Niederösterreich – ins von Bratislava sieben Kilometer entfernte Wolfsthal. Er lebt nicht nur hier, er engagiert sich auch politisch und ist mittlerweile Gemeinderat.

Auch der Ort konnte von den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern profitieren, denn mittlerweile sei im Kindergarten keine Rede mehr von einer Schließung, im Sportverein gibt es derzeit 80 Kinder. Derzeit leben hier etwa 1.300 Menschen, maximal 1.500 sollen es werden. „Die Gemeinde soll sich bei dieser Größe einpendeln und alle Einwohner sollen hier gut und gemeinschaftlich miteinander leben können“, sagt der Bürgermeister.

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Von der Schließung des Kindergartens ist in Wolfsthal mittlerweile keine Rede mehr

„Die Grenzöffnung und das Inkrafttreten des Schengenraums haben uns geholfen, dass wir wieder mehr Einwohner in Wolfsthal haben“, erklärt Bürgermeister Schödinger die zwei wichtigsten Faktoren für die neuen Entwicklungen. „Natürlich musste anfangs sehr viel Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung geleistet werden, denn viele im Ort waren skeptisch“, erzählt er.

Heute sehen aber die meisten in Wolfstahl den Zuzug positiv, es habe sich gut entwickelt, wird gegenüber noe.ORF.at versichert. „Von den Eltern her würde ich sagen, der Großteil lernt sehr wohl Deutsch im Ort, es sind auch sehr viele Zuzügler, die schon sehr gut Deutsch können. Englisch ist Standard bei ihnen, also die Kommunikation funktioniert ganz gut“, schildert Sabine Rieppl. Sie ist selbstständige Unternehmerin und wohnt mit ihrer Familie in Wolfsthal.

Bestehende Hindernisse
In den anderen Grenzregionen sei gerade die Sprachbarriere das größte Hindernis. Im Gegensatz zu Kärnten oder Tirol, wo in den Schulen Slowenisch oder Italienisch unterrichtet wurde und wird, war Tschechisch oder Slowakisch am Eisernen Vorhang kein Thema, sagt Perzi, „weil es nicht notwendig war“. Doch auch mehr als 30 Jahre nach dem Fall gebe es nur wenige Ausnahmen – mit der Folge, dass „auch weiterhin kein Bevölkerungsaustausch möglich“ ist.

Mehr Integration könne – neben sprachlichen Fortschritten – nur über die Gemeinden bzw. Vereine vor Ort geschehen, ist Perzi überzeugt. Und Bürgermeister Schödinger ergänzt, dass bei lokalen Politikern oft „kein Mut“ vorhanden sei: „Wenn ich etwas umsetzen will, muss ich meine Vorstellungen in die Bevölkerung bringen und erklären, warum ich das mache.“

Zwischen Österreich und der Slowakei würde man die Staatsgrenze heute „gar nicht mehr registrieren“, erzählt Schödinger stolz. Trotz so mancher medialer und politischer Forderungen, man sollte Grenzzäune kaufen und erhöhen – „das sind sinnlose Aussagen“ – betont der Bürgermeister: „Für meine Kinder und mich ist die europäische Integration die Chance unseres Lebens und ich möchte sie deshalb keine einzige Minute missen.“
17.10.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Von der Todeszone ins Herz Europas
 
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