Weshalb blieb die Schweiz im zweiten Weltkrieg verschont?

josef

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Alter Artikel aus der "Neue Zürcher Zeitung" aus 2018:

Weshalb blieb die Schweiz im zweiten Weltkrieg verschont?
Bei Kriegsende, am 8. Mai 1945, verkündete der schweizerische Oberbefehlshaber, General Henri Guisan, die Armee habe «uns vor Elend und Leid bewahrt, vor Krieg, Besetzung, Zerstörung, Gefangenschaft und Deportationen». Zugleich erinnerte er an die «Bedeutung unserer sorgfältigen Vorbereitungen, unseres Widerstandswillens, der Wachsamkeit und der vielen Opfer». Tatsächlich deutete die Aktivdienstgeneration ihre biografischen Erfahrungen und ihre Opfer- und Abwehrbereitschaft zum Erfolg um, was auch den vielen Entbehrungen nachträglich Sinn verlieh. Der Metzger Hans Meister schrieb: «Ich kann dir sagen, die Deutschen hätten sich total verrechnet [. . . ]. Der Aufwand dafür, die Schweiz zu erobern, wäre viel zu groß gewesen, absolut.»

Kann diese Kampfbereitschaft erklären, weshalb die Wehrmacht die Schweiz nicht angriff? Wäre der Aufwand wirklich zu gross gewesen für eine Armee, die Polen und Frankreich in Blitzkriegen unterworfen und die Briten vom Festland vertrieben hatte? Als Frankreich Mitte Juni 1940 kapitulierte, waren die deutschen Panzertruppen schon bei Pontarlier. Die Schweizer Grenze war dort nur schwach befestigt, da die Truppen im Norden und Osten mobilisiert waren, um die Wehrmacht am Rhein aufzuhalten. Diese hatte im Westfeldzug gegen die zahlenmässig in diesen Bereichen überlegenen Alliierten 2500 Panzer und 3500 Flugzeuge eingesetzt, und weit mehr als die Hälfte war danach einsatzfähig. Die Schweiz verfügte über 60 000 Pferde, aber nur über 24 (Aufklärungs-)Panzer und 90 kriegstaugliche Jäger vom deutschen Typ Messerschmitt Me 109. Diese vom voraussichtlichen Feind gelieferten Flugzeuge schossen während des Westfeldzugs einige deutsche Flugzeuge ab, welche die Neutralität verletzten. Guisan verbot jedoch den Luftkampf selbst über dem eigenen Territorium, um keinen Krieg mit dem überlegenen Feind zu provozieren.

Nach der Niederlage Frankreichs war die Schweiz fast vollständig von den Achsenmächten Deutschland und Italien umgeben. Die überforderte Landesregierung brauchte nach dem Fall von Paris zehn Tage, bis Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz am 25. Juni 1940 die umstrittenste Bundesratsrede aller Zeiten hielt. Er sah den «Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt» gekommen, die als «Anpassung an die neuen Verhältnisse» «ausserhalb veralteter Formen» erfolgen müsse. Individuelle Freiheit, Demokratie, Parlament, gar Rechenschaftspflicht der Regierenden – all dies fehlte in der Rede.

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Marcel Pilet-Golaz, 1940. (Bild: Keystone)

Der spätere Bundesrat Markus Feldmann sprach von einem «frömmlerischen Kapitulantenkurs» der führenden Regierungsmitglieder: «nach innen autoritär, nach aussen servil». Ganz anders wirkte der Rütli-Rapport, bei dem Guisan kurz nach Pilet-Golaz’ Rede den Rückzug ins Reduit ankündigte. Doch unmittelbar war die Preisgabe der Stellungen am Rhein und vor allem des dichtbesiedelten Mittellands für die meisten Soldaten schwer zu verdauen. Bis im Alpenraum neue Festungen errichtet wurden, dauerte es Jahre. Guisan selbst wäre 1940 kaum zu halten gewesen, hätten die Deutschen die ihnen zugespielten Akten genutzt, die zeigten, dass der General neutralitätswidrige Absprachen mit Frankreich getroffen hatte.

