Was Kirchen in ihren Lichtcodes verbergen...

josef

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#1
Wenn die Sonne Geheimnisse ausplaudert

Sonnenstrahlen, die über Wände kriechen und dabei zu einem bestimmten Zeitpunkt eine geheime Botschaft offenbaren: Das klingt nach „Indiana Jones“ oder einem Dan-Brown-Thriller. Oder einfach nach einem Besuch in einer Kirche - vorausgesetzt man weiß, wann. Auch viele österreichische Kirchen sind auf diese Art mit Lichtcodes versehen. Sie machen aus den Gotteshäusern astronomische Uhren von unglaublicher Perfektion, erzählen vom Ringen zwischen Glauben und Wissenschaft und oft jahrhundertelang gehütete Geheimnisse noch dazu.

Geweihte Computer
Wenn in der Früh Sonnenstrahlen ein Kirchenschiff durchfluten, dann ist das für viele ein sehr schöner Anblick - und für manche noch ein bisschen mehr, nämlich ein Spiel mit Astronomie, Symbolen und versteckten Botschaften. So gibt es etwa nur einen einzigen Tag im Jahr, an dem der Wiener Stephansdom über die ganze Länge vom Licht der aufgehenden Sonne durchflutet ist: den Stephanitag.

Diese „Ostung“, also die exakte Ausrichtung der Kirche auf den Sonnenaufgang am Namenstag des Kirchenpatrons, war für die meisten Baumeister des Mittelalters und der frühen Neuzeit allerdings ein Klacks. Gerade das Beispiel Stephansdom zeigt, dass der Grundriss oft noch viel mehr Symbolik enthält. Wer genau hinsieht, entdeckt dort und in anderen mittelalterlichen Kirchen zum Beispiel einen Knick im Grundriss. Der ist Absicht.

Ein Sonnenstrahl mit Botschaft
Der österreichische Bauexperte Erwin Reidinger hat sich den Knick in vielen heimischen Kirchen genauer angesehen. Immer liegt er zwischen Langhaus und Chor, also dem irdischen und dem „himmlischen“ Teil der Kirche. Nicht zufällig liegt etwa bei den Kirchen von Klein-Mariazell, Heiligenkreuz, Linz (Stadtpfarrkirche), Laa/Thaya und Marchegg das Langhaus so, dass es an einem der „irdischen“ Osterfeiertage (Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag) erleuchtet ist - und der Chor am Ostersonntag.

Beim Stephansdom und anderen ist der Knick so angelegt, dass die Sonne zuerst das Langhaus und genau acht Tage später den Chor durchstrahlt. Die Zahl Acht ist ebenso wie die Sonne ein Symbol für Christus. Außerdem steht die Zahl Acht für die Auferstehung. Der Lauf der Sonne im Stephansdom zwischen 26. Dezember und 2. Jänner sagt Gläubigen also ganz konkret: Christus wird dich nach dem Tod von der Erde in den Himmel bringen.

„Frevlerische“ Signale auf Kirchenböden
Die Genauigkeit, mit der Kirchen als astronomische Kalender funktionieren, erstaunt bis heute. Nicht umsonst lebt das lateinische Wort für Kalenderberechnung - „Computus“ - heute im Computer weiter. Das Wissen um das korrekte Datum war für Gläubige essenziell: Bevor Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 mit seinem gregorianischen Kalender ein Machtwort sprach, konnte man sich nur auf sich selbst verlassen, um etwa Ostern nicht in der falschen Woche zu feiern und damit eine schwere Sünde zu begehen.

Die Methoden der kirchlichen Astronomen verfeinerten sich über die Jahrhunderte zusehends: Vor allem in italienischen Renaissancekirchen finden sich am Boden eingelegte Meridiane, die an jedem Tag die exakte Bestimmung von Datum und Uhrzeit erlauben. Und genau die zunehmende Genauigkeit wurde für die Kirche zum Problem: Auf den Böden der eigenen Gotteshäuser ließ sich damit am Lauf des Sonnenlichts schon ablesen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.

Zerstörtes Wissen wird rekonstruiert
Das Zeitalter, in dem Kirche und Wissenschaft Feinde wurden, hatte begonnen. Viele astronomische Kalender wurden durch Umbauten - auch bewusst - zerstört. Es ist etwa anzunehmen, dass der ursprüngliche Salzburger Dom des Jahres 774 als astronomischer Kalender „alle Stückeln spielen“ konnte - war doch dessen Abtbischof Virgil einer der führenden Vertreter des „Computus“ zu seiner Zeit und auch als einer der ersten hochrangigen Kirchenmänner davon überzeugt, dass die Erde eine Kugel ist.