Im Sommer 1940 wäre die Schweiz also ein leichtes Opfer der Wehrmacht gewesen, die auch entsprechende Pläne ausgearbeitet, aber für den Angriff auf Frankreich immer den Weg über Belgien favorisiert hatte. Die ideologisch überzeugten Nazianhänger in der Schweiz waren zwar immer eine kleine Gruppe geblieben, doch gab es einflussreiche rechtsbürgerliche Kreise, welche die Krise im Sommer 1940 nutzen wollten, um die innereidgenössische Balance nachhaltig zu verschieben. Das «eidgenössische Puffersystem», wie es Herbert Lüthy in die Disteln von 1940 genannt hat, führte jedoch dazu, dass das Land im Status quo verharrte. Das bedeutete nicht überall ein Bekenntnis zum liberalen Parlamentarismus. Doch die Macht der schweizerischen Eliten beruhte auf institutionellen Regeln, die dem Führerprinzip der Nazi, ihrer Parteidiktatur und völkischen Blut-und-Boden-Politik fundamental widersprachen: Föderalismus, Mehrsprachigkeit, Korporativismus der Verbände.

Bomben auf die Schweiz - «Luftschutzmässiges Verhalten hätte Menschenleben gerettet.»
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Mit einer wirkmächtigen Formel hielt die Zeitzeugin Alice Meyer 1965 fest, das Schweizervolk habe den «Widerstand» gewählt, wogegen die Bereitschaft zur «Anpassung» sich auf eine einflussreiche, aber kleine Minderheit beschränkt habe. Was aber, so der Verdacht der 1968er, wenn nicht der kompromisslose Widerstandswille einer schwachen Armee das Dritte Reich vom Einmarsch abgehalten hatte, sondern die Kooperationsbereitschaft deutschlandfreundlicher Funktionsträger (wie Botschafter Hans Frölicher in Berlin) und die gewinnstrebende Leistungsfähigkeit eines verschonten Produktionsstandorts? Denn wer nach der Teildemobilisierung 1940 wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrte, arbeitete an sechs Tagen der Woche für die Deutschen und betete am siebten Tag für den Sieg der Alliierten – ein «Standard-Witz» laut Max Frisch.

Irrtümliche Bombardierung von Schaffhausen
Daniel Grütter, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Mit Zeitzeugen-Berichten, historischem Film- und Bildmaterial sowie zahlreichen Objekten dokumentiert eine Dauerausstellung im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen die Zeit des Zweiten Weltkrieges mit der für Schaffhausen traumatischen Erfahrung der irrtümlichen Bombardierung.

Die These von der «wirtschaftlichen Integration ohne politische Partizipation» (Jakob Tanner) im neuen Europa empörte zwar viele Angehörige der Aktivdienstgeneration, hatte aber statistisch einiges für sich: Handelsverträge mit den Achsenmächten, umfangreiche Rüstungslieferungen von privaten Produzenten wie Oerlikon-Bührle, aber sogar aus bundeseigenen Produktionsstätten, was ebenso neutralitätswidrig war wie deren staatliche Finanzierung durch die «Clearing-Milliarde», dazu der effiziente Alpentransit und wissentliche Ankauf von Raubgold durch die Schweizerische Nationalbank. Wo endeten die legitimen Bemühungen eines umkreisten Landes, an existenziell wichtige Güter wie Kohle, Eisen, Lebensmittel und Saatgut zu gelangen, und wo begann das lukrative Geschäft von Kriegsgewinnlern, die bis zum Frühjahr 1945 am Handel mit dem mörderischen Regime festhielten?

Wenn aber die wirtschaftliche Dienstbereitschaft der Schweiz einen deutschen Einmarsch erspart hatte, waren dann nicht die Frauen die wahren Retterinnen der Schweiz? Denn sie mussten ja überall in der Wirtschaft einspringen – so sah es zumindest Monique Pavillon 1989 –, während die Männer unproduktiv im Reduit ausharrten. Die Antworten auf die Frage, weshalb die Schweiz verschont geblieben sei, spiegeln nicht zuletzt den Wandel in der allgemeinen Historiografie: von der Ereignisgeschichte der Nachkriegszeit (eigene militärische Leistung) über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der siebziger Jahre (integrierter Produktionsstandort) zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der neunziger Jahre.

Die Schweiz bezeichnete der Führer als das widerwärtigste und erbärmlichste Volk und Staatengebilde.Alle diese Deutungen machten die Rechnung «ohne den Wirt», indem sie sich einseitig auf das konzentrierten, was die Schweizer unternahmen. «Der Wirt» hiess aber damals Adolf Hitler, und er war und blieb stets eines: unberechenbar. Durfte sich die Schweiz im Wissen um ihre wirtschaftlichen Dienstleistungen in Sicherheit wiegen, wenn die SS noch im Herbst 1944 mit faschistischen Putschisten die verbündete rechtskonservativ-autoritäre Regierung in Ungarn stürzte? Waren die schweizerischen Rüstungslieferungen, die den deutschen Bedarf nur im Promillebereich deckten, eine ausreichende Garantie? Gehorchte ein Regime, das Millionen von Arbeitssklaven lieber im KZ umbrachte, als sie gezielt einzusetzen, überhaupt der ökonomischen Logik?​

Hitlers Entscheidungen brachten die Eliten des Dritten Reichs oft zum Verzweifeln. Weshalb er die Schweiz als einziges Nachbarland nicht eroberte, hat Hitler nie gesagt. Doch er äusserte sich wiederholt unfreundlich, etwa im Juni 1941 auf dem Brenner, wo er sich mit Mussolini traf, der die Schweiz als «Anachronismus» bezeichnete und die italienischsprachigen Landesteile annektieren wollte. «Die Schweiz bezeichnete der Führer als das widerwärtigste und erbärmlichste Volk und Staatengebilde. Die Schweizer seien Todfeinde des neuen Deutschland [. . .]. Sie seien offen gegen das Reich eingestellt, weil sie durch die Trennung von der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes gehofft hatten, besser zu fahren – was ja auch über weite Zeiträume der Fall gewesen wäre –, nunmehr jedoch im Lichte der neuesten Entwicklung einsehen, dass ihre Rechnung falsch gewesen sei. Ihre Einstellung sei gewissermassen durch den Hass der Renegaten bestimmt.»

Die Erwartung, die Schweiz, diese «Eiterbeule an Europa», werde sich dem Dritten Reich früher oder später freiwillig ergeben, entsprach dem missionarischen Selbstbewusstsein Hitlers und vieler Nazis. Ein viersprachiger Kleinstaat hatte im völkischen Weltbild keinen Platz. Doch er war keine Priorität der Nazis: Seit Mein Kampf richtete sich ihr mörderischer Revanchismus gegen Frankreich; die Slawen und vor allem die bolschewistischen Russen wurden Opfer einer Eroberung von «Lebensraum im Osten»; und die Juden, Sinti und Roma der «Endlösung».
Hitlers Aussage, dass die Schweizer «nichts als ein missratener Zweig unseres Volkes» seien, war weniger eine Drohung als ein Grund für Zurückhaltung.Die Besatzungspolitik in «arischen» Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Norwegen war dagegen darauf ausgerichtet, die Massen nicht zu vergraulen und Stützen für das «grossgermanische» Reich in Europa zu schaffen. Aufschlussreich ist der Fall von Dänemark. Solange die Dänen sich wirtschaftlich ins neue Europa einordneten und (bis 1943) kooperierten, war das Land formell kein besetztes Gebiet, sondern souverän und sogar neutral. Es behielt seine Armee wie seine Mehrparteienregierung, an der die schwachen dänischen Nationalsozialisten nicht beteiligt waren. 1943 fanden Parlamentswahlen statt, und Hitler annektierte nicht einmal Nordschleswig, das erst 1920 an Dänemark gefallen war. Etwas flapsig formuliert, war die Schweiz ein Dänemark in geostrategisch besserer Lage, weil Deutschland es nicht militärisch sichern musste, um den Briten den Weg nach Skandinavien zu verbauen.​
Vor diesem Hintergrund war Hitlers Aussage, dass die Schweizer «nichts als ein missratener Zweig unseres Volkes» seien, weniger eine Drohung als ein Grund für Zurückhaltung gegenüber einem Land, das «Millionen Bürger deutscher Nationalität besitzt».

Mit einigen von diesen hatte Hitler schon in den frühen 1920er Jahren als noch fast unbekannter NSDAP-Führer Kontakt, als er von Ulrich Wille junior zuvorkommend empfangen worden war. Als Ausbildungschef der Armee war Wille ein offen deutschfreundlicher Gegenspieler Guisans, der ihn 1942 absetzte. 1940 wäre das kaum möglich gewesen. Guisan nutzte damit wohl einen der Spielräume, die sich während der Kriegsjahre immer wieder öffneten. Im eidgenössischen dezentralen System reagierten die Verantwortungsträger darauf wenig koordiniert. Gemeinsam war ihnen das Ziel, die Unabhängigkeit zu wahren und Hitler nicht unnötig zu provozieren. Dass die – in die deutsche Grossraumwirtschaft gut integrierte – «Eiterbeule» den von der Ideologie Besessenen letztlich ideologisch und geostrategisch wenig interessierte, war nicht das Verdienst der Schweizer, aber entscheidend. Das mindert nicht die Anerkennung für mutige oder zielführende Entscheidungen, die sie in grösster Ungewissheit ebenso fällten wie schlechte, insbesondere in der Flüchtlingspolitik – gerade im Vergleich mit Dänemark.

Bomben auf schweizer Städte
2. Weltkrieg: Weshalb wurde die Schweiz verschont?
 
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