Jahrhunderte später hat die Kirche eingesehen, dass auch auf einer rotierenden Erde, Evolution inklusive, an Gott geglaubt werden kann, und kein ernstzunehmender Vertreter von Religion oder Wissenschaft sieht im jeweiligen Gegenüber heute eine Bedrohung. Beste Voraussetzungen also, damit beide Welten gemeinsam das verlorene Wissen rekonstruieren können. Gerade in Österreich wurden dabei faszinierende Rätsel gelöst.

Astronomisches Detektivduo
Vor allem die heimische Astronomie-Doyenne Maria Firneis und der Geochemieprofessor Christian Köberl haben sich hierzulande als astronomisches Detektivduo hervorgetan. Nur aus Ruinenteilen und Wissen um Astronomie und die Feinheiten des „Computus“ konnten sie etwa die gesamte Geschichte der Kirche im burgenländischen Unterfrauenhaid rekonstruieren und die scheinbar „verbaute“ Kirche in Pilgersdorf (ebenfalls Burgenland) als astronomisches Glanzstück rehabilitieren.

Außerdem haben Firneis und Köberl mit den Mitteln der Astronomie bewiesen, dass die Virgilkapelle unter dem Wiener Stephansplatz nichts mit Virgil, dafür aber umso mehr mit einem handfesten Machtkampf zwischen dem Babenberger Friedrich II. und der Kirche zu tun hatte. Die heute von der U-Bahn-Station umbaute Kapelle war das Kernstück von Friedrichs „Masterplan“, um Österreich schon im Mittelalter zum Königreich und zur Großmacht aufzubauen, wie Firneis und Köberl nachweisen konnten.

Noch viel zu entdecken
Inzwischen hat die Kirche nicht einmal mehr ein Problem damit, zuzugeben, dass ihr vieles in den eigenen Kirchen ein Rätsel ist und wohl auch nichts mit dem Christentum zu tun hat. Gegenüber ORF.at verweist etwa Harald Gnilsen, Baudirektor der Erzdiözese Wien, auf Hinweise, dass in den Kirchen auch Elemente des jüdischen Mystizismus und konkret der Kabbala verbaut wurden. Die Zahl Acht - siehe St. Stephan - steht in der Kabbala für „Erneuerung“.

Die Erde „eiert“ wie ihre Religionen
Dass Astronomie und Religion schon lange vor dem Christentum zueinanderfanden, ist offensichtlich und wird auch von Gnilsen bekräftigt. Er findet etwa den Einfluss der Präzession auf Religionen „faszinierend“. Präzession bedeutet, dass die Polarachse der Erde „eiert“ und in einem Zyklus von 25.700 Jahren auf diese Art die zwölf Tierkreiszeichen durchwandert, die dann zu Frühlingsbeginn jeweils die zentrale Position am Firmament einnehmen.

Vor 6.000 Jahren war das Zeitalter des Stiers, was zu den Nachweisen für religiösen Stierkult passt. Es wandelte sich vor 4.000 Jahren zum Zeitalter des Widders, was wiederum in altgriechischen Kulten ebenso wie im Judentum seine Entsprechung findet. Mit dem Beginn des Christentums fällt wiederum das Zeitalter des Fisches zusammen, das schließlich in rund 200 Jahren in das Zeitalter des Wassermanns übergehen wird.

Das Licht ist für alle da
Rätsel gibt es jedenfalls noch genug zu lösen - für jeden. Erst seit 2002 weiß man etwa, dass das Licht in der Kirche am Hafnerberg zwischen Wintersonnenwende und Christtag auf den Erzengel Michael als Verteidiger Gottes, dann auf Altar und Tabernakel und schließlich zum „Auge Gottes“ wandert - all das minutengenau zum jeweiligen Teil der Messliturgie passend, zwischen 9.00 Uhr und 10.15 Uhr. Entdeckt hat das kein Wissenschaftler, sondern ein aufmerksamer Lehrer, der in der Kirche Orgel spielt.


Lukas Zimmer, ORF.at
Text, Bilder und Bildtexte: http://orf.at/stories/2370881/2370883/

1. Alles andere als Schlamperei: Die Mittelachse des Langhauses (rote Linie) und die des Chors (gelbe Linie) sind auch in der Pfarrkirche Langenlois verschoben

2. Giovanni Domenico Cassinis Plan für den Meridian in der Kirche San Petronio in Bologna

3. „Facta Copia Coeli“, also etwa „Fakten über die Kräfte des Himmels“, nannte Cassini selbst seine Abhandlung über die Astronomie in Kirchen im Jahr 1655
 

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josef

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#2
Warum manche Kirchen einen Knick haben
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Sehr viele Kirchen in unserem Land sind nach Osten oder Südosten ausgerichtet, hin zu einem „himmlischen Jerusalem“. Oft wurde der Altarraum später errichtet und die Ostung musste korrigiert werden. So ergab sich ein Knick in der Längsachse der Kirche.
Online seit gestern, 19.57 Uhr
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Die Sonne geht auf über Stift Heiligenkreuz im Wienerwald. Wie viele andere Kirchen auch, ist die Basilika des Stiftes nach Osten hin orientiert, nach der aufgehenden Sonne, dem Symbol für den auferstehenden Christus. Nach diesem Konzept wurde der Bau der Kirche ausgerichtet, und zwar im Jahr der Errichtung 1133, als die Baumeister des Mittelalters mit Pflöcken die Kirchenumrisse abgesteckt haben.

Die Längsachse des Langhauses, also dort, wo das Kirchenvolk sitzt, ist auf die aufgehende Sonne des Palmsonntages des Jahres 1133 hin gebaut worden, der Altarraum oder auch Chor genannt gegen Ostersonntag 1133. Weil der Sonnenstand sich ändert, ergibt sich eine leichte Verschiebung der Mauern und damit ein Knick in der Längsachse. Wer in der Kirchenbank sitzt, dem kann diese Ostung als Knick im Kirchenschiff auffallen. Wem also das Kircheninnere leicht gekrümmt wie eine Banane erscheint, der täuscht sich nicht.

Dom in Wiener Neustadt hat zwei „Programme“
Bauingenieur Ernst Reidinger aus Winzendorf (Bezirk Wiener Neustadt) vermisst und erforscht diese Zusammenhänge seit rund 20 Jahren. Er zeigt das Programm des Wiener Neustädter Doms. Wiener Neustadt ist am Reißbrett entstanden. Der Dom schneidet die Westachse der Gründerstadt genau in der Mitte.

Die Orientierung des Langhauses entspricht der weltlichen Macht, die Ausrichtung des Altarraumes ein Jahr später der himmlischen Macht: Pfingsten 1192 und Pfingsten 1193 – da sich der Sonnenstand zwischen diesen beiden Daten erheblich unterschied, ist der Knick auch mit freiem Auge erkennbar.

Der Altarraum rückt vom Kirchenvolk aus betrachtet nach rechts, sogar so stark, dass die rechte Säule in der Vierung ausgeschnitten werden musste, damit der Altar für die rechts sitzenden Gottesdienstbesucher sichtbar bleibt.

Leben und Glauben als Einheit im Mittelalter
Bei der Pfarrkirche von Muthmannsdorf (Bezirk Wiener Neustadt) in der Buckligen Welt ist der Achsknick schon aus dem Luftbild sehr gut erkennbar. Der Altarraum ist auf den Patroziniumstag Peter und Paul in verschiedenen Jahren ausgerichtet, ein seltener Fall der Datumssymbolik, erklärt Reidinger: „Die erste Orientierung des Langhauses ist zu Peter und Paul geschehen, im Jahr 1136. Der Chor ist auf den 9. Sonntag nach Pfingsten ausgerichtet. Die Nordwand bezieht sich auf den siebenten Sonntag, die Südwand auf den 8. Sonntag. Somit ergibt sich folgende Zahlenmystik: 7 ist die Zahl der Vollkommenheit, 8 die Zahl des Neubeginns und 9 das göttliche Geheimnis.“

Eine verblüffende Symbolik, die im Mittelalter selbstverständlich war, wie Erwin Reidinger weiter ausführt: „Wenn man sich mit dem Mittelalter beschäftigt, muss man umdenken. Leben und Glauben waren eine Einheit. Die himmlische Welt wurde genauso real wahrgenommen wie die irdische. Und diese Vorstellung haben die Baumeister der Kirchen in ihren Bauten umgesetzt.“

Ein genaues Hinschauen von der Kirchenbank aus lohnt
Bei der kleinen mittelalterlichen Kirche von Meiersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) an der Hohen Wand ist das Langhaus auf den Karfreitag des Jahres 1139 ausgerichtet, der Chorraum auf den Ostersonntag desselben Jahres, deshalb ist die Abweichung gering. Man sieht aber, dass der barocke Altar weiter rechts steht, er wurde aus der Längsachse des Chores gerückt, damit sich für die Kirchgänger ein harmonischeres Bild ergibt.

Ob Stift Heiligenkreuz, die Basilika Mariazell im Wienerwald, die Pfarrkirchen von Marchegg (Bezirk Gänserndorf) oder Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach), viele der romanischen oder gotischen Kirchen in Niederösterreich weisen diesen Achsknick auf. Man muss nur das Auge ein wenig schulen, um ihn zu erkennen. Dieser Knick ist ein in Stein gehauenes theologisches Manifest.
14.04.2022, Hannes Steindl, noe.ORF.at

Links:
Warum manche Kirchen einen Knick haben
 
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